Ted Chiang – Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes. Erzählungen

Die Engeljagd und andere Alien-Begegnungen

Geschichten, die ein ganzes Universum enthalten:

– Die Wahrheit über den Turmbau zu Babel;
– der folgenreiche Erstkontakt mit einer außerirdischen Spezies;
– die Verzweiflung angesichts des Verlusts eines unersetzlichen Menschen;
– ein Zeitreiseabenteuer in der Welt von „Tausendundeine Nacht“;
– und ein bestürzender Ausflug an die Grenzen des wissenschaftlich Machbaren… (erweiterte Verlagsinfo)

„Kein anderer Science-Fiction-Autor hat in den letzten zwanzig Jahren auch nur ansatzweise so viel Begeisterung ausgelöst wie Ted Chiang. Kein anderer Science-Fiction-Autor wurde für ein so schmales Werk mit mehr Preisen ausgezeichnet. Nun liegt endlich auch auf Deutsch ein Auswahlband mit seinen Erzählungen vor. Ausgezeichnet mit dem ›Kurd Laßwitz Preis‹ als bestes ausländisches Werk des Jahres 2012.“ (Verlagsinfo)

Der Autor

Ted Chiang ist studierter Informatiker. Er arbeitet als technischer Redakteur in der Software-Industrie und lebt in Bellvue in der Nähe von Seattle. Ich habe Bellvue im Mai 2013 besucht, denn es liegt unweit des Campus von mehreren Tochterfirmen Microsofts. Ich kann nur sagen: Hier lässt sich bestens essen, einkaufen, amüsieren und informieren – und was das Arbeiten angeht: Alle sind selbstverständlich vernetzt.

Weitere Werke: „Das wahre Wesen der Dinge“ (dt. bei Golkonda)

Die Erzählungen

1) Der Turmbau zu Babel (Tower of Babylon, 1990)

So ein Turmbau ist eine große Sache, und folglich arbeiten eine Menge Leute daran. Wenn dann auch noch der Turm das Himmelsgewölbe erreichen soll, zieht sich das ganze Projekt über hunderte von Jahren hinweg und bezieht praktisch alle Völker und Stämme der Region ein. So auch die Elamiter, die als Bergbauspezialisten gelten.

Hillalum erlebt die Ankunft und den Aufstieg hautnah mit. Seine Gefährten Beli, Kudda, Nanni und etliche andere sind mit ihren Familien gekommen, denn sie wollen während des monatelangen Aufstiegs zur Spitze nicht allein sein – und wie könnte sie auch so lange Zeit ihre Familien verlassen? Das geht einfach nicht.

Über zwei Plattformen eines quadratischen Zikkurats erhebt sich der runde Turm wie eine Stadt, die in die Höhe wächst. Er wirft einen langen Schatten über das flache Land von Babylon, das sich rings um die Stadt Shinar erstreckt. Hillalum fragt nicht danach, wer der Planer ist oder wer den Bau befohlen hat. Das kommt ihm nicht zu, Hauptsache, er kommt oben lebendig auf der einen Rampe an und auf der anderen Rampe wieder herunter. Aber er weiß, welchen Zweck der Turm hat: Jahwe nahezukommen.

Die Leute aus dem Lande Elam ziehen ihre Karren höher, immer höher. Sie passieren die Umlaufbahn des Mondes, der sie in sein Silberlicht taucht. Sie passieren das Reich der Sonne, und dichter stehende Stützsäulen schützen sie vor den Glutstrahlen des Feuerballs. Sie erreichen das Reich der Sterne, und ein Ältester erzählt, wie einmal einer dieser Feuerbälle in den Turm eingeschlagen war: Himmelsmetall, zu heiß, um es anzufassen, dann aber zu hart, um es zu schmelzen. Wunder über Wunder.

Dann aber ist der Moment da, in dem sie die Spitze erreichen, und darüber erstreckt sich in alle Richtungen heller Fels, hart wie Granit. Deswegen hat man sie, die Bergarbeiter, geholt: um den Fels zu durchstoßen. Hillalum weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist, kennt aber auch die drohende Gefahr. Wie jeder weiß, hat Jahwe einst die Sintflut aus Speichern im Himmelsgewölbe (und aus dem Erdreich) entlassen, um die Menschen zu strafen. Was, wenn sie beim Durchstoßen des Gewölbes auf einen solchen Speicher stoßen würden?

