Terry Carr (Hrsg.) – Die schönsten Science Fiction Stories des Jahres #3

Von SF-Veteranen bis zum Cyberpunk: Classic SF

In dieser Anthologie sind 13 SF-Erzählungen amerikanischer und englischer AutorInnen vereinigt:

– die Novelle „Chrom brennt“ von William Gibson, einer der wichtigsten Erzählungen des Cyberpunk-Genres;
– Sowie „Schwarm“ von Bruce Sterling, einem weiteren Vater des Cyberpunk.
– Aber auch traditionsreiche Autoren wie Robert Silverberg (geboren 1936), Frederik Pohl (geboren 1919) und Ursula K. Le Guin (geboren 1929) sind unter den Ausgewählten.

Der Herausgeber

Der US-amerikanische Autor und Anthologist Terry Carr (1937-1987) gab bereits Anfang der 1950er Jahre Fanzines heraus und schrieb Artikel. Unter dem Einfluss der Beatniks versuchte er sich als Autor im Mainstream, allerdings erfolglos. 1961 zog er nach New York City um und ging ins Verlagswesen, wo er Lektor und Literaturagent wurde.

Zusammen mit Donald W. Wollheim, der später den DAW-Verlag gründete, initiierte er 1965 die Reihe „World’s Best SF“ und ab 1971 die Anthologiereihe „Universe“, die nur Erstveröffentlichungen brachte. Nach mehreren Roman-Kooperationen erschien 1978 sein erster SF-Alleingang mit dem Roman „Cirque“, der deutsch bei Heyne erschien. Carr veröffentlichte über 50 Anthologien, wofür er 1987 posthum mit dem HUGO Award als bester Herausgeber geehrt wurde.

Die Erzählungen

1) Robert Silverberg: Der Papst der Schimpansen

Bei einer Langzeitstudie mit Schimpansen entwickelt sich eine Krise, als der Leiter Hal Vendelman an Leukämie erkrankt. Wie werden die intelligenten Primaten sein Ableben auffassen? Zuvor waren vier menschliche Teilnehmer der Studie verunglückt, was sich leicht erklären ließ. Doch Vendelman und seine Frau Judy wollen einen anderen Weg gehen: Sie wollen den Tiere die Wahrheit sagen- Vendelman werde in den Himmel zu Gott kommen, sagen sie. Denn Gott haben ihn zu sich gerufen. Die ältesten Schimpansen wie Leo und Grimsky grübeln bereits, was das zu bedeuten hat.

Nach Vendelmans Tod setzt sich Leo Als Anführer Vendelmans Hut auf und zieht sein Hemd an. Dann beginnt er in einer neuen Zeichensprache zu seinen Stammesgenossen zu „sprechen“. Er geht dazu über, sie zu segnen. „Es sieht so aus, als wäre er der Papst oder so“, meint ein menschlicher Beobachter. Man erklärt ihn für bekloppt. Doch dann stirbt auch Grimsky, und der „Papst“ zeigt erneut, welche bedeutende Stellung er jetzt innehat. Doch damit endet seine Tätigkeit nicht. Am nächsten Morgen wird eine erst elf Jahre alte Schimpansin ermordet aufgefunden…

Mein Eindruck

Zunächst sieht es so aus, als wolle der Autor die Entstehung von Religion und Kirchenpositionen parodieren, indem er sie durch Primaten praktizieren lässt. Die Mechanismen sind hinlänglich erforscht und bekannt: Die Kirchenleute fungieren als Mittler zwischen Erdlingen und dem Göttlichen, den höheren Mächten. Doch dann geschieht der erste Mord, dann der zweite. Kalter Ernüchterung folgt beim Leser eine beklommene Neugier. Was hat es zu bedeuten, dass die Schimpansen in ihre Sprache menschliche Vokale aufnehmen und anfangen, Fleisch zu essen? Sie benehmen sich erst wie Menschen und werden dann geopfert. Wie sich zum Entsetzen der Beobachter zeigt, hat Leo eine unvorhergesehene Erklärung für Vendelmans Tod gefunden…

Die bekannte Erzählung aus der Anthologie „Perpetual Light“ von Herausgeber Alan Ryan liefert eine schockierende Erklärung für die Hierarchie zwischen klugen Tieren, Menschen und Gott, aber auch für die fatalen Aufstiegsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben. Erst Judy Vendelman ist in der Lage, Papst Leos Serie von Ritualmorden zu stoppen: mit einem genialen Argument.

2) Bruce Sterling: Schwärmer (1982)

In ferner Zukunft hat sich die Menschheit in zwei große kulturelle Parteien aufgespalten. Die Former manipulieren ihren Körper mit genetischen und biologischen Mitteln, wohingegen die – wesentlich wohlhabenderen – Mechanisierer ihr Heil in reiner Technik wie etwa Kybernetik und Computern suchen.

Den Investierer-Aliens ist das einerlei: Sie machen Geschäfte mit beiden Parteien. Die menschliche Rasse ist ja noch so jung im kosmischen Vergleich. Vielleicht schon in wenigen Jahrhunderten könnte sie genügend Mittel haben, um das Geheimnis des intergalaktischen Fluges zu kaufen…

Dr. Afriel verabschiedet sich im Beteigeuze-System von einem Investierer-Raumschiff, um einen Planetoiden der Schwärmer zu betreten. Die Schwärmer sind ebenfalls Aliens, werden aber von den Investierern als dämliche Insekten abgetan. Die Schwärmer bauen Nester und benötigen keine Sprache, da sie sich mit Hilfe von Pheromonen verständigen. Wie in einem Ameisenbau ist alles wohlgeordnet, alle haben ihre spezielle Aufgabe.

