Jewgenij Samjatin – Wir

Freiheit vs. Zufriedenheit

1920 schreibt der Russe Jewgenij Samjatin (auch: Evgenij Zamjatin) seine Antiutopie (auch negative Utopie oder Dystopie genant) „Wir“ und nimmt damit in fast prophetischer Weise die Mechanismen der kommunistischen Diktatur in den sozialistischen Ländern vorweg.

Samjatin hatte seine eigene, von der offiziellen kommunistischen Linie abweichende Vorstellung von der Aufgabe eines Literaten. Dieser sollte zeitkritisch sein und über einen einmal erreichten Zustand hinausdenken können, anstatt ihn zu bestätigen. Er forderte die Eigenverantwortung des Künstlers bei der kritischen Darstellung gesellschaftlichen Lebens. Die Emanzipation eines Menschen und der Gesellschaft würde nur durch Infragestellung und Widerspruch erreicht werden.

Mit einer solchen Einstellung wurde er von der kommunistischen Kritik, die gerade das Gegenteil forderte, zum Konterrevolutionär erklärt. Samjatin wies diese Unterstellung immer wieder zurück; doch veröffentlichte er Artikel, in denen er die Diskrepanz zwischen realpolitischer Praxis und unzeitgemäß gewordener Theorie der Bolschewisten polemisiert.

Somit verwundert es nicht, dass die russische Zensur die Druckerlaubnis verweigerte und Samjatin seinen dystopischen Roman „Wir“ im Ausland publizieren musste. Doch der Erfolg gab ihm Recht: Schnell wurde der Roman ins Englische und Französische übersetzt (1924). 1927 folgte eine tschechische Übersetzung, deren Rückübersetzung ins Russische schließlich Anstoß erregte. Daraufhin eliminierte man Samjatin systematisch aus dem gesamten kulturellen Leben Russlands, so dass er letztendlich um die Erlaubnis zur Ausreise bat. Nur der Hilfe des einflussreichen Schriftstellers Gorki war es zu verdanken, dass Samjatin und seine Frau im November 1931 Russland verlassen konnten.

Was war nun konkret der Stein es Anstoßes? Der Roman „Wir“ schildert ein totalitäres Gesellschaftssystem, das sich nach einem 200-jährigen Krieg gebildet hat. Der Einzige Staat ist umgeben von einer grünen Mauer, die den Einheitsstaat von letzten Restterritorien der alten Welt trennt. Nur ein altes Haus ist, möglicherweise bedingt durch seine periphere Lage, das einzige Überbleibsel der alten Welt innerhalb des Einen Staates. Hier trifft sich die Opposition, die beabsichtigt, die erste Rakete namens Integral beim Probeflug zu entführen und eine Revolution auszulösen.

Die Menschen in dieser Welt werden nicht mehr nach Namen sondern nach Nummern unterschieden. Sie leben in gläsernen Wohnblocks am Reißbrett geplanter Städte. Zu musikalischen Klängen aus der Musikfabrik marschieren sie zu vorgegebenen festen Zeiten durch die schnurgeraden Straßen, ständig überwacht von Beschützern (ein euphemistischer Ausdruck für Spitzel) und Abhöranlagen.

Eine Gesetzestafel bestimmt den minutiös geregelten Tagesablauf der Nummern. Es entsteht eine pluralistische Monotonie, die für Glück gehalten wird. Sogar das Geschlechtsleben ist durch ein auf Analyse des Hormonhaushaltes basierendes Bon-System geregelt. Es gibt keine Unzufriedenheit, keinen Hunger, keine Liebe, keinen Neid und keine Eifersucht mehr. Die Menschen haben ihre Freiheit geopfert und sich dem „segensreichen Joch der Vernunft“ gebeugt. Dafür garantiert ihnen der Wohltäter ein „mathematisch-fehlerfreies Glück“.

Trotzdem ist noch keine hundertprozentige Lösung des „Problems Glück“ gefunden worden, denn „wir sind noch einige Schritte vom Ideal entfernt. Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht (…)“. Angestrebt wird also ein Zustand der völligen Stagnation. Doch, wie bereits erwähnt, existiert eine Opposition und immer wieder hemmt eine Nummer den Lauf der großen Staatsmaschine. Für diesen Fall gibt es öffentliche Hinrichtungen auf elektrischen Vernichtungsmaschinen und in Gaskammern.