Doch die schlauen Ägypter, die Jahrtausende alte Erfahrung mit der Errichtung von Pyramiden und Grabmälern besitzen, habe eine Erfindung, die dieser Gefahr buchstäblich einen Riegel vorschieben kann: Schiebetüren…

Mein Eindruck

Die wunderbar endende Erzählung führt den Leser zurück in die Welt des Alten Testaments, so dass man bekannten Namen wie Babylon, Ägypten, Sumer und Elam begegnet. Die Wikipedia weiß: „Das Reich Elam mit der Hauptstadt Susa lag östlich des Tigris in einem Gebiet, das heute Chusistan (im heutigen Iran) genannt wird. In seiner wechselvollen Geschichte – zwischen 3000 und 640 v. Chr. – wurde es immer wieder von den Mächten des Zweistromlandes (Sumerer, Akkader, Babylonier, Assyrer) erobert und fiel seinerseits häufig in Mesopotamien ein.“ Die Rede ist also von einer historischen Zeit, die vor dem Jahr 640 v.Chr. liegt, wahrscheinlich aber weit früher.

Der historische Turm zu Babel hieß Etemenanki, das heißt auf Sumerisch: „Haus der Fundamente von Himmel und Erde“. Und verblüffenderweise erkennt Hillalum am Ende, dass der Turm genau dies ist. Doch wie die wahre Gestalt der Welt aussieht, darf hier nicht verraten werden. Das ist nämlich die Pointe.

Entgegen meiner Erwartung ist die Handlung anschaulich geschrieben, so dass man an Hillalums Schicksal anteilnehmen kann. Man erlebt die Wunder der biblischen Welt. Sicherlich steckt eine satirische Absicht dahinter, die Bibel wörtlich zu nehmen und erste die Sphäre des Mondes, dann der Sonne und schließlich der Sterne darzustellen, die Hillalum auf seinem Weg passieren muss. Das Himmelsgewölbe ist genau solches: hart wie Granit und doch auf perfide und riskante Weise durchlässig für jene Wassermengen, die den Regen erzeugen.

Dass der Autor sich auch bestens mit den Methoden und Werkzeugen der Erbauer der Pyramiden und Pharaonengräber auskennt, belegen seine Schilderungen der Arbeiten der Ägypter im gestein des Himmelsgewölbes: Tunnel, Seiten- und Hauptgänge sowie schließlich die genialen Schiebetüren, also verschiebbare Steinblöcke, die einen Gang dicht verschließen können.

Die metaphysische, spirituelle Seite kommt nicht zu kurz. Ständig ist die Rede davon, ob dieses Werk gottgefällig sei – nach Ansicht der Israeliten war es das nicht, weshalb Jahwe das „bbabylonische Sprachengewirr“ auslöste, so dass der Bau scheitern musste. Doch hier gelingt das Werk, mit einem verblüffenden Schluss.

Natürlich ist der Turm eine Metapher, aber für welches Phänomen? Darüber ließe sich trefflich diskutieren.

2) Geschichte deines Lebens (Story of Your Life, 1998)

Louise Banks ist Sprachwissenschaftlerin. Als die Aliens gelandet sind, fordert die Army sie an, um herauszufinden, ob sich die Menschen mit den Aliens verständigen können, um, naja, irgendwie zu verhandeln oder Handel zu treiben. Vielleicht gibt es ja endlich die Formel für die Kalte Fusion als Weihnachtsgeschenk. Gary Donelly, ein Physiker, soll nach dem Willen von Col. Weber mit Louise zusammenarbeiten. Es wird bald mehr daraus als Zusammenarbeit.

