Philip K. Dick – Zeit aus den Fugen. Phantastischer Roman

Paranoia-Klassiker

Zeit aus den Fugen“ (ein Zitat aus „Hamlet“), 1959 erschienen, kommt als unscheinbare Prosaerzählung daher, genauso wie das Geschehen in einem unscheinbaren Ort spielt, der nicht einmal einen richtigen Namen hat: „Old Town“. Doch das Ganze ist eine gigantische Truman-Show, eine Matrix, die nur einen Zweck zu haben scheint: ihren wichtigsten Bewohner, Ragle Gumm, über die Natur der Wirklichkeit zu täuschen.

Der Autor

Philip Kindred Dick (1928-1982) war einer der wichtigsten und zugleich ärmsten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Obwohl er fast 30 Jahre lang veröffentlichte (1953-1981), wurde ihm zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung zuteil. Oder von der falschen Seite: Das FBI ließ einmal seine Wohnung nach dem Manuskript von „Flow my tears, the policeman said“ (dt. als „Die andere Welt“ bei Heyne) durchsuchen. Okay, das war unter Nixon. Er war mehrmals verheiratet und wieder geschieden, philosophisch, literarisch und musikologisch gebildet, gab sich aber wegen des Schreibstresses durchaus dem Konsum von Medikamenten und Rauschdrogen wie LSD hin – wohl nicht nur auf Erkenntnissuche wie 1967.

Er erlebte noch, wie Ridley Scott seinen Roman „Do androids dream of electric sheep?“ zu „Blade Runner“ umsetzte und ist kurz in einer Szene in „Total Recall“ (1982) zu sehen (auf der Marsschienenbahn). „Minority Report“ und „Impostor“ sind nicht die letzten Stories, die Hollywood verfilmt hat. Ben Affleck soll in naher Zukunft in einem John-Woo-Film namens „Paycheck“ auftreten, der auf einer Dick-Story beruht. Nachtra: Inzwischen verarbeitet eine ganze TV-Serie die wichtigsten von Dicks Kurzgeschichten.

Begraben ist der Autor neben seiner Schwester, die er nie kennenlernte. Es wird immer noch einem seiner frühen Manuskripte gefahndet, das bis heute verschollen ist…

Handlung

Ragle Gumm ist mit seinen 46 Jahren so etwas wie ein amerikanischer Nationalheld: Er ist derjenige, der am längsten durchgehend den landesweiten Wettbewerb „Wo wird das grüne Männchen als nächstes auftauchen?“ gewonnen hat. Zumindest glaubt das jeder in seinem idyllischen Heimatstädtchen Old Town, wo ihn natürlich jeder kennt. Schließlich ist das hier tiefste Provinz, und das auch noch im Jahr 1959, in der Eisenhower-Ära. Und niemand hat ein Radiogerät.

Ragle ist sympathisch, aber auch außergewöhnlich. Als einziger Mann in der Stadt arbeitet er nicht in irgendeinem Job, sondern werkelt stets zu Hause an seinem Wettbewerb herum. Das Ausarbeiten der richtigen Einsendung ist nämlich wirklich kompliziert. Schon ein paarmal lag er mit seiner Vorhersage, wo das kleine grüne Männchen auftauchen wird, daneben und hätte eigentlich disqualifiziert werden müssen, doch die Wettbewerbsleitung hat immer wieder ein oder zwei Augen zugedrückt, um ihn weiterhin dabei zu haben. So eine Erfolgsstory wie die von Ragle Gumm ist nämlich kostenlose Werbung.

Er lebt bei seiner Schwester Margo, deren Mann Victor Nielson und ihrem Sohn Sammy, einem Bastler. Die Nachbarn sind Junie Black und ihr Mann Bill. Als Ragle versucht, mit der attraktiven Junie eine Affäre zu beginnen, geraten die Dinge in Bewegung. Das ist das eine, aber gleichzeitig häufen sich merkwürdige Erlebnisse, die nicht nur Ragle, sondern auch Victor haben.

