Carroll, Steven – Kunst des Lokomotivführens, Die

Was hier dem Titel nach eher wie Fachlektüre für angehende Lokomotivführer klingt, ist in Wirklichkeit ein Roman, der sich um Dinge wie Liebe, Lebensträume und enttäuschte Hoffnungen dreht. Natürlich spielt auch die Kunst des Lokomotivführens eine Rolle – anders wäre der gleichnamige Titel schließlich kaum zu rechtfertigen – Lektüre für „Trainspotter“ und Modeleisenbahnfetischisten ist „Die Kunst des Lokomotivführens“ aber dennoch nicht.

Die Geschichte spielt Anfang der fünfziger Jahre in einem Vorort von Melbourne. Es ist ein warmer Sommerabend, an dem George Bedser Nachbarn und Freunde in sein Haus einlädt. Anlass ist die Verlobung seiner Tochter Patsy. Auch Vic, Rita und ihr Sohn Michael machen sich auf zum Haus der Bedsers. Vic ist Lokomotivführer. Noch fährt er nur Güterzüge, aber er träumt vom „Big Wheel“, den großen Personenzügen, die nur die besten Lokführer fahren dürfen. Eine der Ikonen des „Big Wheel“ ist Paddy Ryan, Vics Lehrmeister, der zum Zeitpunkt, als Vic mit Frau und Sohn zur Party im Haus der Bedsers geht, gerade einen vollbesetzten Personenzug nach Sydney fährt.

Während Paddy den Zug geschmeidig über die Schienen nach Sydney gleiten lässt, taucht am Ende der Straße, ganz in der Nähe des Hauses der Bedsers, ein dunkler Wagen auf. Der Fahrer ist Patsys heimlicher Geliebter Jimmy, der Patsy ein letztes Mal sehen will, bevor er das Land verlässt. Als er endlich seinen Mut zusammenrafft und das Haus betritt, ist die Party bereits in vollem Gange. Etwa zeitgleich überfährt Lokomotivführer Paddy gerade zum zweiten Mal ein Haltesignal und steuert auf eine unausweichlich erscheinende Katastrophe zu. Doch Paddy ist nicht der Einzige, dessen Leben sich in dieser Nacht auf entscheidende Weise verändert …

Der Australier Steven Carroll legt mit „Die Kunst des Lokomotivführens“ bereits seinen vierten Roman vor, mit dem ihm in seiner Heimat der Durchbruch gelang. Das Buch bekam jede Menge guter Kritik und wurde für die wichtigsten Literaturpreise des Landes nominiert.

„Die Kunst des Lokomotivführens“ ist im Grunde eine Momentaufnahme. Die reine Handlung beschränkt sich im Wesentlichen auf einen einzigen Abend. Vic geht mit Frau und Sohn zur Party der Bedsers und der Großteil der Geschichte passiert auf dem Weg dorthin und während bzw. nach der Party. Carroll skizziert also keine weit gefasste Handlung, die die Entwicklung der Charaktere widerspiegelt, sondern zeigt im Augenblick einer Momentaufnahmen einen markanten Lebensausschnitt, der für alle Beteiligten auf die eine oder andere Art einen Einschnitt darstellt.

Immer wieder schlüpft Carroll dabei in die Köpfe seiner Protagonisten, skizziert ihre Gedanken, lässt auf Vergangenes zurückblicken und schaut hier und da auch mal in die Zukunft. Die Figuren sind damit der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Carroll stellt Verknüpfungen zwischen den Figuren dar, demonstriert, wie sich Schicksale überkreuzen und eine unbewusste Handlung eine Kette von Ereignissen hinter sich herziehen kann.

Carroll zeigt, wie die Ereignisse zusammenhängen, wie eine Sache eine andere bedingt und wie kleine Aktionen des einen das Leben des anderen verändern können. Was die Lektüre dabei faszinierend macht, sind die Portraits der Figuren, die Carroll abliefert. Obwohl der Leser die Figuren nur einen Augenblick lang begleitet, erfährt er dennoch sehr viel über sie. Carroll lässt den Leser tief in die Abgründe der unterschiedlichen Persönlichkeiten blicken. Er skizziert die entscheidenden Momente der verschiedenen Lebensläufe nach und lässt die Figuren damit sehr plastisch vor dem Auge des Lesers zum Leben erwachen.

Die Figuren machen den Roman aus, und es ist schon faszinierend, wie ein Roman, der augenscheinlich so wenig Handlung aufweist, dennoch auf eine gewisse Art auch zu fesseln weiß. Der Leser ahnt (bzw. weiß durch die Lektüre des Klappentextes), dass für die Figuren einschneidende Veränderungen ins Haus stehen. Man wartet gespannt ab, wie das Schicksal seinen Lauf nimmt.

Was Carroll mit seinem Roman sehr menschlich und lebensecht inszeniert, wirkt wie ein Ausschnitt Lebensalltag. Er packt all die Emotionen und Gedanken, welche die Menschen tagein, tagaus beschäftigen, in seinen Roman. Was Carrolls Protagonisten beschäftigt, sind Liebe und Verlust, die großen Lebensträume und Hoffnungen, die irgendwann enttäuscht werden. Carroll zeigt, wie zerbrechlich Glück sein kann und wie sehr der Verlauf des Lebensweges von einem einzigen Augenblick abhängen kann. Auf diese Weise entwickelt der Roman mit zunehmender Seitenzahl eine beachtliche Tiefe.

Carroll packt einerseits sehr viel Leben in seinen Roman, hat aber andererseits ein sehr stilles und leisetretendes Werk abgeliefert. Die schicksalhaften Wendungen der Nacht kommen auf leisen Sohlen herangeschlichen, ohne mit einem Paukenschlag alles auf den Kopf zu stellen. Auch sprachlich ist „Die Kunst des Lokomotivführens“ eher ein Buch der leisen Töne. Carroll formuliert einfach und ohne viel Effekthascherei – schlicht, aber nichtsdestotrotz mit einem gewissen Einfühlungsvermögen.

Wer Charakterstudien und Momentaufnahmen allerdings wenig abgewinnen kann, dem wird auch das Buch wenig Freunde machen. Auf der Handlungsebene passiert halt ausgesprochen wenig, Carroll bringt den Leser dazu, mehr auf zwischenmenschliche Beziehungen zu achten, auf Persönlichkeiten und die Schicksalhaftigkeit des Augenblicks. Wer dafür kein Auge hat, der wird sich vermutlich langweilen.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Die Kunst des Lokomotivführens“ ein leiser Roman ist, der zunächst ganz unspektakulär daherkommt, aber in seinen Beobachtungen tief in die Charaktere eintaucht. Wem tiefgründig skizzierte Figuren wichtig sind, der wird dem Buch mit Sicherheit viel abgewinnen können. „Die Kunst des Lokomotivführens“ ist ein Roman, der zunächst ganz gemächlich in Fahrt kommt, sich mit zunehmender Seitenzahl aber stetig gewaltiger entfaltet und erst zum Ende hin die Kraft entblößt, die in ihm schlummert.

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