Die Aliens haben die Zahl 7 als Symmetrie, nicht 2 wie wir. Aufgrund ihrer 7 Gliedmaßen nennen die Menschen sie salopp Heptapoden, also Siebenfüßler. Die heptapoden erscheinen nicht physisch, sondern ausschließlich in speziellen Spiegeln, die sie bei verschiedenen Forschungsteam aufstellen. Ihre Abbilder können so von mehreren Teams gleichzeitig empfangen und verarbeitet werden.

Schon bald findet Louise zur ihrem Erstaunen heraus, dass die gesprochene Sprache der Aliens nicht mit ihrer geschriebenen Sprache zu tun hat. Das sind also zwei verschiedene Dinge. Aber auch die geschriebene Sprache hat nichts mit unserer zu tun: Sie ist nicht linear und kausal, sondern simultan und expansiv. Nicht Buchstabe folgt auf Buchstabe, Wort auf Wort und Satz auf Satz, sondern alles zugleich: Der erste Strich kann bedeutungstragende Inhalte der gesamten Satzkonstruktion enthalten. Diese wird dann ergänzt, modifiziert usw., bis das Gesamtergebnis erreicht ist, welches vorher bereits feststand.

Gary hat die rettende Erklärung, als er berichtet, dass die Heptapoden Mathe verstehen können, nur eben völlig verdreht. Ihr Denken basiert nicht auf Ursache und Wirkung, wobei die Ursache der Wirkung vorausgeht, sondern auf der Kenntnis der Ziels und Zwecks eines Vorgangs oder Ereignisses. Sie denken also teleologisch. Folglich schreiben und sprechen sie, als würden sie das Ereignis, das sie beschreiben, erzeugen: Es ist eine Performance.

Diese Erkenntnis hilft allerdings nur Gary und Louise, denn ihre Vorgesetzten können sich diesem Denken nicht anpassen. Ein letzter Austausch von semantischen „Geschenken“ erweist sich als Flop, dann sind sie weg, die Aliens. War das schon alles?

Mein Eindruck

Es kann nicht ausbleiben, dass Louises Denken sich der Denkweise und Weltsicht der Heptapoden anpasst. In eingeschobenen Abschnitten und Szenen beschreibt sie das Leben ihrer Tochter, von deren Zeugung bis zu ihrem Tod mit 25 Jahren, den sie bei einem Sturz beim Bergklettern erleidet. Allerdings folgt diese in Abschnitten gelieferte „Geschichte deines Lebens“ weder kausal noch linear, sondern teleologisch: Das Ziel ist ja bekannt.

Das bedingt eine ungewöhnliche Umstellung in der zeitlichen Darstellung. Statt der gewohnten Präteritums als Vergangenheitsform verwendet Louise das Präsens, das Futur I und Futur II: „Du wirst B tun, nachdem du mal wieder A getan hast, um mir zu Kontra zu geben.“

Aber wenn Louise schon weiß, was ihre renitente Tochter zum zeitpunkt X getan haben wird, warum erzählt sie überhaupt davon? Die Antwort liegt in der Grundhaltung: Dies ist eine Performance, und eine Performance ist ein performativer Akt, ähnliche wie ein Trauungsakt oder eine Schiffstaufe. Erst wenn dieser sprachliche Akt komplett vollzogen worden ist, erhält er auch die entsprechende Bedeutung: Halbe Schiffstaufen zählen nicht, ebenso wenig halbe Eheversprechen. Und nur mit dieser vollständigen performativen Bedeutung wird er auch wahr.

Das Leben ihrer Tochter zu erzählen bedeutet also für Louise, sie erneut zum Leben zu erwecken und diesem Leben einen Sinn zu verleihen. Es gibt nur einen Haken: Wenn Gary Donelly der Vater dieser Tochter ist, was hat dann dieser Nelson in der Story zu suchen, von dem Louise getrennt lebt? Ich habe den leisen Verdacht, irgendwo Ursache und Wirkung durcheinandergebracht zu haben.

Der Kurzroman von rund 60 eng bedruckten Seiten, der demnächst verfilmt wird, ist es jedenfalls wert, mindestens zweimal gelesen zu werden. Auch wenn das bedeutet, den Fachjargon von Sprachwissenschaftlern und Physikern erlernen zu müssen.

3) Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (Hell Is the Absence of God, 2001)

Neil Fisk, ein Mann mit einer Gehbehinderung, erträgt sein Los mit Gleichmut, selbst wenn seine Zeitgenossen meinen, Gott habe ihn nicht umsonst bestraft. Als Sarah ihn so akzeptiert, wie er ist, verliebt er sich deshalb auf der Stelle in sie, und bald danach sind sie verheiratet. Doch Gott hat weder ihn noch sie vergessen. Als der Engel Nathanael in der Innenstadt in einer explosiven Lichterscheinung auftaucht, wie es nun mal die Art der Engel ist, birst die Fensterscheibe des Cafés, in dem Sarah sitzt, und umherfliegende Glassplitter verletzen sie so schwer, dass sie stirbt.

Nun sollte man meinen, dass Sarahs Seele auf der Stelle gen Himmel fahren würde, doch Pustekuchen! Sie landet in der Hölle. Diese liegt, wie Neil sehr wohl weiß, direkt unter dem Erdboden und ist für die Reumütigen reserviert, die Gott nicht genügend geliebt haben. Dennoch hadert Neil mit seinem Schicksal und versucht, Gottes Willen zu ergründen. Deshalb geht er in eine Selbsthilfegruppe, in der sich alle Nathanael-Opfer einander Trost zu spenden versuchen. Hier begegnet er Janice Reilly.

Janice ist ebenfalls ein Engel begegnet, und Rashiel hat ihr Leben verändert. Da sie ohne Beine geboren wurde, da ihre Mutter bei einer Engelserscheinung einen Schock erlitt, lernte sie zu predigen, dass diese scheinbare Schwäche in Wahrheit eine Schwäche sei. Doch nun, nach der Erscheinung, hat sie ihre Beine wieder. Nun beginnen ihre bisherigen Anhänger zu zweifeln, ob sie diese unerwartete Gunst Gottes verdient habe. Neil jedenfalls gehört zu ihren schärfsten Kritikern.

Zusammen mit Ethan, Janices Gefährten, der sich zum Zeugen dieser Geschehnisse berufen sieht, reisen sie in die Wüste, um eine heilige Pilgerstätte zu besuchen. Das Dorf derjenigen, die hier entweder eine Engelsbegegnung und/oder eine Wunderheilung erhoffen, erstreckt sich über mehrere Quadratkilometer. Als Janice von Neil erfährt, dass er als Lichtsucher hier sei, um einem Engel zu begegnen, versucht sie sofort, ihm diesen Plan auszureden – vergebens.

Nur wenige Tage später meldet die Lichtsucher-Beobachtungsstelle aufziehende Wolken mitten in der Wüste – ein untrügliches Zeichen für das Nahen von Barakiel, dem Blitze sendenden Engel. Neil flitzt in seinem Jeep los, der Sturmfront entgegen. Die Blitze fahren schon bald am laufenden Band auf die Erde nieder, so dass Neil nicht mehr weiß, was ein echter Blitz und was nur ein Nachbild ist.

Da ist der Engel! Ein Lichtwirbel, der nur Barakiel sein kann! Die plötzlich auftauchende Bodenkuppe sieht Neil zu spät, und sein Jeep saust in die Höhe. Die Landung ist umso härter…

Mein Eindruck

Zunächst scheint sich der Leser in das Universum der christlichen Fundamentalisten verirrt zu haben. Hier ist von Engelserscheinungen, der Hölle unterm Boden und von der Verzückung – das Auffahren der Seele direkt in den Himmel – die Rede. Die Seelen von Toten erscheinen den Lebenden, und wundersame Heilungen bzw. Verwundungen oder Tode sind an der Tagesordnung. Die Sterblichen versuchen ihr Leben gottgefällig zu gestalten, während die Humanisten einfach nur sagen: „So etwas wie Gott gibt es nicht. Du entscheidest selbst über dein Leben.“

