Philip K. Dick – Das Jahr der Krisen

Folgenreicher Durchbruch zur Anders-Erde

Das Jahr 2080: Ein Präsident soll gewählt werden und steht vor unlösbaren Aufgaben: Immer größer wird der Druck der Massen, jene Millionen von Tiefschläfern wieder aufzuwecken, die in einer übervölkerten Welt in den Schlaf geschickt wurden. Aber wohin mit ihnen? Da stößt man auf den Zugang zu einer Parallelwelt, auf der der Pekingmensch zur beherrschenden Menschenrasse geworden ist. Nachdem man etliche Siedler hingeschickt hat, stellt sich heraus, dass etwas schrecklich schiefgegangen sein muss … (Verlagsinfo)

Der Autor

Philip Kindred Dick (1928-1982) war einer der wichtigsten und zugleich ärmsten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Obwohl er in fast 30 Jahren 40 Romane und über 100 Kurzgeschichten veröffentlichte (1953-1981), wurde ihm zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung außerhalb der SF zuteil. Oder von der falschen Seite: Das FBI ließ einmal seine Wohnung nach dem Manuskript von „Flow my tears, the policeman said“ (dt. als „Eine andere Welt“ bei |Heyne|) durchsuchen. Okay, das war unter Nixon.

Er war mehrmals verheiratet und wieder geschieden, philosophisch, literarisch und musikologisch gebildet, gab sich aber wegen des Schreibstresses durchaus dem Konsum von Medikamenten und Rauschdrogen wie LSD hin – wohl nicht nur auf Erkenntnissuche wie 1967. Ab 1977 erlebte er einen ungeheuren Kreativitätsschub, die sich in der VALIS-Trilogie (1981, dt. bei |Heyne|) sowie umfangreichen Notizen (deutsch als „Auf der Suche nach VALIS“ in der Edition Phantasia) niederschlug.

Er erlebte noch, wie Ridley Scott seinen Roman „Do androids dream of electric sheep?“ zu „Blade Runner“ umsetzte und ist kurz in einer Szene in „Total Recall“ (1982) zu sehen (auf der Marsschienenbahn). „Minority Report“ und „Impostor“ sind nicht die letzten Storys, die Hollywood verfilmt hat. Ben Affleck spielte in einem Thriller namens „Paycheck“ die Hauptfigur, der auf einer gleichnamigen Dick-Story beruht. Als nächste Verfilmung kommt „A scanner darkly“ (Der dunkle Schirm).

Handlung

Jim Briskin ist der erste farbige Kandidat für das Amt des US-Präsidenten. Er hätte eigentlich gute Chancen, den Wahlkampf zu gewinnen, denn die Farbigen stellen im Jahr 2080 die Bevölkerungsmehrheit. Aber angesichts seiner Ziele ist sein Wahlkampfstratege Salisbury Heim skeptisch. Erstens will Briskin den Vergnügungssatelliten |Goldenes Tor|, ein fliegendes Bordell der Gebrüder Walt, schließen lassen, um dessen Pornokanäle zum Verstummen zu bringen. Zweitens will er all die Millionen Tiefgekühlten, die Flakkies (von „Flaschenkind“), wieder aufwecken lassen, weil es zu viele werden. Aber wohin mit diesen Massen?

Deshalb lautet Briskins dritter Vorschlag, den Mars zu bewässern und so zu terraformen, um sodann die Flakkies dorthin als Kolonisten zu schicken. Sal Heim hält diesen alten Vorschlag eines gewissen Bruno Mini für hirnrissig, doch Briskin lässt sich nicht davon abbringen. Als Sal Heim zwecks Entspannung von seinem Frust den Pornosatelliten besucht, setzen ihm die Eigentümer die Pistole auf die Brust: Entweder Briskin nimmt sein Ansinnen, den Satelliten zu schließen zurück, oder sie unterstützen Schwarz, den Gegenkandidaten. Heim reicht seinen Rücktritt ein.