Dr. Galina Myrni, die Xenobiologin, holt Afriel ab. Es dauert nicht lange, bevor sie misstrauisch wird. Immerhin hat sie einen IQ von 200, eine Spezialzüchtung der Former. Er verrät ihr also seinen geheimen Plan, den er für die Plan erfüllen will. Es ist ihm gelungen, Pheromone ins Nest zu schmuggeln, mit denen er Arbeiter dirigieren kann. Sein Ziel besteht darin, Arbeiter-DNS zu stehlen und zur Erde zu schmuggeln. Dort könnte man sie klonen und bis zum Umfallen rackern lassen – exklusiv für die Former, versteht sich

Myrni hat letztes Endes keine Einwände mehr gegen diesen verräterischen Plan, doch als sie ungewöhnliche Aktivitäten der Schwärmer feststellt, schaut sie ohne Afriel nach – und verschwindet spurlos. Als er sie sucht, wird er von Kriegern gefangengenommen und in eine neue Kammer gebracht. Hier wartet eine neuartige Schwärmerrasse auf ihn…

Mein Eindruck

Intelligenz – sie wird häufig überschätzt, wenn es um ihre Bedeutung fürs Überleben einer Spezies geht. Diese Lektion muss auch der einfallsreiche Dr. Afriel auf die harte Tour lernen, als er vor die Wahl zwischen Kooperation oder Absorption gestellt wird. Er hat seinen Meister gefunden: eine in aller Eile hergestellte Intelligenz der Schwärmer.

Diese feine und mittlerweile klassische Erzählung entstand im Untergenre des Cyberpunk. Der Cyberpunk stellte sich die Zukunft des Menschen auf (mindestens) zwei Entwicklungslinien vor. Die uns heute so sattsam bekannten Terminatoren sind kybernetische Organismen, Cyborgs, die den Weg der „Mechanisierer“ säumen. Doch vielversprechend war auch 1982 schon der Weg, den die Former mit ihrer Gentechnik beschritten: die Ausrottung von Erbkrankheiten, der Sieg über den Krebs, die Selbstoptimierung des menschlichen Körpers usw.

Mit „Schwärmer“ stellte der Autor, einer der Wortführer des Cyberpunk, den Wert von Intelligenz auf den Prüfstand. Wird sie wirklich eine entscheidende Rolle für die Menschheit spielen? Es sieht nicht so aus.

3) Joanna Russ: Seelen (1982)

Im Mittelalter ist Schwester Radegunde Äbtissin der Abtei am Fluss, und alle Menschen im Dorf und der Umgebung nennen sie ein Heilige. Sie ist ein Wunderkind, das schon mit zwei Jahren Latein sprechen konnte, als junge Frau nach Rom ging und viele Sprachen lernte. Der sieben Jahre alte Junge Radulf, den sie als ihren Botenjungen bezeichnet, liebt sie von ganzem Herzen, als wäre sie seine Ziehmutter. Er ist der Chronist der Geschehnisse.

Eines Tages taucht eine kleine Flotte der Nordländer auf, und jeder gerät in Panik und Aufregung, denn der Ruf der Nordländer als Räuber und Schänder eilt ihnen voraus. Ihr Anführer heißt Thorvald Einarsson, und Radegund grüßt ihn furchtlos, indem sie ihm entgegengeht. Sie bringt ihn dazu, einen Vertrag einzugehen, indem sie die andere Hälfte des Abteischatzes verspricht. Doch als die Delegation Thorvalds durch die Scharen der Flüchtlinge innerhalb der Abtei geht, passiert etwas, das der kleine Radulf nicht sehen kann, und es kommt zu einem üblen Blutvergießen, Radegunde verliert nicht die Nerven, sondern erklärt den Vertrag für gebrochen. Thorvald ist beschämt und wütend, selbst dann noch, als sie einen seiner verwundeten Männer auf wundersame Weise heilt.

In der Nacht nach dem Blutbad führt Radegunde Selbstgespräche, denkt Radulf, doch es dann wendet sie sich einem großen leuchten zu und spricht zu diesem. Danach ist sie wie ausgewechselt. Dies ist nicht mehr die mütterliche heilige, sondern eine jammernde Frau, die Thorvald, als das Jammern nicht wirkt, mit stählernem Willen bezwingt, als fasse sie in seinen Kopf. Nachdem sich der geheilte Mann nächtens den Hals gebrochen hat, nimmt Radegunde Thorvald und zwei seiner Männer mit in den Wald, um ihm den restlichen Abteischatz zu zeigen. Das entpuppt sich als List, denn auf der Lichtung erscheinen strahlende Gestalten, die Radegunde herzlich begrüßen…

Mein Eindruck

Die Erzählung trägt nicht umsonst den Titel „Seelen“, denn diese werden im Verlauf der Handlung ausgetauscht, bezwungen, verführt und geheilt. Im Mittelpunkt steht stets die Gestalt der Schwester Radegunde, obwohl dies nur ihr Deckname ist. Ihr Wirken ist wie eine Stunde Psychotherapie. So verdreht sie die innersten Gefühle der Nordmänner, bis diese entweder in Tränen ausbrechen oder zum Dolch greifen. So dominant ist diese mütterliche Figur zunächst, dass sich selbst Thorvald schließlich gezwungen sieht, sie „unter Kontrolle zu bringen“. Auch dafür verhöhnt sie ihn, mit ihrer sanftesten Stimme.

