Chelsea Quinn Yarbro – Das Ungeheuer vom Sumpf. 8 neue Stories von Spitzenautoren der Gegenwart

Classic SF aus den 1970er Jahren

Die US-amerikanische SF-Szene hat eine Tradition von jährlichen Bänden an Originalveröffentlichungen, so etwa von Damon Knight, Robert Silverberg und Terry Carr. Die von Roy Torgerson halbjährlich veröffentlichten „Chysalis“-Bände bringen jeweils Erstveröffentlichungen aus dem zeitgenössischen SF- und Fantasy-Umfeld. Dieser Chrysalis-Band aus dem Jahr 1977 enthält Erzählungen von Monteleone, Sturgeon, Harlan Ellison und fünf weiteren Newcomern. Seltsamerweise fehlt das Vorwort des Herausgebers.

Der Herausgeber

Roy Torgeson gab die halbjährliche veröffentlichten Anthologien mit neuen Originalveröffentlichungen heraus.

Der Moewig-Verlag ließ meines Wissens sechs Chrysalis-Bände aus den Jahren 1979 und 1980 übersetzen:

1) Nick Adams letzter Aufstieg
2) Die verdorbene Frau
3) Am Vorabend des St. Poleander-Tages
4) Die große Weihe
5) Versuch dich zu erinnern
6) Das Ungeheuer vom Sumpf

Die Erzählungen

1) Richard A. Lupoff: Die Entdeckung der Ghoorischen Zone – 15. März 2337 (The Discovery of the Ghooric Zone, March 15, 2337; 1977)

Dies ist pure Science Fiction, aber mit dem Lovecraft-Touch. – Exakt 400 Jahre nach HPLs Tod, also am 15. März 2337, stößt eine Expedition von drei Cyborgs jenseits der Plutobahn auf den dunkelrot pulsierenden Riesenplaneten Yuggoth, von dem HPL geschrieben hatte. Einer der Cyborg, Sri Gomati, kennt ihren HPL sehr gut und befindet sich fast in Trance vor Begeisterung.

Auf ihr Anraten hin landet man auf dem Mond Thog, und siehe da: In alten Ruinen zeigt sich ein grünlicher Lichtschein. Diesem folgend dringt das sonderbare Trio in das hohle Innere ein, wo sich ein öliger Ozean ausbreitet, an dessen Ufern sich Shoggothen-Monster räkeln. Und in einer Krypta findet sich der Leichnam eines Mannes…

Mein Eindruck

Parallel zu dieser Handlung findet eine dokumentarische Rückwärtsbetrachtung statt, ausgehend vom Jahr 2337 über 2137 und 2037 bis zum Jahr 1937, HPLs Todesjahr. Es handelt sich um nichts Geringeres als eine Future History! Beachtlich für eine solche Erzählung. Diese schön ironische Story ist eine Ausnahmeerscheinung, in jeder Hinsicht.

Das Buch schließt mit bibliografischen Angaben und einer Kuriosität: einem Vaterunser, das an Cthulhu gerichtet ist: „Cthulhu noster qui es in maribus, sanctificetur nomen tuum; adveniat regnum tuum; fiat voluntas tua sicut in R’lyeh et in Y’ha-nthlei.“ Verfasst von Olaus Wormius, dem Übersetzer des verbotenen Buches „Necronomicon“, dem „Buch der Namen der Toten“.

2) Spider Robinson: Die großartige Verschwörung (The Magnificent Conspiracy)

Der Mann, der sich „Bob Campbell“ nennt, wird vom Mann, der sich „Hakluyt“ nennt, beauftragt, einen Gebrauchtwagenhändler aufzusuchen und seinen Auftrag zu erledigen. Denn an diesem Laden ist sicher etwas nicht ganz koscher. Aber „Bob Campbell“ hat nicht damit gerechnet, dass ihn ausgerechnet hier seine Vergangenheit als Vietnam-Kämpfer einholen würde.

Der Verkäufer Larsen schockiert ihn, indem er ihm einen Sportwagen zu einem Spottpreis verkaufen UND den jetzigen Wagen fast für lau reparieren lassen will. Das verstößt ja gegen sämtliche Gesetze des Kapitalismus. Larsen verweist ihn an den Inhaber dieses merkwürdigen Geschäfts. Mr. Cardwell sei in der Werkstatt. Das ist Cardwell in der Tat, und er trägt einen Overall und hat Dreck unter den Fingernägeln. Aber das ist auch schon alles, was stimmt. Der Mittfünfziger wirkt selbstsicher und mit sich selbst zufrieden.