Im eben beschriebenen Einzigen Staat lebt auch die Nummer D-503 – der absolut staatstreue führende Konstrukteur der Rakete „Integral“. Sein Leben plätschert zwischen seiner Arbeit und einer Beziehung zu O-90, die er sich mit seinem Freund, dem Dichter R-13, teilt, normgerecht dahin, bis ihm I-220 begegnet. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, die er als Lob auf den Einzigen Staat zu schreiben beabsichtigt, um sie dem Integral auf seinem Flug in den Weltraum mitzugeben, erfährt der Leser letztendlich von der persönliche Krise D-503s, die aus seiner Liebe zu I-220 erwächst, von der Krise des Staates und über die Ereignisse, die zur Revolution gegen diesen Staat führen.

Technischer Fortschritt, der eingesetzt wird zur Abgrenzung, Entindividualisierung, Unterdrückung, kontrollierten Fortpflanzung, Überwachung und Stagnation des Lebens, charakterisiert die Welt in Samjatins „Wir“. Die Begrenzung der sprachlichen Ausdrucksmittel (bei Samjatin umgesetzt durch eine mathematisierte Sprache), enthebt den Menschen seiner Kritikfähigkeit und des Vermögens, subjektive Erfahrungen zu formulieren. Auch deswegen misslingt D-503 seine individuelle Identitätsfindung.

Samjatins negative Utopie steht sowohl in russischer als auch in gesamteuropäischer Tradition von utopischen Vorstellungen. Seine Motive gehen vor allem zurück auf H. G. Wells‘ „Die Zeitmaschine“ und „Krieg der Welten“, auf Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ und „Schriften aus dem Kellerloch“; aber es lassen sich auch Londons Motiv des optimistischen Aufbruchs aus der alten Welt in die ‚bessere Wildnis‘ und Motive aus Tschernytschewskis „Was tun?“ wiederfinden.

Doch Samjatin verkehrt in seinem Roman die positiven utopischen Programme seiner Zeit und der Vergangenheit (technische Rationalität, die Idee der Gleichheit) ins Negative. Aus der Herrschaft des Menschen über die Natur mit Hilfe der Technik ist eine Versklavung des Menschen geworden. Der Mensch ist nur noch ein Objekt, ein Rädchen im großen Mechanismus. Die Idee der Gleichheit der Menschen ist nicht als soziale Gerechtigkeit in die Alltagspraxis eingegangen sondern als Gleichschaltung und Uniformität. Das politische System, das sich zum Nutzen der Menschen nach dem zweihundertjährigen Krieg konstituiert hatte, wird von einer Minderheit als Machtinstrument missbraucht.

Samjatins Zeit mit Aufbruchsgefühl und Technikeuphorie ist lange vorbei und es scheint, als wäre die Menschheit von einer totalitären Gesellschaft weit entfernt. Doch totalitäre Systeme existierten bis in die jüngste Vergangenheit hinein, und man kann nicht sagen, ob sich die Menschheit in Zukunft nicht wieder einmal zwischen Freiheit und Zufriedenheit entscheiden muss. Bleibt nur zu hoffen, dass noch mehr Leser der bekannteren Antiutopien „1984“ von George Orwell und [„Schöne Neue Welt“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=555 von Aldous Huxley auch zu Samjatins „Wir“ finden und sich dem Wunsch des Autoren gemäß durch Widerspruch und Infragestellung emanzipieren.

Wie die meisten Utopien, ist auch „Wir“ in einer klaren und verständlichen Sprache geschrieben. Problemstellungen sind konkret benannt und ausgearbeitet, so dass wenig intellektuelle Denkleistung gefordert ist und Verständnisschwierigkeiten nahezu ausgeschlossen sind. Vor allem Personen, die in der DDR gelebt haben, dürfen sich auf einen gewissen Wiedererkennungswert einstellen. Alles in allem ist der Roman sehr lesenswert – als Zeitdokument und auch in seiner unterhaltenden Funktion.

Taschenbuch: 224 Seiten
Besprochene Auflage: 1997