Isaac Asimov/Greenberg/Olander (Hrsg.) – Sternenpost. 2. Zustellung


Entwürfe für die nächste Stufe des Menschen

Isaac Asimov und seine Mitarbeiter stellen Sternenbriefe und kosmische Tagebücher vor. Dies ist die zweite Zustellung der Sternenpost. Die Briefeschreiber und Tagebuchverfasser sind diesmal Howard Fast, Daniel Keyes und George R.R. Martin. Die Beiträge:

1) „Gefangen“ von Howard Fast: Die Story von der Heranzüchtung einer Gruppe von Supermenschen;
2) „Blumen for Algernon“ von Keyes: Die Story von dem geistig minderbemittelten Jungen, der vorübergehend höchste geistige Fähigkeiten erlangt – und sie dann allmählich wieder verliert;
3) „Die zweite Stufe der Einsamkeit“ von Martin: Das Tagebuch eines sehr einsamen Mannes, der am Rande des Sonnensystems arbeitet – und dennoch die Hoffnung nicht verliert.

Die Herausgeber

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte. Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien.

Martin H. Greenberg und Joseph Olander haben zahlreiche Anthologien veröffentlicht.

Die Erzählungen

1) Howard Fast: Gefangen (The Trap, 1975)

Im Herbst 1945 erholt sich der ehemalige US-amerikanische Soldat Cpt. Harry Felton im schönen englischen Örtchen Bath – und ist damit alles andere als zufrieden. Nach einigen Tagen des Nichtstuns fällt ihm quasi die Decke auf den Kopf, doch ein Gespräch mit seinem Psychiater hilft nur, ein wenig Dampf abzulassen. In einem langen Brief klagt er seiner verheirateten Schwester Jean Arbalaid sein Leid. Sie bietet ihm auf völlig freiwilliger Basis einen Auftrag an, der ihn quer über den Globus führen würde. Wow! Harry greift sofort nach diesem Strohhalm, aber worum es Jean und ihrem Mann? Beide sind Wissenschaftler mit besten Beziehungen. Im Handumdrehen hat Harry ein Flugticket nach Indien.

Die Suche

Seine Aufgabe besteht offenbar darin, sogenannte „Wolfskinder“ in Augenschein zu nehmen und dann sein ganz persönliches Urteil zu fällen. Schon beim ersten Mädchen, das im indischen Dschungel unter Wölfen aufgewachsen und kein Wort spricht, fragt sich Harry zusammen mit den indischen Experten, ob dieses Wolfskind ein Mensch oder ein Wolf ist. Es ist offensichtlich weder das eine noch das andere, meint er. Aber was ist es dann? In Gefangenschaft verkümmert das Mädchen und stirbt.

Die Suche 2

Der nächste Auftrag führt Harry nach Südafrika, das unter Herrschaft der britischen Kolonialherren steht. Ein Kind des Bantustammes wuchs elf Jahre lang unter Pavianen auf und verhält sich dementsprechend. Immerhin duldet der Junge Kleidung, im Unterschied zu dem Mädchen in Assam. Diesmal will es Harry aber genau wissen: Was soll diese Suche? Mit Diplomatenpost schickt Jean ihm einen Brief. Sie arbeite für die US-Regierung an einem geheimen Forschungsprojekt, das auf der Theorie des vor den Nazis geflohenen Professors Goldbaum beruhe, derzufolge geniale Kinder unter uns „Normalos“ leben, sich aber dem hiesigen IQ anpassen. Diese Superintelligenz wäre im Rüstungswettlauf mit den Russen, der bereits begonnen habe, für die US-Armee pures Gold wert. Damit nicht genug, soll Harry zusammen mit Goldbaum 40 solcher Wunderkinder aussuchen und an einen gesicherten Ort in Nordkalifornien bringen, wo man sie erziehen und ausbilden will. Notfalls soll er sie sogar gegen bares Geld kaufen. Das Limit liegt bei einer Million US-Dollar…

Das Reservat

Harry spürt Professor Goldbaum in London auf. Der ist Spezialist für Kinderpsychologie. Ein Glück, dass er begeistert zusagt, an dem Experiment teilzunehmen, seine Zelte abzubrechen und in die Enklave nach Nordkalifornien umzusiedeln. Da die Enklave eine abgeschlossene und bewachte Umgebung für die Experimentteilnehmer und ihre freiwilligen Betreuer – möglichst Ehepaare – sein soll, ist die Anwesenheit von Harry nicht erforderlich, ganz im Gegenteil: Er soll sich sein eigenes Leben aufbauen.