Er bestätigt Larsens Angaben und setzt noch einen drauf: Er sei jener Milliardenerbe namens Cardwell, von dem die Welt weiß, und er habe ein Problem: Es sei wirklich nicht leicht, so viel Geld unauffällig unters Volk zu bringen. Daher die lachhaften Preise. Entweder wird man überfallen, begeht Selbstmord oder wird von der Mafia besucht. Die schickt dann einen Auftragsmörder wie „Bob Campbell“, um die Konkurrenz zu beseitigen und die Preise hoch zu halten.

Nachdem „Bob Campbell“ sich Cardwells Lebensgeschichte und Mission angehört hat, läuft er zu ihm über…

Mein Eindruck

Fast aus jeder Zeile kann man herauslesen, dass hier ein eingefleischter Jünger des seligen Robert A. Heinlein schreibt. Der Erzähler ist altklug, meinungsreich und – vorgeblich – ein Kapitalist. Dass er auch ein Attentäter ist, erfahren wir erst sehr spät. Aber die Hauptfigur ist eigentlich Cardwell. Den stelle ich mir als eine Art Kris Kristoffersen mit Heiligenschein vor. Auf fesselnde Weise erzählt er von seinem Damaskus-Erlebnis, in dem er von einem Dauerkranken namens John Smiley (nomen est omen) vom Saulus zum Paulus bekehrt wurde. Aus einem Milliarden schweren Unternehmer ohne Familie wurde ein Menschenfreund – unter der Tarnung als Gebrauchtwagenhändler. Wie „Bob Campbell“ selbst bekehrt werden kann, ist ebenfalls anrührend beschrieben.

OK, die Story entstand wohl etwa Mitte der siebziger Jahre und die Soldaten, die à la John Rambo aus dem verlorenen Vietnamkrieg zurückkehrten, müssen vielfach mit PTSD traumatisiert gewesen sein. Soweit stimmt das für „Bob Campbell“, der seine Spezialkenntnisse im Töten wiederverwendet, während sein Trauma ungelöst geblieben ist – bis jetzt. Das ein solcher Altruist wie Cardwell ausgerechnet ihm begegnet, um ihm einen Weg zu Erlösung zu bieten, ist hingegen recht unwahrscheinlich. Das ist ungefähr so, als wäre Howard Hughes aus dem Grab gestiegen und hätte „Halleluja!“ geschrien. Norman Spinrad hat in „Carcinoma Angels“ (in ISBN 3-442-25029-3) eine weitaus überzeugendere Variante eines Wohltäters der Menschheit porträtiert.

3) Chelsea Quinn Yarbro: Das Ungeheuer vom Sumpf (Allies, 1977)

Die Erde hat zahlreiche Außenposten auf den Pionierwelten eingerichtet, um den Weg für die Ausbreitung der Menschheit zu ebnen. Das Ministerium für außergewöhnliche Energieformen (MAE) sucht mithilfe von kleinen Schwadronen nach Energie, um diese Expansion vorantreiben zu können. Auf Halversons Welt ist es jedoch ziemlich feucht, und Sümpfe und Marschen sind die Regel. Diese wiederum dünsten ein unbekanntes uns sichtbares Gas aus. Das giftige Zeug hat vor sieben Jahren Christ Tuttles Freundin Gabe getötet. Seitdem ist Tuttle ziemlich empfindlich, was Gefahren aus dem Sumpf Scranton’s Marsh angeht. Hier muss er Wache halten. Denn zwei andere Wächter sind hier bereits verschwunden. Er will keinesfalls der nächste sein.

Aber etwas ist da im Sumpf, eine unsichtbare, spürbare Präsenz. Sie lockt ihn an, um ihn dazu zu verführen, ins seichte, dunkle, stille Wasser zu gehen… Jes Northrup weckt ihn aus seiner Trance. Stets die Zynikerin, zieht sie ihn auf, auf Wache eingepennt zu sein. Aber als drei weitere Wachen verschwinden oder im Sumpf als Leichen gefunden werden, sorgt sie mit ihren Sticheleien dafür, dass es eine Untersuchung seitens des MAE-Ministeriums gibt. Es ist wirklich nicht einfach, aber als sie einen Zusammenhang zwischen dem ALTER der Verstorbenen und dem unterstellten Streben des Ministeriums, teure Rentenansprüche zu vermeiden, indem es den Soldaten vor dem 30. Lebensjahr kündigt, hat sie Tuttle auf ihrer Seite. Die Todesfälle müssten dem MAE willkommen sein, also warum nicht einen unsichtbaren Mörder anheuern? Als Jes für diese Rolle ausgerechnet Tuttle auserwählt, findet er das überhaupt nicht witzig.