Als Ragle mit Junie ins Freibad geht, um sie anzubaggern, will er sich beim Getränkekiosk ein Bier kaufen. Doch das, was er beim Getränkekiosk findet, ist merkwürdig: einen Zettel mit der Aufschrift „Getränkekiosk“. Der so bezeichnete Stand hat sich in Luft aufgelöst. Und es ist bereits Ragles sechster Zettel.

Wenig später kehrt der zehnjährige Sammie von einer Expedition zu den Ruinen am Stadtrand zurück. Auch Ragle findet dort etwas: Zeitschriften und ein Telefonbuch. In den Magazinen ist die Rede von einer Schauspielerin, von der Ragle noch nie gehört hat: Marilyn Monroe. Und als er die Nummern im Telefonbuch über die Vermittlung erreichen will, sind alle außer Betrieb. Über das von Sammy gebaute primitive Radiogerät empfangen Ragle, Sammy und Margo merkwürdige Funkmeldungen. Sie haben unter anderem mit Ragles Aufenthaltsort zu tun.

Inzwischen ist Nachbar Bill Black durch die Telefonvermittlung alarmiert worden: Mit Ragle stimmt etwas nicht. Aha, die Magazine und das Telefonbuch. Leider verplappert er sich sich, als er bekennt, den Namen Marilyn Monroe schon einmal gehört zu haben. Der Grund dafür wird nur dem Leser klar: Bill Black ist Teil der groß angelegten Verschwörung, die dazu dient, Ragle Gumms Voraussagefähigkeit dienstbar zu machen. Damit werden die Raketenangriffe auf die Erde eingeschätzt, die die abtrünnigen Mondkolonisten abfeuern. Ragles Welt ist eine Lüge: Illusion, Täuschung, ein Truman-Show von A bis Z.

Ragle hat das unbestimmte Gefühl, dass etwas mit seiner Welt nicht stimmt. Um herauszufinden, ob dies überall so ist, versucht er, die Stadt zu verlassen. Der erste Versuch scheitert und er wird einer Gedächtnisunterdrückung unterzogen. Doch dann kontaktiert ihn eine Frau, die ihn einlädt, einen Vortrag über Zivilschutz zu halten. Und man zeigt ihm ein Modell jener Fabriken, die künftig unterirdisch arbeiten sollen. Das hilft Ragles Erinnerung auf die Sprünge: Das Modell zeigt nämlich seine eigene Aluminiumfabrik, die er mal besessen hat.

Nun ist der Fall klar: Er muss Old Town verlassen, koste es, was es wolle. Und diesmal klappt es. Was er draußen vor der Stadt im Jahr 1998 vorfindet, übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen…

Mein Eindruck

Dick schreibt durchweg verständlich und benutzt alltägliche Ausdrücke, ganz im Gegensatz zur Hard-Science-Fiction à la Benford und Niven, die mit technischem Jargon um sich wirft. Im Gegenteil: Old Town sieht aus wie der Anfang von „Pleasantville“, der Eisenhower-Traum vom idyllischen, wohl geordneten Vorortleben. Oder wie Trumans Kulissenstadt, die bis zum Wasser reicht, das er nicht überqueren kann, ohne Riesenängste durchzustehen.

Gesellschaftliche Relevanz

Doch während Trumans Leben als Show zum privaten Vergnügen jedes Einzelnen inszeniert ist, so betrifft Ragles Leben in Old Town die gesamte Nation: Er ist es, der die Flugbahnen der Mondraketen vorhersagt und somit den Schutz von Leib und Leben ermöglicht. Er ist ein Nationalheld, aber in beiden Welten, die er betritt. Alles andere an Old Town stellt sich als Kulisse heraus, aber mehr oder minder zu seinem psychischen Schutz: Es ist sein privater Rückzug ins Goldene Zeitalter der Sorglosigkeit. Er kann den Gedanken, für so viele Menschenleben verantwortlich zu sein und auf jeden Fall schuldig zu werden, nicht ertragen und hat sich seine eigene Rückzugspsychose herangezogen. Die Regierung musste nur noch die Kulissen und Statisten besorgen. Aber wird der Krieg mit dem Mond ewig dauern?