Die wahre Herkunft ihrer ersten und zweiten Seele kann man nur aus dem ermessen, was der kleine Radulf mit Kinderaugen beobachtet. Kommen solche Seelen aus der Zukunft, dem Himmel oder irgendeinem Jenseits? Das bleibt offen und ist auch unwichtig. Von Bedeutung ist jedoch ihre „Rache“ an Thorvald, denn dieser wird in einer Welt des Unfriedens ein Mönch, der den Frieden predigt. Welch größere Strafe könnte es geben, fragt sie Radulf.

Obwohl es nicht danach klingt, so ist die Novelle von großer Spannung. Dabei trägt die Bedrohung der Nordmänner nur einen kleinen Teil dazu bei. Spannender ist die Frage, was sich „Radegunde“ als nächste Geschichte einfallen lässt, um eine kitzlige Situation zu wenden oder eine traumatisierte Frau zu heilen. Recht viel Humor würzt diese Geschichten, und die Äbtissin nimmt in sexuellen Dingen weder ein Blatt vor den Mund noch scheut sie sich, ihre nackten Beine vor Männern zu zeigen – eine listige Ablenkung. Ich habe die Erzählung auf einen Sitz gelesen, denn sie ist an keiner Stelle langweilig.

4) William Gibson: Chroms Ende (Burning Chrome, 1982)

Diese dritte Sprawl-Story ist die mit Abstand beste der Sammlung. Im Mittelpunkt stehen die zwei Hacker Bobby Quine und Automatic Jack; letzterer ist der Ich-Erzähler, ein Typ mit einem künstlichen Arm. Ihre nicht ganz legale Tätigkeit besteht im Eindringen in durch EIS geschützte EDV-Systeme von Konzernen (EIS: Elektronisches Invasionsabwehr-System). „Chrom“ ist ihr neuestes Ziel: Im Cyberspace sieht das System aus wie ein Kindergesicht, doch mit stahlglatten, kalten Augen. Getarnt als Finanzamt-Buchprüfer dringen die beiden Hacker in Chrom ein, gerüstet mit einem russischen Militärvirenprogramm, das keine Gnade kennt. Sind sie drin, transferieren sie die Unsummen von Geld, die ihnen in die Hände fallen auf geeignete Konten.

Und wofür das alles? Nicht für Macht, not for fun, sondern – wie romantisch! – für ein Mädchen. Rikki Wildside nennt Bobby sie, und auch Jack hat einiges für sie übrig, wovon Bobby nichts weiß. Rikki will unbedingt ein SimStim-Star werden (Simulierte Stimuli), doch dafür braucht sie noch den richtigen, aber sauteuren Satz künstliche Augen von Zeiss-Ikon. Bobby & Jack würden ihr die Ikons bezahlen.

Doch die beiden wissen etwas zu wenig über ihre Teilzeitgeliebte. Und so gucken die beiden schließlich dumm aus der Wäsche. Aber Jack ist kein Unmensch. Er zahlt ihr den Rückflug von Tokio aus. Ob sie je zurückkehrt?

Mein Eindruck

Die Story ist nicht nur romantisch, sondern auch enorm spannend. Das liegt an der raffinierten Erzählstruktur. Das Eindringen ins EIS von „Chrom“ wird nicht in einer einzigen Szene erzählt, sondern häppchenweise eingeflochten in die sogenannte Back-Story, die Vorgeschichte. Daher ist man neugierig darauf, ob der Riesencoup gelingt.

Der Titel „Burning chrome“ ist ein Meisterstück der Vieldeutigkeit. Natürlich lässt er sich mit „Chrom brennt“ übersetzen, aber auch mit „brennendes Chrom“ und „Chrom verbrennen“. Und wenn man sich die beiden Anfangsbuchstaben wegdenkt, wird etwas Zivilisationskritisches daraus: ROM VERBRENNEN und DAS BRENNENDE ROM. Das wiederum bringt den Literaturkenner zu T.S Eliots epochalem Gedicht „The Waste Land“, in dem Karthago von Rom niedergebrannt wird. Ergo: Bei Gibson schlagen die Karthager zurück.

5) Frederik Pohl: Farmer in Not (Farmer on the Dole, 1982)

Seit eine preisgünstige Energiequelle erfunden worden ist, haben sich immer mehr Menschen in die Raumkolonien in der Kreisbahn begeben, um dort in Saus und Braus zu leben. Davon weiß der Farm-Roboter Zeb nichts, als ihm sein Boss eines Tages eröffnet, dass er alle Farm-Roboter entlassen könne, weil der reine Bodenbesitz viel lukrativer sei, als die Bewirtschaftung des Landes. Zusammen mit allen anderen Robotern landet Zeb bei der RRD, der Roboter-Reprogrammierung. Fortan soll er sich in den Häuserschluchten von Chicago als Straßenräuber nützlich machen.

Eingelernt wird er von Robot Timothy, und drei Tage lang geht auch alles gut – bis Zeb den Fehler macht, ein menschliches Wesen zu berauben. Es ist nur ein Tropfen Blut geflossen, aber dennoch wird er sofort eingesackt und eingebuchtet. Das Bewährungsprogramm ist nicht wirklich hilfreich, Menschen von Robotern, die wie Menschen aussehen, zu unterscheiden. Aber er lernt dabei wenigstens die Nöte der anderen Roboter kennen. Zwei Mädels kichern ständig über die Lektionen der Menschenfrau, aber eine davon, Lori, nimmt Zeb mit auf die South Side von Chicago.