Unterdessen richtet sich die Aufmerksamkeit der Massenblätter und ihrer ungebildeten Leser auf den Skandal, den die Scheidungsklage des Starchirurgen Lurton Sands gegen seine Frau, die Abtreibungstherapeutin Myra Sands, eingereicht hat. Lurton hat sie mit seiner Geliebten Cally Vale betrogen. Doch wo sich Miss Vale im Augenblick befindet, kann Myra Sands niemand auf der Erde sagen, nicht einmal Top-Detektiv Tito Cravelli.

Ricks neue Welt

Da macht ein kleiner Mechaniker namens Rick Erickson in Kansas City eine erstaunliche Entdeckung. Er soll den Jiffi-Scoutporter, mit dem Lurton von A nach B fliegt, reparieren, denn er fliegt nicht mehr zum vorgegebenen Ort, sondern sonst irgendwohin. Als er das Gefährt näher untersucht, stößt er auf einen Dimensionsriss im Boden und kriecht hindurch. Hier muss Lurton also sein Gspusi versteckt haben!

Rick landet auf einer idyllischen Welt: menschenleer, grün, bewaldet, mit frischer Luft, mit der gleichen Schwerkraft wie die Erde – göttlich! Aber leider taucht die Lady, die er erblickt, mit einem Lasergewehr in der Hand auf. Der rasche Rückzug, den Rick antritt, kommt zu spät. Ein Loch im Hinterkopf lässt sich auch von einem Starchirurgen nicht mehr beheben. Sein Kollege zieht ihn in die Werkstatt zurück und verständigt die Behörden.

Sofort verständigt Top-Detektiv Cravelli, der nun endlich weiß, wo die gesuchte Miss Vale steckt, zuerst den Präsidentschaftskandidaten Briskin. Denn wäre die von Erickson entdeckte Welt nicht ein idealer Ort, um die Flakkies zu entsorgen? Er verlangt als Gegenleistung nur eine Kleinigkeit: den Posten des Justizministers.

Das Attentat

Doch Briskin geht in die Offensive und verkündet Cravellis Information auf allen TV-Sendern. Das hat ein politisches Erdbeben zur Folge. Denn erstens werden alle Verwalter der Flakkie-Lagerhäuser nun arbeitslos, ebenso natürlich auch staatliche Abtreibungsberater wie Myra Sands: Man kann sich nun wieder Kinder leisten. Und drittens wird keiner mehr den Bordellsatelliten mehr besuchen wollen, sobald sich Sex mit gebärfähigen Frauen wieder realisieren lässt.

Das sehen die Gebrüder Walt genauso und geben ein Attentat in Auftrag. Die Rassistenorganisation von Verne Engel freut sich über eine großzügige Spende und setzt einen arbeitslosen Lagerverwalter in Marsch. Davon bekommt Cravelli Wind. Es ist Essig mit seinem Ministerposten, wenn Briskin erledigt wird. In Windeseile ergreift er Gegenmaßnahmen und infiltriert den Satelliten Goldenes-Tor-Momente-der-Freude, wo seine Freundin Francy als Hostess arbeitet. Ob er wohl noch rechtzeitig kommt, damit George Walt den Attentäter zurückpfeifen kann?

Mein Eindruck

Die erste Hälfte des Romans wurde 1963 geschrieben und im Juli 1964 unter dem Titel „Cantata 140“ im „Magazine for Fantasy and Science Fiction“ veröffentlicht. Die zweite Hälfte schrieb Dick 1964, so dass der komplette Roman 1966 erscheinen konnte. Der Titel „Cantata 140“ bezieht sich auf die Bach-Kantate Nr. 140, die „Wachet auf“ heißt. Das lässt sich leicht auf die Schläfer in den staatlichen Lagerhäusern beziehen. Sie wurde eingefroren, um das Problem der Überbevölkerung zu lindern.