Nun, Neil Fisk wird jedenfalls nach dem gewaltsamen Tod seiner geliebten Frau zum ungläubigen Thomas. Er stellt fest, dass er egoistisch genug ist, die Liebe zu seiner Frau über seine Liebe zu Gott zu stellen. Sicherlich kann dies nicht rechtens sein, oder? Die Engelsjagd in der Wüste ist die ultimative Prüfung, ob er recht hat oder nicht. Wunderbarerweise besucht ihn hier das Licht Gottes gleich zweimal…

Der Autor hat sich offenbar die Frage gestellt, was nach einem heftigen Schickssalsschlag geschähe, wenn die Welt so geordnet wäre, wie es die christlichen Fundamentalisten sich ausmalen. Das irdische Dasein, soviel ist klar, wäre eine permanente Prüfung, sowohl des Glaubens – also der Seele – als auch der körperlichen Existenz. Ironischerweise landen selbst die Frömmsten in der Hölle. Die Wege des Herrn sind wahrlich unerforschlich.

Obwohl die Erzählung höchstwahrscheinlich als ironische Satire auf fundamentalistische Christen gemeint ist, enthält sie doch zahlreiche Stelle, die sehr anrührend sind und die ein mitfühlender Leser durchaus nachvollziehen kann. An keiner Stelle ist sie unverständlich, etwa durch metaphysischen Fachjargon, aber es hilft, schon einmal von der „Verzückung“ (the rapture) gelesen zu haben.

Für diese bewegende und erstaunende Erzählung erhielt der Autor 2002 den begehrten HUGO Award der US-amerikanischen SF-Leser.

4) Der Kaufmann am Portal des Alchemisten (The Merchant and the Alchemist’s Gate, 2007)

Fuwaad ibn Abbas ist ein wohlhabender Kaufmann in Bagdad, der Stadt des Friedens. Doch eine Herzensangelegenheit, die sein Gemüt in Trauer hüllt, führt ihn eines Tages in die Straßen des Suk, wo er auf einen sonderbaren Laden stößt. Eigentlich sucht er ein Geschenk für einen Freund, aber was Bashaarat, der Ladenbesitzer, ihm anbietet, ist sehr ungewöhnlich: ein „Tor der Jahre“. Man geht durch den großen goldenen Reif hindurch und betritt den gleichen Ort, aber 20 Jahre in der Zukunft. Andere „Tore der Jahre“ führten 20 Jahre in die Vergangenheit.

Fuwaad zögert: Diese alchemistische Sache klingt zu phantastisch, um wahr sein zu können. Bashaarat erzählt ihm deshalb drei Geschichten, um zu illustrieren, was sich mit einer simplen Zeitreise von 20 Jahren erreichen ließe.

1) Die Geschichte des glücklichen Seilers;
2) Die Geschichte des Webers, der sich selbst bestahl;
3) Die Geschichte der Ehefrau und ihres Geliebten.

Fuwaad ist nun überzeugt, dass sich mit einem tritt durch ein ganz bestimmtes „Tor der Jahre“ seine Seelenpein, die ihn seit 20 Jahre bedrückt, lindern ließe. Damals verlor er seine geliebte Ehefrau Najya, und weil er im Streit von ihr gegangen war, gibt es sich seitdem die Schuld an ihrem Schicksal. Was er sucht, sind also Sühne und Vergebung. Wird Allah gnädig genug sein, um ihn diese Ziele erreichen zu lassen?

Zuerst muss sich Fuwaad nach Kairo begeben, um Bashaarats Sohn zu besuchen. Dort befindet sich ein „Tor der Jahre“, das tatsächlich 20 Jahre in die Vergangenheit führt. Weil er sich aber immer noch in Kairo befindet, muss Fuwaad nun nach Bagdad reisen, um dort das Unglück zu vereiteln, das Najya widerfahren wird. Die Karawane, die normalerweise zwei Monate benötigt, wird aber immer wieder aufgehalten: Sandstürme, Räuber, Krankheiten. Nicht einmal Fuwaads Kühnheit, der Karawane vorauszueilen, wird vom Schicksal belohnt.

Und so kommt es, dass der Zeitreisende an einem schicksalhaften Tag in Bagdad eintrifft: zu früh, rechtzeitig oder zu spät?