In der folgenden Nacht nimmt Tuttle geistigen Kontakt mit dem Wesen im Sumpf auf. Nicht es selbst sei der Jäger, sondern die Eindringlinge, behauptet es. Es sei mit einem von ihnen verbündet und habe daher in dieser Sache Gewissheit. Bestürzt fragt sich Tuttle, wer dieser Verräter sein könnte. Dann fällt es ihm ein. Es ist so offensichtlich…

Mein Eindruck

Natürlich musste ich sofort an die Beowulf-Legende denken, die die meisten heutigen Leser aus „Der 13. Krieger“ kennen. Ich erwartete das titelgebende Ungeheuer als eine Form von Grendel, den Ungeheuer-Junior in der alten Geschichte. Doch erstens ist dieses Ungeheuer völlig unsichtbar und telepathisch, zum anderen hat es einen menschlichen Verbündeten. Dessen Namen darf hier nicht verraten werden, was eine nähere Analyse erschwert. Die Story ist nämlich weniger mythisch motiviert, als knallhart wirtschaftlich.

Ein großer Teil der Handlung befasst sich allerdings mit den schlechten beruflichen Aussichten, die Chris Tuttle und seine Kollegen nach ihrem Militärdienst zu gewärtigen haben. Mit 30 Jahren bekämen sie einen Rentenanspruch vom MAE, doch sie werden regelmäßig sechs Monate zuvor gekündigt. Sie fühlen sich zu Recht gelinkt und abgezockt. Doch eine Frau namens Jes Northrup lässt sich das nicht bieten. Sie ist in der gleichen Lage wie Chris Tuttle, hat aber einen Plan entwickelt, wie sie das MAE überlisten kann. Und darin spielt das Ungeheuer vom Sumpf eine wichtige Rolle.

4) Thomas F. Monteleone: Der Curandeiro (The Curandeiro, 1976)

In Brasiliens Bundesstaat Minas Gerais praktiziert ein gewöhnlicher Landarbeiter auf höchst ungewöhnliche Weise als Chirurg. Manche nennen ihn einen Quacksalber oder gar Kurpfuscher, weil er seine Patienten weder betäubt, wenn er sie operiert, noch desinfiziert er seine Instrumente. Der wahre Grund für die Kritik ist allerdings, dass er kein Honorar nimmt. Das verdirbt die Preise und drängt andere Chirurgen aus dem Geschäft. Sogar deutsche Journalisten wie Herr Bergmann wohnen solchen Operationen bei, können sich aber keinen Reim darauf machen. Eine Krebs-Operation ohne Anästhesie – wie soll das gehen? Und doch haben sie es gesehen.

Der Deutsche will Musante interviewen, doch der lässt ihn abblitzen. Musante, der als Amerikaner auftritt, hat andere, wichtigere Dinge zu tun. Er arbeitet für den Geheimdienst der humanoiden Aliens, deren Schiff sich hinter dem Asteroiden Ikarus versteckt. Sein Funkgerät ist Extraklasse. Seine Mission lautet, einen flüchtigen Verbrecher namens B’jorg gefangenzunehmen und den Behörden zu übergeben. B’jorg ist ein telepathischer Telekinet und missachtet das Gebot, die Schwachen und kranken auszumerzen oder wenigstens ihrem Schicksal zu überlassen. Musante hält es für möglich, dass B’jorg Dario fernsteuert.

Um dies herauszufinden, interviewt Musante Dario im Kreise seiner Familie. Dario behauptet, den Geist eines französischen Arztes namens René Moreau zu empfangen, versteht aber dessen Sprache nicht einmal. Um den Fall zu klären, bittet Musante, Darios Operationen filmen zu dürfen. Dario willigt ein. Doch die Kamera ist ein Detektor, und als B’jorg Dario bei einer Operation fernsteuert, kann Musante ihn aufspüren: Er hat sich in den Bergen versteckt.

