Mankell, Henning – Vor dem Frost

Nachdem seine erfolgreiche Krimireihe rund um Kurt Wallander mit der „Brandmauer“ seinen Abschluss gefunden hat und Mankell seine Leser in der „Rückkehr des Tanzlehrers“ mit dem Kommissar Stefan Lindman bekannt gemacht hat, ermittelt in „Vor dem Frost“ erstmals Linda Wallander, obwohl sie eigentlich noch nicht offiziell im Polizeidienst angefangen hat. Der Generationenwechsel in Ystad hat nun stattgefunden, und nach dem Erfolg des Krimis mit Stefan Lindman als Hauptfigur hat dieser nun auch seinen Einsatzort gewechselt und arbeitet fortan ebenfalls in Ystad an der Seite des alternden und immer noch schlecht gelaunten Kurt Wallander. Ob Henning Mankell seiner neuen Krimiheldin ein überzeugendes Debüt gewidmet hat, wollen wir uns nun näher besehen …

_Bitte melde dich!_

Frisch von der Polizeischule kehrt Linda Wallander zurück nach Ystad. Da sie noch auf eine eigene Wohnung warten muss, zieht sie zunächst zu ihrem Vater Kurt, auch wenn dies zu allerlei Schwierigkeiten führt, da beide sehr impulsiv reagieren und somit immer genug Zündstoff für Streitereien gegeben ist. Leider reicht das Geld bei der Polizei nicht aus, um Linda sofort einzustellen, sodass sie ungeduldig auf ihren Einsatz warten muss. In der Zwischenzeit baut sie zwei alte Freundschaften zu ihren Schulfreundinnen Zebra und Anna wieder auf. Doch eines Tages ist Anna verschwunden, obwohl sie sonst doch immer so pünktlich und zuverlässig war. Mit Hilfe eines Dietrichs verschafft Linda sich Zugang zu Annas Wohnung und beginnt auf eigene Faust, das Verschwinden ihrer Freundin zu untersuchen. Vater Kurt hat dafür allerdings gar kein Verständnis, da er nicht an ein Verbrechen glaubt, zumal auch Annas Mutter überhaupt nicht beunruhigt zu sein scheint.

Gleichzeitig geschehen noch weitere mysteriöse Dinge in Ystad: Über dem Marebosjö fliegen brennende Schwäne, kurze Zeit später berichtet ein Bauer, dass jemand eines seiner Kälber angezündet hat. Kurt Wallander befürchtet Schlimmstes, sein Gefühl sagt ihm, dass hier nicht nur ein verrückter Tierquäler am Werke ist, sondern dass diese Taten Auftakt sind zu mehr. Und wirklich, nahe von Schloss Rannesholm wird in einer versteckt liegenden Waldhütte eine brutal ermordete Frau gefunden, der Kopf und Hände abgeschlagen wurden. Neben den Leichenteilen entdecken die Polizisten auch eine Bibel, in die jemand eigene Gedanken und Interpretationen hineingeschrieben hat.

Zufällig findet Linda in Annas Tagebuch einen Hinweis auf die ermordete Frau aus dem Wald und schafft dadurch eine Verbindung zwischen Annas Verschwinden und dem Mord an Birgitta Medberg. Auch führt ein Hinweis die junge Polizeianwärterin nach Kopenhagen, wo sie von einem hageren Mann bewusstlos geschlagen wird. Ihr Vater ist außer sich und bezieht seine Tochter nun offiziell in die Ermittlungen mit ein. Doch die Zeit rennt den Polizisten davon …

_Alles neu macht der Frost_

Um Wiederholungen zu vermeiden, beendete Henning Mankell zur Trauer seiner treuen Leser die erfolgreiche Kriminalreihe um Kurt Wallander, nur um allerdings mit einem kleinen Trick Kurt Wallanders Tochter in das Zentrum des Geschehens zu rücken. Wollte Linda in den vergangenen Romanen noch Möbelpolsterin werden, so eröffnete sie ihrem Vater am Ende seines letzten offiziellen Kriminalfalles zu seiner großen Überraschung (aber auch Freude), dass sie den gleichen Weg einschlagen möchte wie er. Nun also begleitet der Leser Linda bei ihren Ermittlungen und Gedankengängen, während ihr Vater in den Hintergrund rückt.