In einem sogenannten Gesellschaftshaus für das Viertel trifft er Lori, die kleine Sally und sogar Timothy wieder. Alle sind arbeitslos, in einem Reha-Programm oder zwischen Jobs. Sally sagt’s ihm klipp und klar, als sie ihn mit in den Amadeus Amalfi Park – der nach dem Erfinder jener billigen Energiequelle benannt ist: „Die Menschen wollen uns bloß als Dekoration, damit ihre Städte nicht so leer aussehen.“ Aber was tun? Die Roboter haben Rechte, und nur Einigkeit verleiht Stärke.“ Was soll das nun wieder heißen?

Bevor er sich’s versieht, marschiert Zeb in der ersten Reihe einer Protestmenge streikender Roboter. Prompt kriegt er einen Job: als Unruhestifter…

Mein Eindruck

Pohl ist einer der Gründer des New Yorker SF-Klubs „The Futurian Science Literary Society“, also SF-Urgestein, zusammen mit Asimov und Kornbluth. Als Werbefachmann und Zyniker brillierte er mit der Satire „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“. Sein Zynismus verkehrt auch die Welt der Roboter in eine Dystopie, bis dem leser das Lachen im Halse steckenbleibt.

Allerdings könnte man sich als historisch beschlagener Leser fragen, was denn hier so innovativ sein soll: Die Roboter wiederholen lediglich die sozialistische Gewerkschaftsbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das könnte aber im Nachkriegsamerika bereits für Aufsehen sorgen, hierzulande sicherlich nicht.

6) Bill Johnson: Treffpunkt Apogäum (Meet Me at Apogee, 1982)

Die Hatane-Aliens kontrollieren ein Schwarzes Loch und lassen sich den Zugang dazu gut bezahlen. Im Schwerkraftschacht sind bereits mehrere Raumschiffe der Menschen gestrandet, so dass sich im Laufe der Jahrzehnte eine Art Schatztaucher- und Bergungsindustrie entwickelt hat. Farrar Reinfeld ist ein freischaffender Schatztaucher und hat sich den Besitz seines Schiffes hart erarbeitet, nicht nur mit Geld, sondern auch mit Lebenszeit – die relativistischen Effekte des Schwarzen Lochs verursachen eine massive Zeitdehnung: Während subjektiv nur wenige Wochen oder Monate vergehen (je nach Tauchtiefe im Schacht), verstreichen im Normalraum Jahre. Mittlerweile hat er alle seine Freunde verloren und ertränkt seinen Kummer im Alkohol.

Da stoppt ein hochgewachsener Sektenführer seine Sauftour auf recht unsanfte Weise. Jared Pleasence ist bereit, Reinfelds Schulden zu übernehmen und sogar einen Bonus mit Schecks zu zahlen, die auf seinen Namen lauten: Reinfeld soll ihn nur zum Wrack eines für seine Kirche bedeutsamen Schiffswracks hinunterbringen. Weiß doch jeder, dass Reinfeld einen heiligen Gegenstand geborgen und verhökert hat. Es ist ein Angebot, das der bankrotte Schatzjäger nicht ablehnen kann. Aber die Tücke des Plans liegt im Objekt.

Das Schiffswrack ist weder einfach zu finden (die enorme Schwerkraft verzerrt die lichtbasierte Optik), noch ist es ungeschützt. Schon bei der ersten Annäherung, bei der Pleasence seinen Piloten als Schild benutzt, werden sie mit einer antiken Armbrust beschossen. Der Pfeil trifft Reinfeld im Arm seines Schutzanzugs, und er stößt sich sofort von Pleasence ab, um das Wrack zu erreichen. Dort lernt er die letzte Überlebende jener Explosion kennen, die Pleasence seinerzeit mit einer Bombe verursacht hatte. Sharee Espa glaubt, sie sei erst drei Monate an Bord, dabei sind bereits Jahrzehnte objektiver Zeit verstrichen. Und sie sinnt auf Vergeltung.

Nun muss Reinfeld einen Dreh finden, um sie im Hinblick auf ihrer beider Überleben für seinen Plan einzuspannen. Dann kann der Kampf gegen den Fanatiker beginnen…

Mein Eindruck

Dieses unterhaltsame Garn ist eine klassische Außenseiter-trifft-Ausbeuter-Story, die schrittweise zu einem actiongeladenen Höhepunkt voranschreitet. Als Belohnung für seine Anstrengungen bekommt der Held das Mädchen – mehr oder weniger. Sie besteht darauf, sein gleichwertiger Partner zu werden – und bringt entsprechend vielversprechendes Wissen mit ein.

Die Story ist zwar an den Raumpiraten-Stories der Pulp-Ära geschult, funktioniert aber prächtig. Dies ist kein Schund, und schon Altmeister wie Asimov („Lucky Starr“) und Heinlein („Bewohner der Milchstraße“ und viele mehr) haben sich in diesem Subgenre betätigt, um einen Dollar oder zwei zu verdienen.

Das Besondere ist vielmehr der Schurke im Stück: Reverend Jared Pleasence geht über Leichen, nicht nur bildlich, sondern auch buchstäblich. Er hat Sharees Vater, einen Abtrünnigen der Kirche, auf dem Gewissen. Dass Reinfeld pleite ist, hat er im Casino ebenfalls arrangiert. In den 1980er Jahren hatten die Fundamentalchristen (Wie etwa den TV-Prediger Bill Graham) Oberwasser, und der Autor kritisiert deren Anführer als potentielle Verbrecher. Wie man einen solchen skrupellosen Typen überlistet, erfährt der Leser im Showdown.