Auf der Fahrt dorthin rettet Musante einem kleinen Mädchen, dessen Vater mit seinem Auto verunglückt, das Leben, indem er es zu Dario bringt. Warum hat er das getan? Es ist ein klarer Verstoß gegen die heimatlichen Gesetze. Als er in den Bergen anlangt und B’jorgs Raumschiff entdeckt, muss er feststellen, dass ihm der deutsche Journalist unbemerkt gefolgt ist. Und weil B’jorg Wachroboter aufgestellt hat, die ihn schützen, verläuft die beabsichtigte Festnahme ganz anders als geplant…

Mein Eindruck

Musante muss sich zwischen zwei Wertesystemen entscheiden, nämlich dem seiner Heimat und dem der Erde, das von B’jorg geteilt wird. Weil B’jorg ein Verbrecher ist, beginge Musante ebenfalls ein doppeltes Verbrechen, wenn er ihn a) verschonen und b) das Wertesystem der Erde übernehmen würde. Es ist hilfreich, dass B’jorg sich in einer relativ hilflosen Lage befindet: Sein Körper ist seit der Bruchlandung in den Bergen gelähmt, doch sein telepathischer Geist ist stark wie eh und je. Seinen Körper zu töten, wäre also ziemlich ehrlos. Das sieht aber Musantes Vorgesetzter Halgian etwas anders…

Der dreiseitige Konflikt (der Deutsche spielt keine Rolle) ist geschickt eingefädelt und die Lösung spannend ausgeführt. Die Beschreibung der Umgebung ist stimmig, aber die der Landbevölkerung heute, rund 45 Jahre später, wohl nicht mehr vertretbar. Jedenfalls steht zu hoffen, dass die Leute auf dem Land bessere Doktoren haben als einen Typen, der Lebertumore ohne Betäubung herausschneidet.

5) Theodore Sturgeon: Harrys Notizbuch (Harry’s Note)

Harry lebt in Woodstock, New York, als er Prof. Timothy Leary kennenlernt. Der LSD-Guru erklärt ihm, dass es Mutationen gebe, die neutral wirkten, als weder zum Guten noch zum Schlechten. Es könnte daher möglich sein, dass das menschliche Gehirn über Kapazitäten verfüge, die noch gar nicht entdeckt worden seien. Dies könne man aber mit sogenannten psychedelischen Drogen zugänglich machen. So weit, so gut.

Dann lernt Harry, der ein ansonsten einfallsloser Typ ist, der traurige Geschichten liebt, den Marsmenschen kennen. Für keinen außer ihm ist der Marsianer sichtbar. Das findet seine Freundin Susan zum Fürchten und zieht aus. Ein Mann, der ständig zuhause Selbstgespräche führt, kann nicht der Vater ihres – gewünschten – Kindes sein. Der Marsianer bringt Harry aber mit seinen Fragen auf merkwürdige Ideen, so etwa die, dass die Zeit gar nicht linear vergehe. Man könne sie vielmehr komplett betrachten, als stünde man auf einem Berg und blicken auf ein Tal hinab. Dann gäbe es auch keine lästigen Fragen nach der Zukunft oder Identität oder Allgegenwart. Alles irrelevant.

Das wiederum bringt Harry, der jede Angst verloren hat, auf eine brillante Idee, was den kategorischen Imperativ angeht. „Behandle andere Menschen so, wie du behandelt werden willst.“ Ganz einfach. Aber schwierig umzusetzen. „Man nehme nur mal die Handelsbilanz“, meint Harry. Nur eine Handelsbilanz, die mehr Export als Import verzeichnet wird als „ausgeglichen“ bezeichnet. Komisch, nicht? Aber kann man diese Gabe des Mitgefühls und der Einfühlsamkeit noch lehren, will Harry wissen. Die Antwort des Marsmenschen macht ihn traurig. Und deshalb schreibt er sie nieder.

Mein Eindruck

Sturgeon ist einer der fünf Titanen des Goldenen Zeitalters der SF, denn er schrieb schon 1939 für John W. Campbell, zusammen mit Heinlein, Asimov, van Vogt und später auch Arthur C. Clarke. Aufgrund dieser Position bildet er in dieser Auswahl so etwas wie einen Ausreißer. Die meisten anderen AutorInnen sind Newcomer. Deshalb verdient seine Story ein besonderes Augenmerk.