Mein Eindruck

Der Autor hat das alte Konzept der Zeitreise mit der wohlbekannten und leicht verständlichen Welt der „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“ verknüpft, um ein Geflecht aus Geschichten zu erzeugen, das den Leser nicht nur in Erstaunen versetzt, sondern auch anrührt. Die drei Binnengeschichten haben alle miteinander zu tun: Zwei Männer und eine Frau wollen das Schicksal ändern. Ob es ihnen gelingt, darf hier nicht verraten werden.

Die drei Geschichten dienen nur dazu, den Ich-Erzähler der Rahmenerzähler davon zu überzeugen, dass sich die Zeitreise mal zum Guten und mal zum Schlechten auswirken könne – das liege ganz in der Hand Allahs des Barmherzigen. Folglich soll sich Fuwaad für seine eigene Zeitreise nichts Weltbewegendes erwarten, sondern für das dankbar sein, was ihm Allah zuteil werden lasse. Ob Fuwaad sein Ziel erreicht, wird nicht verraten.

Für Leser, die schon die Zeitreisegeschichten des Heyne-Verlags in den Auswahlbänden „Die Fußangeln der Zeit“ und „Zielzeit“ (siehe meine Berichte) gelesen haben, bringt die Geschichte dennoch etwas Neues. Das Geflecht der Beziehungen zwischen den drei Binnengeschichten ist nämlich derart komplex, dass es sich für den Zeitreise-Fuchs lohnen könnte, es nachzuvollziehen. Wem dies gelingt, darf sich Zeitreise-König nennen.

5) Ausatmung (Exhalation, 2008; Nebula Award)

Ein Volk von Robotern lebt in einem künstlichen Universum. Dieses erstreckt sich unter einer undurchdringlichen Kuppel aus Chrom, die mit dem Edelgas Argon gefüllt ist. Es ist ein tägliches Ritual für alle Bewohner der Stadt unter der Kuppel, die leeren Kartuschen mit dieser Luft an der Lufttankstelle gegen gefüllte Kartuschen auszutauschen. Die Tankstelle wird ihrerseits vom tief gelegenen Luftspeicher gespeist, zu dem niemand Zutritt hat.

Eines Tages macht unser Chronist eine bestürzende Entdeckung. Es fängt ganz unscheinbar an: Die Turmuhren der Stadt gehen falsch. Ihr Glockenschlag zum neuen Jahr verklingt nämlich, bevor der Ausrufer seine Ode aufzusagen beendet hat, was exakt eine Stunde in Anspruch nimmt. Normalerweise. Was könnte die Ursache für diese Abweichung sein, fragt sich unser Chronist, der eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten hat. Liegt es am Ende an den Gehirnen der Ausrufer statt an den Uhren der Stadt?

Die Gehirne sind selbstverständlich ebenfalls künstlich, doch über Aufbau und Ursprung gehen die Theorien weit auseinander. Unser Chronist ist ein selbständig denkender geist und seziert sein Gehirn mittels einer komplizierten Vorrichtung selbst. Was er entdeckt, macht ihn nachdenklich. All die goldenen Plättchen werden gar nicht beschrieben, um Erinnerungen einzuschreiben, sondern es ist lediglich die Luft, die ein bestimmtes Muster ergibt, das die Gedanken erzeugt. Erstaunlich. Aber was ergibt sich daraus?

Die einzige, ebenso plausible wie bestürzende Schlussfolgerung lautet: Dass nicht die Turmuhren vorgehen, sondern sich der Luftstrom, der die Gedanken erzeugt, verlangsamt. Die einzige mögliche Ursache in Ermangelung eines Hindernisses kann nur eine Verringerung des Luftdrucks sein. Je langsamer die Luft, desto langsamer und müder die Gehirne der Personen. Wenn aber der Luftdruck so lange zu sinken beginnt, bis er sein ultimatives Gleichgewicht, gefunden hat, ist das Endstadium der Entropie erreicht – das Ende des Lebens, zumindest in diesem Universum.