7) Ursula K. Le Guin: Rose des Südens (Sur, 1982)

Eine Gruppe südamerikanischer Frauen bricht 1908/09 zu einer Antarktis-Expedition auf, von der später niemand mehr etwas außer den engsten Verwandten. Finanziert durch einen ungenannten Wohltäter, schippern sie mit dem Dampfer „Yelcho“, der später Ernst Shackletons Männer retten sollte, zum Ross-Schelfeis und errichten ein Basislager. Nachdem sie ihm hoch und heilig versprochen, sich auf keinen Fall ins unwirtliche Landesinnere vorzuwagen, nehmen sie Abschied vom Kapitän der „Yelcho“.

Selbstverständlich denken sie keine Sekunde daran, sich von der einmaligen Chance, den Südpol zu erreichen, abbringen zu lassen. Die Erzählerin eifert Robert Falcon Scotts „Reise mit der Discovery“ nach, die ihn 1904 genau in diese Ross-Bucht geführt hat. Mit sehr eigenwilligen Methoden überleben die neun Frauen und legen Etappenlager an, bevor sie schließlich im November aufbrechen…

Wenige Tage bevor am 20. Februar des folgenden Jahres die „Yelcho“ zurückkehren soll, bringt die junge Juana ein gesundes Mädchen zur Welt. Nachdem einige mehr oder wenige absurde Namensvorschläge gefallen sind, nennt Juana ihre Tochter des Eises „Rosa del Sur“, Rose des Südens…

Mein Eindruck

Amundsen und Scott, die angeblichen Erstentdecker des Südpols, haben nie von dieser Expedition südamerikanischer Pionierinnen erfahren. Es mag zwar eine alternative Welt sein, wie uns der Herausgeber weismachen will, doch bis auf diese Frauen-Expedition stimmen sämtliche historischen Fakten bis auf den Tag genau.

Die Autorin bringt die weibliche Solidarität und Opferbereitschaft klar zum Ausdruck, denn diese zwei Eigenschaften sind es, die allen Teilnehmerinnen das Leben retten. Die Erzählerin und ihre zwei Begleiterinnen – sie in Dreiergruppen – werden auf dem Gletscher „Nightingale“ (benannt nach einer Frau, versteht sich) nahezu schneeblind und müssen sich eine einzige Schneebrille teilen, als wären sie die antiken Graien, die sich ein Auge teilen müssen. (Dies ist in dem Remake von „Kampf der Titanen“ erneut zu sehen.)

Sehr amüsant, aber auch bezeichnend fand ich die Begründung, warum sie Amundsen nichts von ihrer Erstbezwingung des Südpols sagen bzw. keinerlei Merkmal auf 90° Süd hinterlassen. „Aber ich war sogar damals darüber froh, dass wir kein Zeichen hinterlassen hatten, denn vielleicht kam eines Tages ein Mann dorthin, der der erste sein wollte, fand es, erkannte, was für ein Narr er gewesen war, und starb an gebrochenem Herzen.“ Soviel Mitgefühl mit Männern, v.a. aus diesem grund, findet man heute nur noch selten.

8) Thomas M. Disch: Zum Verstehen menschlichen Verhaltens (Understanding Human Behavior, 1982)

Richard Roe hat sich das Gedächtnis löschen lassen, so wie es viele Menschen in seiner Zeit tun. Nun versieht er einen ganz einfachen Job als Verkehrsregler in der Video-Überwachungszentrale eines Schnellrestaurants mit Einkaufszentrum. Die sitzende Tätigkeit hat ihn fett und kurzatmig werden lassen. Worum er sich noch Gedanken macht, sind die Rätsel menschlichen Verhaltens.

Als er seine Instruktorin „Lady Astor“ näher kennenlernt, findet im Laufe der Zeit heraus, dass sie im ärmlichsten Teil der Stadt in einer Art Bretterbude lebt und schon morgens um elf eine Flasche Wodka verputzt. In besäuseltem Zustand versucht sie ihm weiszumachen, das sie seine frühere Frau gewesen sei. Von ihr habe er sich scheiden und sich anschließend das Gedächtnis löschen lassen. Aber warum sollte er so etwas tun wollen, fragt er sich. Wie sich herausstellt, ist er keineswegs der erste oder einzige, bei dem sie diese Masche ausprobiert. Erhofft sie sich Almosen, eine Rücknahme oder was?

Erst bei einem schönen Ausflug in die Berge bemerkt er, wie ein Hubschrauber des Forstamts Forellen in einem Bergsee auszusetzen versucht. Alle Fische landen neben dem rettenden Wasser. Instinktiv beeilt sich Richard, die Fische ins Wasser zurückzuwerfen, wo sie hingehören. Nur wenige überleben, was ihn traurig macht. In diesem Moment begreift er, worum es beim menschlichen Verhalten wirklich geht – und macht „Lady Astor“ einen Antrag…

Mein Eindruck

Der ironische Humor in dieser Geschichte ist gut verpackt und meist nur unterschwellig spürbar. Der große Witz an Richard Roes (engl. „roe“ = Reh) Geschichte besteht darin, dass er ein leichtes Opfer seiner Vergangenheit wird. Er hat seine Erinnerung an sein Vorleben ausgelöscht, aber das kann sich eine gewiefte Person wie „Lady Astor“ zunutzemachen, um ihm weiszumachen, dass sie seine Frau gewesen sei – und er doch noch gewisse Verpflichtungen habe. Eine geistige Tabula rasa wirkt sich also nicht entlastend aus, sondern schwächt den Gelöschten hinsichtlich seiner Verantwortlichkeit – ist er schuldig, verantwortlich, haftbar? Er kann es nicht sagen.