Sturgeon gibt sich selbst als Herausgeber von Harrys Notizbuch aus, das ihm Susan, Harrys Freundin, überbracht habe. Und Harry wiederum berichtet von Timothy Leary und seinem Marsmenschen. Das Thema ist immer gleich: Können die Menschen die Fähigkeit zu Mitgefühl und Einfühlsamkeit wiederentdecken oder wenigstens erlernen? Die Frage wird des langen und breiten erörtert, doch schließlich lautet die Antwort des unsichtbaren Marsmenschen „nein“.

Die Begründung ist interessant. Wir seien wie Wolfskinder, die wild aufwuchsen. Denen man auch nicht mehr eine neue Sprache beibringen. Und die Fähigkeit dazu, das Fenster der Gelegenheit, diese Gabe zu erwerben, sei „vor fast 3000 Jahren geschlossen worden.“ Die Frage bleibt nun, was damals passiert sein könnte, um die Weiterentwicklung der Menschheit zu verhindern.

6) Elizabeth A. Lynn: Mit dem geistigen Auge (Mindseye)

Philippa gelangt an Bord eines Raumschiffs durch den Hyperraum zu einer ungewöhnlichen Welt: M-427 ist deutlich in je eine dunkle und eine helle Hälfte geteilt. Der Grund dafür ist die extrem langsame Rotation: Ein Tag hier dauert etwa tausend Jahre, ein Jahr neun Erdjahre. Infolgedessen liegen die Temperaturen auf der dunklen Hälfte etwas unter dem Gefrierpunkt, während es auf der hellen Hälfte rund 76° C heiß ist.

Entgegen den Warnungen ihres Piloten Xavier beschließt Philippa, einen ersten Erkundungsgang zu unternehmen. Sie stößt auf ein Wesen, das sich als nackter Mann präsentiert. Er ist wie Philippa ein Telepath: Ein Blick aus seinen schwarzen Augen, und ihr Geist stürzt in Bewusstlosigkeit. Als sie erwacht, entschuldigt er sich. Er ist der einzige seiner Rasse auf dieser Welt, die anderen sind auf jeweils eigenen Welten stationiert. Sein Name sei Kalter und natürlich entnimmt er die Sprache ihrem Geist. Dann ruft sie über Interkom nach Xavier.

Etwas genesen, stellen sich bei ihr die Träume ein, und eine Sehnsucht, den Fremden wiederzusehen. Sie folgt einem Exkursionsteam in den dunklen Teil der Welt, bis sie wieder auf Kalter stößt. Er führt sie in seine Höhle, wo Statuen aus Eis stehen. Das erinnert sie an das Märchen von der Eiskönigin, die kein Herz hat, aber nach der alle Männer streben – nur um auf ihrem Eisberg zugrundezugehen. Wird es nun ihr genauso ergehen?

Mein Eindruck

Die dunkle und helle Hälfte der Welt M-427 entsprechen den Bewusstseinszuständen des Menschen, seinen „Mustern“, wie Philippa sagt. Die helle Hälfte beherbergt den Verstand, die dunkle die Träume, Triebe und Sehnsüchte, aber auch die Phantasien, wie etwa die von der Eiskönigin. Auf diese ist Philippa nun gestoßen, in Gestalt von Kalter. Dass dieser als nackter Mann auftritt, dürfte auf ihre sexuelle Unerfülltheit schließen lassen – aber Xavier hat alles im Kopf, nur keine Liebe.

Die Autorin bietet aber neben dieser relativ Freudianischen Erklärung eine Alternative an: Vielleicht ist Philippa, die Telepathin, durch die Auswirkungen der Reise durch den Hyperraum bzw. den Rücksturz in den Normalraum geschädigt. Dies ist jetzt schon die vierte Welt, die sie besuchen, und der ständige Wechsel führt zum Phänomen des „Hype“, der den Realitätsverlust zur Folge hat. Philippa, so viel sei verraten, erleidet den ultimativen Realitätsverlust, ein Wachkoma.