22 Jahre später

Im Jahr 1965 wird Harry Fenton vom amerikanischen Verteidigungsminister eingeladen. Eine solche „Einladung“ ist als Befehl zu verstehen. Der Minister wollte das Experiment beenden, nachdem es immerhin 114 Mio. Dollar verschlungen hat, ohne Ergebnisse vorzuweisen. Aber als seine Soldaten in die Enklave eindrangen, fanden sie – nichts. Nun erhofft sich der erheblich angesäuerte Minister Aufschluss von Harry, dessen Schwester ja das Experiment leitet. Fenton kann tatsächlich einen umfangreichen Brief vorweisen, den er vor drei Jahren von Jean erhielt.

Demnach ist es ihr und ihren Kollegen gelungen, superintelligente Erwachsene heranzuziehen, deren Fähigkeiten alles Dagewesene übersteigen. Sie sind Telepathen und haben eine Schwarmintelligenz entwickelt. Sie laufen nackt herum und glauben weder an den Himmel noch an die Hölle. Wäre das bekannt gewesen, hätte man jean vor drei Jahren bestimmt keine Verlängerung um drei Jahre gewährt. Aber jetzt: „Wir müssen sie töten, alle, das ist Ihnen doch klar, Fenton?“

Mein Eindruck

Es gibt weiß Gott zahlreiche SF-Werke zum Thema Superintelligenz, aber nur wenige setzen die Prämisse, dass die superintelligenten Kinder bereits unter uns weilen und man sie nur entsprechend geschützt aufziehen und ausbilden müsse, um die Superintelligenz zu wecken. Da wirft kein gutes Licht auf die verbreitete westliche Zivilisation. Diese wird als Unterdrückungsmaschinerie dargestellt, die in den Kindern nur Schuldgefühle, Introversion und geistige Verkümmerung zulässt. Ließe man hingegen nur Liebe, Atheismus, Solidarität usw. walten, dann käme ein Schwarmbewusstsein zustande – zumindest vor der Pubertät. Den Erwachsenen sei diese Öffnung ihres Potentials bereits verwehrt.

Der Grund, warum die US-Armee niemanden in der Enklave in Nordkalifornien vorfindet, ist ganz simpel: eine Zeitverschiebung um eine zehntausendstel Sekunde. Wer nicht in der exakt gleichen Zeit lebt, ist jedoch für den Rest der Welt unsichtbar. Das Thema Zeit spielt für den Homo superior eine wichtige Rolle. Es werden einige Theorien angedeutet, aber da Jean sie mangels Ausbildung nicht versteht, kann sie sie auch nicht in ihrem Brief darlegen. Schade. Ansonsten muss man sich am Schluss fragen, was aus dem Homo superior geworden ist. Bestimmt hat er sich mitten unter uns versteckt…

Die Erzählung ist geradlinig in Briefen erzählt, bis auf den Bruch am Beginn des letzten Viertels, in dem Fenton in der dritten Person präsentiert wird. Man kann dem Text eine gewisse Spannung nicht absprechen, aber von Dramatik durch Konflikte fehlt jede Spur. Und so zieht sich die Story etwas zäh hin, nur um in einer etwas naiven Lobeshymne Jeans auf den Homo superior zu enden – und in dem Todesurteil. Dieser Konflikt schließlich weckt den Leser auf. Aber wo ist die Fortsetzung?

2) Daniel Keyes: Blumen für Algernon (Flowers for Algernon, 1959)

Durch eine Kombination aus Hormonbehandlung und Neurochirurgie gewinnt der geistig behinderte Charly Gordon eine Intelligenz, die ihn weit über die geistigen Fähigkeiten seiner Mitmenschen hinaus katapultiert. Auf sein bisheriges Leben zurückblickend, erkennt er die Demütigungen, die er von anderen, insbesondere seiner Mutter erfahren musste. Seine ehemaligen Freunde entpuppen sich als Lügner und Betrüger, die ihre Späße auf seine Kosten trieben.