Sie sollen ja auf die Anders-Erde auswandern und eine Kolonie gründen – darum geht es vordergründig im Roman. Das Problem ist jedoch, dass sich schon bald herausstellt, dass die Parallelwelt die gleiche Welt zur gleichen Zeit ist, aber einen alternativen Geschichtsverlauf eingeschlagen hat, in dem der Pekingmensch (Pithecanthropus sinanthropus) zur dominanten Menschenrasse geworden ist – mit bemerkenswerten Fähigkeiten.

Es ist Wahlkampf

Die Wahlkämpfer um den schwarzen Präsidentschaftskandidaten Jim Briskin (eine Figur, die Dick schon seit 1956 auftauchen lässt) freuen sich zunächst, dass Briskin eine Lösung für das Problem der Überbevölkerung gefunden hat, sind aber konsterniert über die Nachricht, die Parallelwelt sei besiedelt. Sal Heim, dem Wahlkampfberater, sind sofort die schrecklichen Konsequenzen klar: Entweder schließt man sofort ein Abkommen mit den Pekingmenschen, oder es wird so enden wie der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern. Der Pekingmensch würde ein zweites Mal ausgerottet werden.

Aber das Dilemma löst sich von alleine auf: Die Pekingmenschen ergreifen die Initiative, nachdem ihnen George Walt, der Mutant, Bescheid gegeben hat, was eigentlich Sache ist. Daraufhin öffnen sie ihrerseits ein Tor in unsere Welt und starten ihre eigene Invasion. Das ist natürlich sehr ironisch und unterläuft jede Doktrin, die John W. Campbell, der maßgebliche Magazin-Herausgeber der US-amerikanischen SF, jemals ausgegeben hat. Die Aliens sind schlauer als wir. Sie haben überlegene Fähigkeiten, und sie zahlen uns zurück, was wir ihnen antun wollten.

Der Zwillingsmutant

George Walt ist sicherlich die interessanteste Erfindung des Autors in diesem außerordentlich durchschnittlichen Dick-Roman. George Walt besteht aus zwei Körpern, die sich aber nur einen Kopf und ein Gehirn teilen. Es sind also George und Walt, die vorgeben, zwei zu sein. Aber wie sich herausstellt, besteht nur eine Hälfte dieses Doppelkörpers aus einem Menschen, die andere Hälfte besteht aus synthetischen Prothesen. Walt (oder George?) war beim frühen Tod seines Partners so traurig, dass er die Trennung nicht aushielt und sich einen künstlichen Partner schuf.

Dieses Phänomen verweist darauf , das Philip Dick zeit seines Lebens seine Zwillingsschwester Jane vermisste, die 1929 fünf Wochen nach ihrer Geburt starb – wofür er seine Mutter Dorothy verantwortlich machte. Philip ist neben Jane begraben. (Das Foto von ihrem gemeinsamen Grabstein ist in Lawrence Sutins Biografie „Divine Invasions“ zu finden.) Auch in „Nach der Bombe“ hat Dick dieses Trauma verarbeitet.

George Walt machen ihren Lustsatelliten dicht und begeben sich zu den Pekingmenschen. Wie Cortez bei den Azteken wird er dort aufgrund von Prophezeiungen als Gott angesehen und erteilt einflussreiche Informationen über die Welt des Homo sapiens, der dabei ist, die schöne idyllische Welt des Sinanthropus in Besitz zu nehmen. Bis die Weisen unter seinen Gastgebern seinen Schwindel mit der künstlichen Körperhälfte durchschauen, vergeht eine ganze Menge Zeit. Und Jim Briskin ist es, der die Wende herbeiführt.