Der Haken in dieser Geschichte wird natürlich zur Sprache gebracht: So wie Eltern, die ihr Kind zur Adoption freigeben oder ihre Fortpflanzungskeime (Eier, Sperma) spenden, vor dem Aufspüren geschützt werden, so ist auch Richard Roe per Gesetz vor seinem Vorleben geschützt. Zumindest theoretisch. „Lady Astor“ belehrt ihn eines Besseren: Mit einem ausreichenden Betrag Schmiergeld lässt sich auch diese Barriere umgehen. Da dies nun mal so ist, zieht Richard die Konsequenzen und heiratet die hartnäckige Verfolgerin.

9) Gregory Benford: Relativistische Effekte (1982)

Seit vielen Jahren rast das namenlose Generationenraumschiff bereits mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch den Kosmos. Mittlerweile nähert es sich zwei anderen Galaxien, die gerade davorstehen, miteinander zu kollidieren. Am Himmel herrscht daher Festbeleuchtung.

Nick, Faye und Jake gehören zur Arbeiterklasse des Schiffes, die auf den unteren Decks lebt und die Drecksarbeit verrichten darf. Gefährliche Drecksarbeit, wie der ehrgeizige Nick weiß. Das Schutzmaterial wird immer minderwertig, denn bestimmte Maschinen haben schon vor Jahren den Geist aufgegeben, so etwa eine Metallgussmaschine. Sein Schutzanzug ist jedoch alles, was er hat, um ihn vor den gewaltigen atomaren Kräften zu schützen, die im Antrieb des kilometerlangen Schiffes toben. Dort arbeitet er quasi als Reiniger, wie es einst die Muschelkratzer auf den Segelschiffen taten – auf der weit entfernten Erde. Nick will Abteilungsleiter werden und dann Offizier – nur Blütenträume?

Auf einmal erhält er einen Schubs, und er hat alle Mühe, im atomaren Plasma am Leben zu bleiben und wieder zum Ausgang zurückzugelangen. Es war Jake, der ihm den Schubs gegeben hat. Endlich findet Nick einen Anlass, um Jake so richtig fertigzumachen und ihm Faye auszuspannen, auf die er schon lange scharf ist. Faye versucht Frieden zu stiften, aber wie lange geht das noch gut?

Mein Eindruck

Menschliche Konflikte in einer Dreiecksbeziehung finden ihre astronomische Entsprechung in der Kollision von Galaxien – auf diesen einfachen Nenner ließe sich der Plot bringen. Aber der in Atom- und Sternphysik bestens beschlagene Autor von „Im Meer der Nacht“ und „Zeitschaft“ (siehe meine Berichte dazu) macht nicht nur aus den Astro-Ereignissen ein eindrucksvolles Fest à la Clarke, sondern weiß auch die menschliche Ebene, die all dies nebenbei erlebt und reflektiert, spannend zu gestalten.

Von kühler Betrachtung also keine Spur, sondern durchaus auch viel Testosteron und einige Action. Wo Arthur C. Clarke kühle Distanz wahrt und auf Erhabenheit setzt, wirft Benford seinen Leser – der sehr gute Physikkenntnisse mitbringen sollte – mitten hinein in rohe Geschehen.

10) Connie Willis: Brandwache (Firewatch, 1982)

Ein zeitreisender Geschichtsstudent muss sich fürs Praktikum seine Informationen über die Brandwache der Londoner St.-Pauls-Kathedrale während der Bombenangriffe im Herbst des Jahres 1940 persönlich besorgen – ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen, wie er schon bald zu seinem Leidwesen herausfindet. Dabei besteht die Gefahr nicht nur in den von deutschen Bombern abgeworfenen Brandbomben, sondern geht auch von einem Mann namens Langby aus.

Langby wird schon früh misstrauisch, als sich herausstellt, dass der Zeitreisende keine Ahnung von Katzen hat – es gibt sie in seiner Zeitebene einfach nicht mehr. Auch was die zahlreichen Abkürzungen wie etwa ZVD oder FFE bedeuten, scheint der Junge nicht zu wissen. Eines Tages beobachtet der Student, wie Langby sich mit einem Mann länger unterhält, der ihm eine Zeitung mit dem Titel „Der Arbeiter“ übergibt. Unseren Studenten beschleicht ein entsetzlicher Verdacht: Ist Langby etwa ein verkappter Nazispion? Fortan behält er Langby im Auge und kriegt infolgedessen kaum ein Auge zu, um auszuruhen.

Er lernt eine junge Frau kennen, die ausgebombt wurde und eine Anstellung sucht. Doch leider arbeiten in der Brandwache nur unbezahlte Freiwillige. Er freundet sich mit Enola an und gibt ihr Geld für Brandy – das sie leider nie zurückzahlt. Auch in den U-Bahnschächten, wie die Bevölkerung nachts vor den Bombenangriffen, ist Enola nicht zu finden. Wahrscheinlich ist auch sie aufs Land gezogen.

In einer dramatischen Bombennacht rettet der Student dem verdächtigen Langby, den er inzwischen als Kommunisten entlarvt hat, das Leben. Doch der Gerettete hält seinerseits den Studenten für einen Nazispion, denn er weiß einfach zuviel bzw. zuwenig und zeigt keinerlei Mitgefühl für die Leute, auf die es ankommt.