Die schrecklichen Fünfziger

Die Parallelen zum Kalten Krieg, den das Eisenhower-Amerika mit den „bösen Russen“ führte, sind unübersehbar. Dick diagnostiziert die kulturelle Erstarrung dieser Ära als Psychose des Rückzugs. Die war vielleicht hilfreich, um den Horror des Zweiten Weltkriegs zu verarbeiten, ist aber Mitte der 50er in eine Starrheit und Stagnation verfallen, aus der nur wenige Bewegungen herausführten, und auch das nur am äußersten Rand: Der Rock’n’Roll entstand in den Kneipen und Klubs der Schwarzen, wurde dann von dem Weißen Elvis Presley gesellschaftsfähig gemacht, vor allem durch Filme. Und die Stimmen der Beat-Lyriker der Westküste, insbesondere Allen Ginsberg mit dem ergreifenden Langgedicht „Howl“, wurde nur in Künstler- und akademischen Kreisen vernommen. Das alles änderte sich erst im Jahr 1960 mit Kennedy (wenn auch nicht unbedingt zum Besseren).

Prosaisch in jeder Hinsicht

Wie gesagt, ist „Zeit aus den Fugen“ sehr einfach zu lesen. Ich war aber erstaunt, dass wir kaum jemals Einblick in Ragle Gumms Gedankenwelt erhalten. Erst am Schluss tauchen Rückblenden auf. Daher wird Ragles Reaktion auf bestimmte Ereignisse mit Spannung erwartet. Zunächst kommen solche Ereignisse sehr unscheinbar und alltäglich daher: Der Autor gibt sich keinerlei Mühe, rätselhafte Hinweise fallen zu lassen oder Cliffhanger-Schlüsse zu verwenden. Daher heißt es: Augen auf und aufpassen, was als Nächstes passiert!

„Blade Runner“

Im Unterschied zu den Erzählungen, die mitunter von bitterer Ironie triefen, ist in „Zeit aus den Fugen“ keinerlei Verzweiflung, aber auch kaum Humor festzustellen. Es gibt keine Ausbrüche sinnloser Gewalt. Selbst wer heute angesichts der Kindlichkeit einer Frau wie Junie Black am liebsten durchdrehen möchte, dem wird nicht der Gefallen erwiesen, dass Junie zurechtgewiesen wird. Der Grund: Junie kann nichts dafür. Sie wurde auf dieses Verhalten per Tiefenhypnose und Medikamenten „programmiert“. Und wer würde einem Androiden einen Vorwurf über sein Verhalten machen? (Insofern verweist Junie auf die Androidin Rachel in „Blade Runner“ voraus.)

Unterm Strich

Ragle Gumms „echte“ Realität hat große Ähnlichkeit mit den realen Fünfzigern, der Eisenhower-Ära des Kalten Krieges und der Vorstadtidyllen. Die bedeutende Autorin Ursula K. Le Guin hält daher Dicks Buch für den „besten Roman über das Amerika der fünfziger Jahre, den ich je gelesen habe“. Dick als moderner Kafka des späten 20. Jahrhunderts? Mit jedem weiteren Jahr, das wir uns mit der Natur der „Matrix“ auseinandersetzen, erscheint uns Dicks Werk an Bedeutung zu wachsen.

Dieser leicht zu lesende Roman eignet sich als guter Einstieg in Dicks Science-Fiction-Welt. Manche Szenen fanden später vielseitige Verwendung: „Pleasantville“, „Truman Show“, das Ende der Autobahn in „The 13th Floor“, die endlose virtuelle Autobahn in Michael Marraks „Lord Gamma“ usw. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Michael Matzer ©2003ff
www.heyne.de