Da die Befunde unseres Chronisten durch seine Kollegen bestätigt werden, beginnt sich die Erkenntnis auszubreiten, dass das Ende des Lebens, wie man es bislang kannte, unausweichlich naht. Was ist zu tun? Panik beginnt sich zu verbreiten. Unser Chronist aber greift zu einem primitiven Mittel, um sich dem Entdecker mitzuteilen, der diese Erzählung, wie er hofft, aus einem anderen Universum kommen wird…

Mein Eindruck

Dies ist angewandte Relativitätstheorie, denn sie zeigt, dass zwei Körper A und B im gleichen Bezugssystem entweder schneller oder langsamer als der jeweils andere erscheinen können. Zuerst schienen die Turmuhren vorzugehen, doch dann wird entdeckt, dass es im Gegenteil die eigenen Gehirne sind, die quasi „nachgehen“.

Als wäre diese Entdeckung nicht schockierend genug, erweist sich, dass nicht nur der Raum endlich ist, sondern auch die Zeit. Die Bombe tickt im Innern derjenigen Wesen, die sich als Menschen begreifen. Kommt der Luftstrom zum Erliegen, der ihre Gehirne antreibt, stoppt auch der Nachschub in den verfügbaren Luftkartuschen. Der letzte Roboter ist derjenige, dem es gelingt, sich an die Leitung des zentralen Luftspeichers anzuschließen. – wohl nicht für immer.

Auf den letzten Seiten unseres Chronisten neigt er, nicht ganz überraschend, zu philosophischen Gedanken und Gefühlen. Wir Erdlingen dürfen uns durchaus angesprochen fühlen. Wir plündern unseren Planeten aus, als wären die Vorräte an atembarer Luft und trinkbarem Wasser unerschöpflich, ja, als gäbe es eine brandneue Welt gleich nebenan.

Das Gegenteil ist wohl eher der Fall: Der Organismus, den wir „Erde“ nennen, ist bereits seit geraumer Zeit damit beschäft, den Raubbau, den wir an ihm treiben, dadurch auszugleichen, indem er die Lebensbedingungen für unsere Spezies derart verschlechtert, dass wir erkennen: Nicht nur Luft und Wasser sind endlich, sondern auch das Land. Es ist nämlich gerade dabei unterzugehen…

Die Übersetzung

S. 9: „Jemand hat mit erzählt…“ Es muss wohl „mir“ heißen.

S. 12: „so wie der Lederriemen eines Peitsche um den Sti[e]l.“ Das E fehlt.

S. 13: „mit … Brotleibern“: Korrekt hieße es „mit Brotlaiben“.

S. 14: „Form eines Karggewölbes“. Das ergibt keinerlei Sinn, es sei denn, man macht daraus „Kraggewölbes“: Wenn ein Stein über den anderen hinausragt, kann ich mir eine Konstruktion vorstellen, die der Klinkerbauweise eines Langbootes der Wikinger entspräche.

S. 54: „die Hept[a]poden“. Das A fehlt.

S. 90: „eines kalten Fusionsreaktors“. Nicht der Reaktor ist kalt, sondern die Fusion!

S. 100: „Die Hölle ist ein Ort, an dem (!) es einen nach seinem Tod verschlägt…“. Falsche Kasusendung. Korrekt wäre „an den es einen… verschlägt“.

S. 178: „…denn ich bin nicht diese Luft, sondern das Muster, das es (!) für eine Weile annimmt.“ Dieser Satz ergibt auch keinen Sinn. Ich habe deshalb im Original nachgeschlagen, das man leicht in dem Band „Hartwell/Cramer: Year’s best SF #14“ (Eos Books 2009) nachschlagen kann. Dort findet sich diese Stelle auf Seite 183: „…I am not that air, I am the pattern that it assumed, temporarily“. Es geht also um das „Muster, das sie [die Luft] für eine Weile annahm.“ Man beachte auch die Vergangenheitsform, in der der Chronist spricht.