Dass sich der Student Bartholomew grundlegend geändert und seine Objektivität völlig eingebüßt hat, zeigt sich bei der Prüfung, die ihm sein Doktorvater Dunworthy auferlegt: Zahlen, nichts als Zahlen. Da dreht Bartholomew vollends durch…

Mein Eindruck

Mit dieser feinen, bewegenden Novelle erweiterte die Autorin ihr Universum um die Oxford-Historiker Prof. Dunworthys und Lady Shrapnels. „Die Jahre des schwarzen Todes“, ihr vielfach ausgezeichneter Roman, grenzt direkt an die Handlung dieser Novelle an: Die Studentin Kivrin, Bartholomews Zimmergenossin, soll ins Pestjahr 1349 geschickt werden. Ebenfalls in diesem Universum spielt der Roman “ Die Farbe des Alls“ und weitere Romane, die „Brandwache“ erneut aufgreifen.

Bartholomew ist ein Forscher wider Willen, doch er schlägt sich wacker. Seine Erlebnisse sind voll Horror, wenn die Bomben fallen, aber auch Romantik lässt nicht auf sich warten: Enola braucht ihn wirklich. Leider verhält er sich ziemlich linkisch, entwickelt sich aber rasch weiter, so dass es vielleicht noch zu einem Happy End kommt. Dass er in seine eigene Zeit zurückkehren muss, darf er ihr nicht sagen.

Zeitreisen hat etliche Tücken, und die wichtigste ist das mangelnde Wissen über die Zielzeit. Die Autorin hat sich eine spezielle Methode ausdenken müssen, um ihren Zeitforscher Bartholomew mit Informationen über seine Zielzeit zu versorgen. Es geschieht mithilfe einer Art Telepathie. Er bekommt quasi Uploads aus der Zukunft.

Die deutsche Übersetzung hat nicht ganz astrein. Was die Londoner als „The Blitz“ bezeichnen, lässt sich keinesfalls mit dem etablierten Begriff „Blitzkrieg“ übersetzen. Letzterer bezeichnet nämlich ein ganzen Feldzug.

11) O. Niemand: Die Werbung um Schlepper-Sadie (The Wooing of Slowboat Sadie, 1982)

In Springfield, Illinois, schaut jedes Jahr ein kleiner Mann vorbei, der auf seiner Welt der reichste ist. Obendrein ist er unsterblich. Aus diesen und anderen Gründen obliegt es den Ordnungshütern, sich rund um die Uhr um diesen „Beshta Shon“ zu kümmern. Das ist Officer Onayly nur unzureichend gelungen: Sein Schützling ist spurlos verschwunden, als er am anderen Ende einer durchzechten Nacht mit einem Filmriss erwacht. Sein Boss bringt ihn auf Trab, den verlorenen Gönner aufzutreiben, aber pronto.

Onayly führt seinen gewaltigen Kater Gassi, und jeder Barkeeper kann sehen, dass dieser Kater nur durch kleine Gaben Alkohols im Form von Bier zu besänftigen ist. Die Spur führt schließlich zum Etablissement von Schlepper Sadie. Die Übermutter dieses Etablissement gibt sofort zu zu wissen, wo sich der Gesuchte aufhält, doch man ihr zuerst gut zureden. Denn Onayly hat sich schon immer gewundert, warum die Sauftour des Beshta Shon immer in diesem Etablissement von zweifelhaften Ruf endet…

Mein Eindruck

Hinter dem auffälligen Pseudonym „O. Niemand“ verbirgt sich angeblich ein namhafter genre-Autor. Er hat seinen Nom de plume an den von O. Henry angelehnt, dessen Name selbst wiederum ein Deckname ist. Und wie dieser bekannte Namensvetter befleißigt sich O. Niemand der komprimierten Anekdotenform, die man auch als Kurzgeschichte bezeichnen könnte. Mit verschmitzter Ironie erzählt er die Suche des wackeren, aber schwer gehandicappten Polizisten Onayly, der Bekanntschaft mit einer sonderbaren Form des Zeitvertreibs unter den Unsterblichen und Superreichen macht…

Wenn man den unterschwelligen Humor versteht, macht die Kurzgeschichte doppelt so viel Spaß.

12) Nancy Kress: In Originalbesetzung (With the Original Cast, 1982)

Im Sommer 1998 will Theaterdirektor Greg Whitten in New York City das Stück „Die heilige Johanna“ von george Bernard Shaw inszenieren. Barbara Bishop, mittlerweile rund 40 Jahre alt, kommt für die Titelrolle nicht infrage, also sucht Whitten nach einer jungen Darstellerin, die das gewisse Etwas mitbringt. Dieses ist jedoch von technischer Natur: ESIR ist eine Methode, auf elektronischem Wege jenes gehirnzentrum anzuzapfen, das für das Rassegedächtnis zuständig ist – kurzum, wo die Vorfahren fortexistieren. Was Whitten will, ist klar: die echte Jeanne d’Arc.

Barbara Bishop und ihr Geliebter, der berichterstattende Finanzinvestor Austin, sind Zeuge des erstaunlichen Vorsprechens einer 17-jährigen ESIR-Kandidatin namens Ann Friedland, Tochter eines Finanzmoguls. Als sich zeigt, dass Ann tatsächlich Jeanne d’Arc anzapfen kann, kommt Whitten eine größenwahnsinnige Idee: Er lässt einen Star-Autor das Stück neu schreiben, und Ann soll natürlich die Titelfigur spielen: „Das Mädchen aus Domremy“. Austin hält das für eine Schnapsidee, aber Barbara sieht gewisse Chancen. Wenn das Projekt schiefgeht, sind wieder echte Schauspieler gefragt, nicht solche ESIR-Marionetten.