Obwohl er die an dem Experiment beteiligten Wissenschaftler geistig überflügelt, weigern sich letztere ihn als Mensch wahrzunehmen. Für sie bleibt Charly nach wie vor ein Versuchsobjekt, wie sein Pendant, die Testmaus Algernon. Bedroht durch Schizophrenie durch des nach wie vor in ihm schlummernden Alter Egos, erkennt Charly, das seine Uhr ablaufen wird. Algernon zeigt zunehmend Verhaltensanomalien und Intelligenzstörungen. Charly versucht das Unausweichliche aufzuhalten, den jähen Absturz seines geistigen Höhenfluges und wird zum Forscher in eigener Sache.

Mein Eindruck

Keyes greift hier das Thema von Stevensons Jekyll und Hyde in einer ganz faszinierenden, umgekehrten Art neu auf. Mit der Figur des Charly Gordon gelingt ihm ein packendes, eindringliches Bild, eines geistig behinderten Menschen und seiner Hilflosigkeit, seiner Abhängigkeit vom Wohlwollen seiner Mitmenschen, seinem Aufbruch in die Riege der Intelligenten, seinen Ausbruch in die geistige Elite und die sich daraus entwickelnden Konflikte.

Die Entwicklung vom Volltrottel zum Genie wirkt glaubhaft und wird auch sprachlich durch die gewählte Tagebuchform realistisch nachvollzogen. So strotzen z.B. die von Charly anfangs verfassten „Forschritsberiche“ von Fehlern und entwickeln sich zu komplexen Gedankengängen, die man teilweise zweimal lesen muss, um sie zu verstehen. „Flowers for Algernon“, so der Originaltitel, gehört sicherlich zu den zehn besten Science Fiction Büchern überhaupt.

Die Botschaft des Autors ist überdeutlich: Der Mensch zeichnet sich nicht allein durch Intelligenz aus. Und Philip K. Dick würde ihm beipflichten und ergänzen: Was uns von den Denkmaschinen unterscheidet, ist das menschliche Mitgefühl („kindness“).

3) George R. R. Martin: Die zweite Stufe der Einsamkeit (The Second Kind of Loneliness, 1972)

Unser Tagebuchschreiber arbeitet seit vier Jahren auf einer kleinen Raumstation 6 Mio. Kilometer jenseits der Pluto-Bahn: Seine Station heißt Cerberus, nach dem Torwächter der antiken Sage. Er wartet dringend auf seine Ablösung, die aber erst in drei Monaten eintreffen dürfte. Bis dahin geht er seinem Dienst nach. Es ist ein ziemlich ungewöhnlicher Service: Mit Hilfe einer energiereichen Vorrichtung öffnet er ein Wurmloch, durch das große Raumschiffe über sehr große Distanzen reisen können.

Der dabei entstehende Farbenzauber – und mögliche unsichtbare Begleiterscheinungen – hat es ihm so angetan, dass er zunehmend froh ist, dass er diesen Vorgang immer wieder auslösen darf, denn so gelingt es ihm, die Alpträume, die er von seinem Erdenleben und vor allem von seiner gescheiterten Liebe hat, zu vertreiben. Er lebt in der 2. Stufe der Einsamkeit: jener, in der das eigene geheime Ich in steter Angst lebt, entdeckt und erneut enttäuscht zu werden.

Merkwürdig – am vorbestimmten Ankunftstag seiner Ablösung trifft kein Raumschiff ein. Etwas muss schiefgelaufen sein. Dann entdeckt unser Mann auf Cerberus, dass sein Kalender spinnt. Irgendetwas scheint auch bei ihm selbst überhaupt nicht zu stimmen. Könnte es sein, dass er oder vielmehr sein Unterbewusstsein dafür gesorgt hat, dass er seine Ablösung durch ein Wurmloch zerstört hat?