7) Charles L. Grant: Das Dunkel der Legenden, das Licht der Lügen (The Dark of Legends, the Light of Lies)

Simon ist Lektor von Romanen in Neils Verlag. Obwohl Neil völlig zufrieden damit wäre, wenn die Manuskripte so kurz blieben, wie sie von den Autoren hereinkommen, so ist Simon doch ganz anderer Ansicht. Ihm können die Romane nie lang genug sein, und das führt zu Verzögerungen, die Neil an den Rand des Wahnsinns treiben – oder zu Simons Rauswurf. Wer will schon so lange Riemen auf seinem Computer oder Lesegerät durchackern müssen, lautet sein impliziter Vorwurf. Doch Simon ist ein Fan der alten, ach Gott, GEDRUCKTEN Bücher, die er in Kindheit und Jugend als Seelentröster eines Waisenknaben (er selbst) verschlungen hat. Es verwundert daher nicht, dass er selbst schon drei Bücher geschrieben, aber nie veröffentlicht hat. Wie einzigartig er dadurch ist, ahnt er noch nicht.

Alles geht halbwegs gut, bis ihm einer der Autoren, ein gewisser Jonathan Dare, auf dem Heimweg auflauert und ihm unverhohlen droht. Die Autoren müssten schließlich von der Schreiberei leben, Menschenskind, und Simon sorge dafür, dass zuwenig veröffentlicht wird. Nun, Dare mit der Statur eines Riesen sieht nicht gerade aus, als würde er schon am Hungertuch nagen. Aber Simons Nerven sind am Ende. Überall sieht er in den Ecken unheimliche Schatten.

Am nächsten Tag wird Jonathan Dare tot aufgefunden. Sein Körper wurde regelrecht zerfleischt. Natürlich wollen die „Blauen“ auch Simon befragen, denn Simons Freundin Joanna war ja so nett, sie über den Streit mit Dare aufzuklären. Simon wird freigelassen, denn wie sollte er es mit einem Riesen wie Dare aufnehmen können und was hätte er von dessen Ermordung? Doch es bleibt nicht bei einem Mord. Nach wenigen Tagen muss die gesamte Branche dichtmachen.

Nach einem Intermezzo mit Joanna in Simons Landhaus, wo seine Manuskripte liegen, kehrt er mit ihr zurück. Doch er wird ihr durch seine Wutanfälle zu unheimlich. Leute wie er werden üblicherweise therapiert. Als sie Alarm schlägt, wartet bald darauf die Polizei vor seinem Apartment. Er begibt sich in die Randstadt, aus der er ursprünglich stammt. Aber hier hält ihn nichts. Schließlich wird er auch hier von den Cops entdeckt…

Mein Eindruck

Das Anderssein als psychische Krise – und als übernatürliche Katastrophe der Zivilisation. Diese warnende Geschichte zeigt den schriftstellerischen Autodidakten Simon im Clinch mit all den angepassten, therapierten, mechanisch unterstützten Zeitgenossen, mit denen er sich beim Lektorieren anlegt. Sein Selberschreiben geht aber noch viel weiter: Es beschwört zerstörerische Geister – die Schatten – herauf, die einen Kontrahenten nach dem anderen erledigen. Er beteuert zwar glaubhaft, er habe niemanden umgebracht, aber gilt das auch für seine Geister?

Die Menschen hassen ihn, weil sie seine ungeregelte Kreativität fürchten. Sie lieben die Maschinen, die Menge, die Therapien. Er wiederum hasst die mediokre Sensationsgeilheit seiner Mitmenschen, ihre Sediertheit, was zwischenmenschliche Gefühle angeht. Allein schon die Emotionalität seiner Figuren versetzt Joanna in Panik, bis sie ebenfalls auf Abstand geht. Wird sie das überleben?

Dies ist teils eine Inner-Space-Story, andererseits beinahe schon ein Fall von Lovecraft-Horror: Der Autor als Beschwörer und Monster. Unterm Streit warnt der Autor, der sich als Redakteur betätigt hat, vor einer Entfremdung der künftigen Zivilisation von einer uralten Kulturtechnik: dem Erzählen von Geschichten, die von den Gefühlen der Menschen handeln.

8) Harlan Ellison: Das Nachtleben auf Cissalda (How’s the Night Life on Cissalda?, 1977)

Als sie den Zeitreisenden Enoch Mirren aus seiner Kapsel holen wollen, wenden sich die Mitarbeiter der TrennZeit GmbH voll Ekel ab: Sein Penis steckt in einem widerlichen Ding, und sein Gesichtsausdruck verrät, dass er das auch noch voll Wonne genießt. „Äh, ist dieses, äh, Ding männlich oder weiblich oder was?“, will einer der drei Wissenschaftler wissen. Es ist unmöglich zu sagen, und wir wollen es lieber nicht wissen.

