Verlassene Herrenhäuser, Nervenheilanstalten und Friedhöfe – Andreas Gruber weiß die klassischen Sujets der Horror-Story geschickt in ein modernes Umfeld einzupassen. Nicht auf den harschen Effekt kommt es ihm an, sondern auf das subtile Grauen, das sich allmählich der Herzen seiner Leser bemächtigt, sich durch die Hintertür in ihre Vorstellungswelt einschleicht und ihnen zu später Stunde den Angstschweiß auf die Stirn treibt.
Neun Erzählungen und Novellen sind in „Der fünfte Erzengel“ enthalten, und dem geneigten Leser sei empfohlen, nicht alle auf einmal zu goutieren. Denn wie sagt Andreas Gruber in seinem Vorwort: „Und nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen mit den vorliegenden neun Geschichten – mögen sie Ihnen den Schlaf rauben …“
Die Erstausgabe erschien im August 2000 als neunter Band der Reihe |Medusenblut|. Für die vorliegende Neuausgabe wurde der Text vollständig überarbeitet und mit einem neuen Vorwort des Autors versehen. Das Buch ist eine Gemeinschaftsedition der Verlage |Medusenblut| und |Shayol|.
Andreas Gruber ist als Autor längst kein Insidertipp mehr – und das ist gut so! Das beweist „Der fünfte Erzengel“ von der ersten bis zur letzten Seite. Dieser Titel wurde dankenswerterweise neu aufgelegt, sonst wäre er an mir „vorbeigegangen“, was ein Verlust gewesen wäre. Und das nicht nur für mich, denn die Erstausgabe belegte beim Deutschen Phantastik-Preis in der Kategorie „Beste Anthologie“ den vierten Platz.
Das Vorwort der Neuauflage ist erstaunlicherweise eine Hommage des Autors an den |Medusenblut|-Verleger Boris Koch und nimmt mich schon sehr für Andreas Gruber ein. Durch die Art der Formulierung, aber auch, weil es mir aus der Seele spricht.
Doch widmen wir uns den phantastischen Düstertexten des Wiener Autors. Los geht es mit „Die Testamenteröffnung“, einer herrlich morbid-atmosphärischen Story, die dem Spiel mit dem Teufel – um das Leben und viel mehr – eine neue Sichtweise verleiht. Bevor Sie den ein oder anderen Verwandten zu Grabe tragen und ihn geweihter Erde übergeben, werfen Sie einen Blick in sein Testament – nein, besser sofort in seinen Sarg!
„In Gedenken an meinen Bruder“ ist die psychologische Variante einer Kindheitsbewältigung, wie sie leider nicht nur in Grubers Phantasie vorkommt, sondern mehr Realität beinhaltet, als man wahrhaben möchte. Sie macht betroffen, gerade weil sie so real ist. Somit ist sie für mich die beeindruckendste Story in dem Erzählband. „Der Antropophag“ erzählt die Leidens- und Lebensgeschichte eines Serienmörders und zeigt deutlich, wie lebendig und tiefsinnig Andreas Gruber zu fabulieren vermag. Man leidet mit dem Täter, durchlebt mit ihm in Rückblicken sein Kindheitstrauma – von der Mutter verlassen, von dem Urgroßvater gedemütigt –, das ihn zum Mörder werden lässt. Mehr noch, man verspürt Mitleid mit ihm, hat Verständnis für seine Taten, ganz so, als brauche man selbst das Ventil, als nehme man Mensch für Mensch Rache, stellvertretend an allen, die weggeschaut und nicht wahrgenommen haben.
Sollten Ihnen jedoch nachts „Im Treppenhaus“ spindeldürre Gestalten mit hohen Zylindern auf dem Korridor begegnen: Seien Sie auf der Hut und verschließen Sie fest Ihre Tür!
Gehen Sie gar dem Beruf des Fotografen nach und sind auf der Suche nach einer heißen Story, machen sie einen weiten Bogen um „Duke Manor“, dem Geisterhaus mit den lockenden „Rufen“ aus dem Keller, denen sich keiner entziehen kann, wie auch dem Haus als solchem nicht.
Es wundert nicht, dass auch die Titelstory zu überzeugen weiß. Nun mag der Überkritische sagen: Apokalypse, Siebtes Siegel, Erzengel – alles schon zigmal gehabt. Richtig! Doch man unterschätze nie einen Andreas Gruber, der auch dieser Variante seine ganz persönliche Nöte und neue Sichtweisen „aufdrückt“.
Andreas Gruber vermag in diesem Band eine dichte Atmosphäre zu erzeugen und fesselt den Leser durch seine Erzählweise und mit Charakteren, die den Namen auch verdienen, die nicht ins Flache, Seichte abplätschern. „Der fünfte Erzengel“ war für mich eines der Bücher der letzten Zeit, die mir mal wieder so richtig unter die Haut gingen.
Umso erfreulicher für den Autor und Leser, dass auch die Verlagsarbeit erfreulich gut ist. Sieht man einmal von der leider sehr kleinen Schrift ab (da hätte eine größere wohl getan), lässt sich auch die Aufmachung sehen. Das Covermotiv (Klappenbroschur) könnte nicht stimmungsvoller sein, das Papier ist edel und das Lektorat ist, bist auf die kleinen Kulanzfehlerchen, sehr gut. Leser, was willst du mehr? So wünsche ich es mir, und so bekomme ich es in diesem Fall.
Daher bin ich |Medusenblut| und |Shayol| dankbar für die Neuauflage, sonst wäre mir dieses Kleinod der düsteren Phantastik entgangen! Ich hoffe, es findet seinen Weg zu einer breiten Leserschaft! Also: KAUFEN!
http://www.epilog.de/shayol/index.html
http://www.medusenblut.de/
150 Seiten
Lektorat: Hannes Riffel
Titelbild: Rainer Schorm
Satz und Layout: Franziska Knolle
Umschlaggestaltung & Herstellung: Ronald Hoppe