Doch so ganz kann Mankell hiermit nicht überzeugen. Zunächst schafft er es nicht glaubwürdig, uns Lindas Entscheidung für die Polizeikarriere zu erklären. Zwar hatte Mankell bereits in den vergangenen Romanen immer angedeutet, dass Lindas Berufswünsche mehrfach wechselten, doch plötzlich scheint sie vollkommen überzeugt zu sein von ihrem (neuen) eingeschlagenen Weg. Darüber hinaus nimmt ihre Vorstellung zu viel Raum in diesem Buch ein. Ein großes Plus in Henning Mankells Büchern ist seine liebevolle Figurenzeichnung, die immer weiter chronologisch fortgesetzt wird, sodass uns seine Krimihelden richtig ans Herz wachsen. Doch da Linda bislang immer nur eine kleine Nebenrolle innehatte, muss Mankell fast von vorne beginnen. In der „Rückkehr des Tanzlehrers“ gelang ihm die Gratwanderung zwischen einer überzeugenden Charakterisierung und einer, die die Spannung zu sehr ausbremst, sehr gut. In seinem ersten Linda-Wallander-Roman verliert er allerdings oftmals den eigentlichen Kriminalfall aus den Augen.

Da Linda noch nicht offiziell als Polizeianwärterin arbeitet, ermittelt sie wie schon ihr Vater zuvor auf eigene Faust und eher am Rande der Legalität. An den eigentlichen Ermittlungen in dem Fall der brennenden Tiere und der brutal ermordeten Frau Birgitta Medberg nehmen wir daher kaum Anteil. Genau das war es allerdings, was mich bei den bisherigen Mankell-Krimis so fasziniert hat. Wir waren bei jedem Schritt der Polizei hautnah dabei, wir haben an den Besprechungen und an den leidigen Pressekonferenzen teilgenommen, wir haben Nybergs schlechte Laune und Kurt Wallanders Ungeduld gespürt, doch dieses Mal ist alles anders. Von Anfang an rückt Linda Wallander in den Mittelpunkt des Geschehens, wir erfahren einiges aus ihrer Vergangenheit, über ihre abgebrochenen und gescheiterten Selbstmordversuche, über die schlechten Launen und Wutausbrüche ihres Vaters und über ihre Freundschaft zu Anna und Zebra. Allerdings bekommen wir von der eigentlichen polizeilichen Ermittlung viel zu wenig mit. Die personelle Komponente überwiegt in weiten Teilen der Romanhandlung, sodass der Spannungsbogen in „Vor dem Frost“ erstmals nicht perfekt gelungen ist, wie wir das inzwischen von Henning Mankell praktisch erwarten.

Interessant dagegen ist es, die bereits bekannten handelnden Personen aus Lindas Blickwinkel kennen zu lernen. So erscheinen besonders ihre Eltern unter ganz anderem Licht, aber auch Ann-Brit Höglund lernen wir von einer neuen Seite kennen.

Manchmal fehlte mir der rote Faden, der durch das Buch führt. Zwischendurch wechselte häufiger die Perspektive; so haben wir nicht nur Linda bei ihren Nachforschungen begleitet, sondern auch Birgitta Medberg auf ihrem unbekannten Pfad, der geradewegs zu ihrem Mörder geführt hat, und auch einen Unbekannten, der in der Eröffnungsszene die Schwäne in Brand steckt und auch weitere Pläne und Gedanken kundtut. Darüber hinaus erschienen mir Lindas Ermittlungen oftmals wenig zielgerichtet und vor allem wenig vernünftig. Sie tappt blindlings in die eine oder andere Falle und verliert natürlich im entscheidenden Augenblick ihr Handy (dessen Akku selbstverständlich fast leer war). Stellenweise häufen sich die Zufälle etwas zu sehr, sodass der Roman an Glaubwürdigkeit verliert. Auch erschienen mir einige Situationen nicht schlüssig zu sein; so werden wir Zeuge, wie Linda Wallander aus Wut ihrem Vater einen Aschenbecher an den Kopf wirft, woraufhin eine Platzwunde seine Stirn ziert. Wenn Kurt allerdings wirklich solche Wutausbrüche hat und impulsiv handelt, wie uns vorher weisgemacht wurde, passt seine relativ gelassene Reaktion nicht zu seinem sonstigen Verhalten.