Menschliche Charaktere

Briskin ist ein „menschlicher“ Charakter, im Gegensatz zu vielen anderen wie etwa Sal Heim oder Tito Cravelli, die lediglich Manipulatoren sind. Ich könnte mir vorstellen, dass Briskin, den Dick schon 1956 erfunden hatte, eine gewisse Ähnlichkeit mit Dicks schwarzem Freund James Pike, einem Bischof der Episkopalischen Kirche, hatte, der 1969 in der israelischen Wüste umkam. Briskin ist der Einzige, der bereit ist, mit dem weisen Anführer der Pekingmenschen und mit George Walt zu verhandeln. Weil er dabei einen kognitiven Durchbruch erzielt – Walts Entlarvung – endet die Invasion der Pekingmenschen.

Aber das löst natürlich nicht das Problem der „Flakkies“, der 100 Millionen auf Eis gelegten Menschen, die ursprünglich in die Parallelwelt entsorgt werden sollten. Aber vielleicht haben ja die Pekingmenschen – unter ihnen v. a. „Bill Smith“ – dazu eine Idee. Das wird dann leider nicht mehr ausgeführt. Was ebenfalls auffällt, ist das völlige Fehlen eines Realitätsverlusts, wie er für Dick fast schon kennzeichnend ist, ganz besonders in dem Jahr, als er „Palmer Eldritch“ schrieb (1964).

Die Übersetzung

Martin Eisele hat den Roman ins Deutsche übertragen und Hans Joachim Alpers sein Ergebnis redigiert, wie Alpers im Nachwort schreibt. Eiseles Stil ist manchmal etwas holprig. So schreibt er auf Seite 100 von „glückseligen Bäumen“, auf Seite 157 von „zerrütteten Organismen“ statt von verrotteten, auf Seite 158 von einer „Hochertrags-Energieversorgung“ statt von Hochleistungsenergie.

Und schließlich gibt es noch einen schönen Dreckfuhler – Pardon: Druckfehler zu bestaunen. Auf Seite 186, auf der Zielgeraden, wird aus einem „sehr“ ein „sein“ fabriziert, das den aufmerksam Leser doch ziemlich verwirren dürfte. Ich brauchte eine Weile, bis ich dahinterkam, worin der Fehler bestand und bis der Satz einen Satz ergab.

Unterm Strich

„Das Jahr der Krisen“ ist sicherlich kein überragender SF-Roman, schon gar nicht nach Dick-Maßstäben. Lawrence Sutin verleiht ihm nur 2 von 10 möglichen Punkten. Zum Vergleich: Der immerhin ebenso durchschnittlich angelegte Roman „Die rebellischen Roboter“ bekommt von Sutin 6 von 10 Punkten, ganz einfach wegen der herausragenden Behandlung der Beziehung des Helden zu dem obsessiven „dunkelhaarigen Mädchen“ (siehe dazu meine Rezension).

Sutin nennt „The Crack in Space“ (der Titel bezieht sich auf den Dimensionsriss, der die beiden Erden miteinander verbindet) eine „liberale Geschichte mit guten Absichten“, aber ich sehe mehr Meriten. Es ist eine Satire auf den typischen US-Wahlkampf, auf voreilige Patentlösungen des Problems der Überbevölkerung, auf den Dünkel des Homo sapiens und auf die Hoffnung, ein Mutant könnte eine Lösung herbeiführen – ähnlich wie bei Asimovs Mutant „das Maultier“ (Foundation-Trilogie Band 2).

Zu lesen ist das Buch sehr einfach, denn es besteht zu 99 Prozent aus Dialog. Die erste Hälfte (die ursprüngliche Kurzgeschichte „Cantata 140“) ist jedoch stark verdichtet und erfordert eine gewisse Aufmerksamkeit. Die zweite Hälfte konzentriert sich entgegen meinen Erwartungen nicht auf die Erkundung der Anders-Erde, sondern auf die hiesigen Folgen der Entdeckungen, die dabei gemacht werden. Die Entwicklung der Dinge ist dabei sehr ironisch gestaltet. Aber das wäre bei Dick immer zu erwarten. Ich würde also dem Buch mindestens 5 von 10 Punkten geben.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: The Crack in Space, 1966
Aus dem US-Englischen von Martin Eisele
ISBN-13: 9783811835818

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