Die beiden sind auch unmöglich zu trennen. Erst nach drei Wochen können sie mit Hilfe von Ultraschall einen Rückzug des Fremdwesens veranlassen. Endlich ist Enoch Mirren ansprechbar. Er redet im Verhör vom Planeten Cissalda, so als wäre er dort gewesen, als er die alternative Zeit besuchte. Das „Ding“ ist ein Cissaldäer und mit telepathischen Kräften ausgestattet. Es habe sich per Teleportation in seiner Kapsel materialisiert, der Rest war eine Sache von Sekunden. Er habe sich nie besser gefühlt. Natürlich stecken sie ihn in eine Gummizelle.

Allerdings haben sie nicht mit den Cissaldäern gerechnet. Herbeigerufen von ihrem begeisterten Artgenossen („Hier lebt sich’s gut!“) bevölkern die sexhungrigen Cissaldäer schon bald alle Regierungsgebäude, Nachrichtensender, sondern Klöster und Kirchen. Es dauert nur Sekunden, bis sie einen menschlichen Partner gefunden haben und mit ihm Sex haben, bis der Arzt kommt. Die einzigen Wesen, die davon bleiben, sind Kakerlaken. Auch sexgierige Aliens haben eine Ekelgrenze.

Bloß Enoch Mirren nicht. Er hat seinen Anteil gehabt. Schon nach kürzester Zeit ist er der einsamste Mensch der Welt…

Mein Eindruck

Diese witzige und schlüpfrige Parodie nimmt die Idee auf die Schippe, dass sich die Welt retten ließe, wenn alle nur genügend Sex hätten. Die Cissaldäer bringen jedem (außer dem armen Enoch) soviel Sex er oder sie vertragen kann, doch das rettet die Welt nicht: Sie verliert sich bloß in sich selbst und verkommt zu einem Paradies der Egozentriker.

Die Übersetzung

Die Texte sind durchweg gut lesbar übersetzt worden, doch wie so oft tauchen hie und da Druckfehler und bedauerliche Sachfehler auf. Hier eine kleine Auswahl.

S. 43: „95 Grad im Schatten“, ja, aber nur auf der Fahrenheit-Skala. Die Übersetzerin war zu faul, diese Angabe in Celsius-Grade umzurechnen.

S. 51: „ich war ein typischer Multibillionär“. Er redet von amerikanischen Billionen, die den deutschen Milliarden entsprechen. Ein weiterer Sachfehler.

S. 77: „schrie des Funkgerät.“ Statt „des“ sollte es korrekt „das“ heißen.

S. 161: „übrigens gibt es mittlerweile schon fast eine Billion (Mutanten)“. Wieder mal ist eine Milliarde gemeint (s.o.).

S. 184: „ich schenkte i[h]m ein strahlendes Lächeln…“ Das H fehlt.

Unterm Strich

Dieser Chrysalis-Band aus dem Jahr 1977 enthält Erzählungen von den beiden Veteranen Theodore Sturgeon, der schon seit 1939 schrieb, von Harlan Ellison, der eher für seine Drehbücher bekannt ist („Star Trek“), und von fünf Newcomern. Mit Monteleone, Robinson, Lupoff und Grant stellen sich hier männliche Könner vor, aber die beiden weiblichen Autoren Elizabeth Lynn und Chelsea Quinn Yarbro können ihnen durchaus das Wasser reichen.

Diese weibliche Beteiligung hat mich sehr gefreut. Lynn veröffentlichte später die TORNOR-Trilogie, aber Yarbro wurde wesentlich produktiver. Am überraschendsten ist vielleicht Lupoffs Beitrag in astreinem Lovecraft-Stil. So dürfte es nicht verwundern, dass Lupoffs Geschichte später in Jim Turners Cthulhu-Anthologie „Hüter der Pforten“ aufgenommen wurden. Monteleones „Curandeiro“-Story wurde von Wolfgang Jeschke für seinen „Story-Reader 14“ angekauft. Auch ich fand „Curandeiro“ die überzeugendste Story in dem ganzen Band.

Dieser Auswahlband lohnt sich für jeden Freund von hochwertiger Phantastik aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, insbesondere aber für Kenner des Genres. Für die vielen Druck- und Sachfehler sowie für das sexistische Titelbild gibt es einen Punktabzug.

Taschenbuch: 224 Seiten
Originaltitel: Chrysalis 1, 1977
Aus dem Englischen von Eva Malsch
ISBN-13: 9783811867291

www.vpm.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)