_Thematisches_

Wie gewohnt greift sich Henning Mankell ein heißes Thema heraus, um das er seine Romanhandlung herum aufbaut. In „Vor dem Frost“ spielen fanatische religiöse Gemeinschaften eine Rolle, die ihr ganz eigenes Ziel verfolgen. Darüber hinaus setzt die eigentliche Handlung Ende August 2001 ein und spielt sich somit kurz vor den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center ab. An Lindas erstem offiziellen Arbeitstag muss sie schließlich im Fernsehen die tragischen Bilder der Terroranschläge ansehen. Sehr bewusst legt Mankell hier seine eigene Romanhandlung parallel zu den damaligen Ereignissen an, sodass nicht nur die Mankell’schen Figuren gerade ihre Anschläge planen, sondern im wahren Leben die Terroristen ebenfalls.

Leider bleiben am Ende die wahren Gründe für die geplanten Anschläge der religiösen Fanatiker etwas im Dunkeln. Mankell deutet zwar eine schwache Begründung an, doch weiß diese nicht zu überzeugen. Gerade die Hintergründe und die Motivation der religiösen Gemeinschaft hätte Mankell noch weiter ausführen können, um ihr Tun und Handeln vielleicht in Ansätzen erklärbar zu machen.

_Altbewährtes_

Selbstverständlich bleibt Henning Mankell sich weiterhin treu; seinem Roman stellt er einen Prolog voran, der im Jahre 1978 spielt und zunächst keinen Zusammenhang zu den späteren Ereignissen hat. Erst nach knapp 200 Seiten erfährt der Leser die Verbindung zwischen den weit zurückliegenden Geschehnissen und dem aktuellen Kriminalfall. Hier führt Mankell seine Handlungsstränge zusammen und beantwortet mit einem Schlag zahlreiche Fragen. Doch das mindert die Spannung nicht im Geringsten, da die Polizei weiterhin im Dunkeln tappt und Linda gar nicht ahnt, welchen Gefahren sie sich aussetzt. Mit unserem Wissensvorsprung können wir Linda, ihrem Vater und seinen Kollegen also bei ihrer Arbeit zusehen und überprüfen, ob sie die richtigen Spuren verfolgen.

Obwohl die Handlung nicht so strafft erzählt ist wie gewohnt, ist auch der vorliegende Roman schwer aus der Hand zu legen. Nach einem gemächlichen Einstieg mit den brennenden Schwänen und der ausführlichen Vorstellung Linda Wallanders lässt Mankell seine Akteure auf den Plan treten. Zwar geschieht am Anfang kein brutaler (Menschen-)Mord, doch animieren auch die brennenden Tiere zum Mitfiebern, da bereits klar ist, dass sie nur Auftakt zu größeren Taten sein können. Doch dann dauert es auch nicht lange, bis Birgitta Medbergs Leichenteile merkwürdig drapiert entdeckt werden und Lindas Sorgen um Anna immer schwerwiegender werden.

_Nach dem Frost_

Obwohl „Vor dem Frost“ seine Erwartungen nicht alle erfüllen kann, ist es dennoch ein Krimi der Extraklasse. Lediglich verglichen mit Henning Mankells bisherigen Kriminalromanen fällt die Begeisterung etwas geringer aus. Fast alle bekannten Erfolgskomponenten des schwedischen Bestsellerautors finden sich hier wieder, nur Linda überzeugt als neue Krimiheldin (noch?) nicht ganz. Ihr Vorgehen ist zu unüberlegt und auch ihre Person wirkt nicht so sympathisch wie die ihres Vaters. Zeitweise hält Mankell sich zu sehr mit seinen Beschreibungen auf und bremst dadurch die Handlung aus, auch häufen sich die Zufälle manchmal zu sehr, wodurch die Glaubwürdigkeit etwas leidet. Lesenswert ist der erste Linda-Wallander-Fall allemal, doch muss sie sich ihre Lorbeeren erst noch verdienen.