Unterm Strich

Der nachhaltigste Eindruck, der von diesen Erzählungen zurückbleibt, ist wohl der eines originellen, ja, originären Einfallsreichtums, verbunden mit einer Einfühlsamkeit, die die Ideen mit Gefühlen kodiert. „Ausatmung“ beispielsweise schildert die schreckliche Erkenntnis, dass eine Welt und alle darin dem Tode geweiht sind. Die Titelgeschichte beschreibt die Möglichkeit, drastische Schicksalsschläge in einer Welt zu verarbeiten, in der Gott unmittelbar durch seine Engel präsent ist. Das Finale dieser Story gehört zu den bizarrsten, die ich je gelesen habe.

Auch die vielfach preisgekrönte und demnächst verfilmte Novelle „Geschichte deines Lebens“ verknüpft ein Science-Fiction Thema, nämlich die Begegnung mit Fremdwesen, mit der Verarbeitung eines Schicksalschlages: Louises Tochter ist gestorben, doch die neue Denkweise, die sie von den Aliens gelernt hat, ermöglicht es ihr, diesen Verlust auf eine Weise zu verarbeiten, wie das in der SF meines Wissens noch nie geschehen ist. Die gesamte Erzählung Louises stellt ihre Performance dar, die sie vollziehen muss, um den Verlust ihrer Tochter angemessen betrauern zu können.

„Der Turmbau zu Babel“ gäbe so manchem weniger begabten Schriftsteller, in die Fußstapfen der Bibelautoren des Alten Testaments zu treten und über die Hybris zu zetern und Häme über jene auszugießen, die bei diesem Megaprojekt scheitern. Chiang tut das genaue Gegenteil. Er lässt sich auf dieses Projekt ein, schaut den Bauarbeitern über die Schultern, nimmt an ihrem Leben Anteil und führt uns so zum Durchbruch auf eine weitere Ebene der Erkenntnis.

Das Wunder der Transzendenz (der Überschreitung einer Grenze) wird so in den Alltag eingebaut und nachvollziehbar. Als Zugabe gibt es ein paar interessante Beobachtungen über die Wirkungen, die der hohe Turm auf die Wahrnehmung der Welt hat. Ironisch mutet die Konstruktion der Welt an, aber sie entspricht lediglich derjenigen, die die Kirch vor Kopernikus und Galilei zuließ: Die Sphären des Mondes, der Sonne, der Sterne und schließlich das granitharte Himmelsgewölbe – was mag jenseits davon liegen?

„Der Kaufmann am Portal des Alchemisten“ ist ein Zeitreiseabenteuer in der Welt von „Tausendundeine Nacht“, eine ungewöhnlich gestaltete Erzählung, um ein Phänomen zu verarbeiten, das nach den 120 Jahren, seit „Die Zeitmaschine“ 1895 erschien, reichlich abgedroschen wirkt. Auch hier gelingt es dem Autor durch Verknüpfung dieser Idee mit menschlichen Sehnsüchten, Wünschen und Schmerzen ein Ergebnis zu erzielen, das den zartbesaiteten, mitfühlenden Leser durchaus anrühren kann.

Zielgruppe

Ich hoffe, ich konnte verdeutlichen, was diese Erzählungen und ihren Autor ausmacht und sie aus der Masse der Science-Fiction-Produktionen heraushebt. Man braucht keine wissenschaftliche Ausbildung, um sie verstehen zu können – vielleicht mit Ausnahme von „Geschichte deines Lebens“, das anfangs stark auf Sprachwissenschaft zurückgreift. (Sprachwissenschaft ist eine Grundlage für Informatik, denn alle Programmierung beruht auf dem Einsatz von Sprache. Wenn dein PC sprechen könnte, wie sein Ich aufgebaut ist, würde er als erstes in der Maschinensprache „Assembler“ reden.)

Man sollte sich daher keinesfalls von dem etwas prätentiösen Titelbild abschrecken lassen: Es suggeriert, dass hier nur Mathe verwendet wird. Auf der Innenklappe ist der Titel in griechischen Buchstaben wiedergegeben – ebenfalls eine Irreführung. Diese Geschichten sind keineswegs verkopft, sondern wenden sich an das Emfindungs- und Einfühlungsvermögen des Lesers.

Broschiert: 181 Seiten
ISBN-13: 978-3942396127
golkonda-verlag.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (3 Stimmen, Durchschnitt: 4,67 von 5)