Mein Eindruck

Obwohl das Szenario vordergründig aus der technisch-naturwissenschaftlichen Science Fiction kommt (und folglich den Chefredakteur von ANALOG in Ekstase versetzte), so nimmt das zunehmend sichtbarer werdende psychologische Problem unseres Cerberus-Wächters immer mehr Raum ein und an Bedeutung zu. Auf perfide Weise verhindert der Autor, dass der Leser das verblüffende Ende kommen sieht. Das hat schon Qualitäten von Philip K. Dick. Außerdem ist die Story spannend und flott erzählt.

Die Übersetzung

In diesem Band habe ich nur „Gefangen“ gelesen, denn die beiden anderen Texte kannte ich schon. Was ich in „Gefangen“ an Druckfehlern vorfand, lässt mich nichts Gutes für den Rest des Buches vermuten.

S. 17: „einflussr[e]ich“: Das E fehlt.

S. 67: „Aber wie wurden ebenso daran gehindert (…), Menschen zu werden.“ Statt „wie“ sollte es „sie“ heißen.

S. 82: „Ich habe Sie seit der Gründung des Reservats nur ein einziges Mal gesehen.“ Da die Rede von Jean Arbalaid ist, bezieht sich „Sie“ auf Jean, sollte also klein geschrieben werden.

S. 102: „die Gasöfen“ in den Konzentrationslagern. Es gab aber keine Gasöfen, sondern Gas-KAMMERN und Krematorien. Dies könnte ein Sachfehler des Autors sein. Selbst noch 1975, also 30 Jahre nach Kriegsende, gab es über die Einrichtung und Funktionsweise der Vernichtungslager wie etwa Auschwitz-Birkenau nur begrenzte Informationen.

S. 114: „Das Wissen, daß sie sich erarbeiten“. Hier wird keine Konsequenz ausgedrückt, sondern ein Bezug. Daher ist „daß“ eigentlich ein Relativpronomen und sollte „das“ geschrieben werden.

Unterm Strich

Dies ist die 2. Zustellung von „Sternenpost“, einer voluminösen Anthologie mit Beiträgen aus Briefen, Tage- und Logbüchern, die vom Moewig-Verlag auf drei Bände verteilt wurde. Jeder der drei Bände sollte einzeln beurteilt werden. Während die beiden Texte von George „Railroad“ Martin und Daniel Keyes inzwischen Klassiker geworden sind, war mir der Kurzroman von Howard Fast bis dato völlig verborgen geblieben. Er taucht in keiner anderen der zahlreichen Sammelbände, die ich gelesen und vorgestellt habe, auf.

Mit gutem Grund, wie mir scheint: Die Aussage hat nämlich ein „G’schmäckle“: Hier riecht es ein wenig nach Rassismus und der Lehre genetischer Überlegenheit. Das wäre aber ein Trugschluss, denn die Kandidaten von Jean Arbalaids Experiment kommen aus aller Herren Länder und sind im Gegenteil sogar stark benachteiligt, wie Harry Fenton ja selbst bezeugen kann: Wolfskinder usw., die in der „normalen“ menschlichen Gesellschaft umkommen würden. Elitär und arrogant wirkt auch die Abschottung der Enklave für 22 Jahre – was kann man da schon erwarten? Ob der Homo superior den Homo sapiens noch überleben lassen wird, ist offen. Umgekehrt wird die Frage beantwortet: Der Homo superior wird nicht geduldet. Eine weitaus packendere Behandlung dieses Themas ist Bruce Holmes mit seinem Roman „Die letzte Generation“ (1988, dt. bei Heyne) gelungen (siehe meine Rezension).

Man sieht: So unterschiedlich die drei Texte auch gestaltet sein mögen, so einfallsreich und interessant ist ihr jeweiliger Entwurf der Zukunft des Menschen, sei es als Einzelner, sei es als Kollektiv. Unter den drei Entwürfen weiß „Blumen für Algernon“ auf emotionalste Weise zu überzeugen, und so ist es kein Wunder, dass aus dem Roman ein Film namens „Charly“ gemacht wurde, in dem Cliff Robertson („Spider-Man“, „Die drei Tage des Condor“) auftrat.

Taschenbuch: 187 Seiten
Originaltitel: Space Mail, 1980 (Teil 2)
Aus dem Englischen von Eva Malsch
ISBN-13: 9783811867345

www.vpm.de

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