Das Projekt geht seinen Gang, das neue Stück wird geliefert und über den grünen Klee gelobt, die Spannung steigt. Während sich Austin in Südamerika einen Virus einfängt, proben Barbara & Co., bis der Tag der Premiere da ist. Austin gelingt es, sich trotz hohen Fiebers ins Auditorium zu schleppen – und wird so Zeuge einer mittelgroßen Katastrophe: Ann Friedland brüllt das tobende Publikum, sie sei die echte Jeanne d’Arc! Dann bricht er zusammen.

Das Nachspiel hat es jedoch in sich, denn offenbar ist auch Barbara Bishop, die an Austins Krankenbett geeilt ist, ein ESIR-Implantat. Nun kommt ihr eigenes Avatar zum Vorschein, und Austin kann es nicht mehr von Barbara unterscheiden…

Mein Eindruck

Seit Walter M. Miller „The Darfsteller“ ca. 1955 veröffentlichte, sind SF und das Theater sozusagen Busenfreunde. Das ist ganz besonders dann der Fall, wenn der/die jeweilige Autor bzw. Autorin auch noch Shakespeare-Fan ist (und wer wäre das nicht?). So kommt es immer wieder zu interessanten Einfällen, wie sich das Schauspielern auf der Bühne durch technische Neuerungen verbessern bzw. aufpeppen ließe.

Diesmal muss also das sog. „Rassegedächtnis“ als Quelle der Inspiration herhalten. Wie das im Einzelnen funktioniert, setzt uns Austin, der Chronist, detailliert auseinander. In drei Worten: Es ist kompliziert. Der psychologische Vorgang hat nichts mit Gedächtnis-Uploads an sich, sondern führt zu einer Selbstentfremdung, die leider auch zu einer Identifikation mit dem Avatar führen, wie es Ann Friedland passiert. Doch das „Echte“ wird auf der Bühne verpönt, gefragt sind Illusion, Trug, Täuschung, Spiel eben. Ein Schauspiel ist eben dies und nicht etwa ein realistischer Roman.

Dies ist zäher Stoff für Erwachsene, die mit Shaw, Jeanne d’Arc und dem Theater auf gutem Fuß stehen. In den Händen von Connie Willis wäre wohl eine unterhaltsame Farce à la Wodehouse oder Jerome K. Jerome entstanden, doch Nancy Kress ist aus härterem Holz geschnitzt. Sie macht ein Drama daraus, allerdings mit einer gewitzten Pointe.

13) Bruce McAllister: Wenn Vater eine Reise macht (When the Fathers Go, 1982)

Dorotheas Mann Jory ist nach 15 Jahren im All zurückgekehrt, und sie ließ sich solange in den Schwebeschlaf versetzen, während ihr erster Sohn Willi ohne sie aufwuchs. Doch nach seiner Rückkehr will Jory ihr weismachen, er habe einen Sohn mit einer Alienfrau gezeugt. Hallo, der lügt doch! Mit keiner der drei Alienrassen ist eine Zeugung möglich, wie jeder Biologe weiß. Und das ist Dorotheas Fachgebiet. Warum lügt Jory also? Liegt es an dem implantierten Chip, den ihm sein Arbeitgeber hat einpflanzen lassen, bevor Jory durch die Sternenschleuse ins Draußen flog?

Sie beißt trotz des Gefühls, verraten worden zu sein, die Zähne zusammen und informiert sich über die Bedürfnisse von Climagos. Ein hoher Bedarf an rotem Blut gehört, aber auch an spezieller Luft usw. Kurzum, es wird ein Schutzbehälter nötig sein. Natürlich darf niemand etwas ahnen. Doch Jory macht ihr einen Strich durch die Rechnung: Die Einwanderungsbehörde hat ein Problem mit ungenehmigten Aliens. Als klar wird, dass Jory völlig geisteskrank ist und Dorothea ihn dennoch unterstützt, ziehen die Beamten wieder ab.

Natürlich ist es kein Monster. August sieht wie ein normaler Junge aus, und er spricht ganz normal. „Er ist mein Klon“, sagt Jory. Schon wieder ist Dorothea gekränkt. Der „Klon“ braucht aber einen Schutzbehälter. Und nach ein paar Tagen erscheint ein Baby, das einen hohen Bedarf an rotem Blut an den Tag legt…

Mein Eindruck

Eine Handlung mit einem vertrauten Sujet: der zurückgekehrte Raumfahrer. Aber der „Astronaut“ – man kennt ja den entsprechenden Film mit Johnny Depp in der Titelrolle – hat es faustdick hinter den Ohren. Es bleibt im Undefinierten, ob er absichtlich lügt oder nicht anders kann, weil ihn sein Chip steuert. Die Geschichte wird aus dem Blickwinkel seiner Frau erzählt, so dass Jorys wahre Absichten ebenso im Dunkeln bleiben wie seine undokumentierte Vergangenheit bei den Climagos.

Am Schluss steigert sich der Horror der gequälten Ehefrau, die sich nach Liebe und Mutterglück sehnt, noch weiter. Doch da ist bereits zu spät für sie. Statt dem Baby ihre Milch zu geben, überlässt sie ihm Blut…

Die Übersetzung

Die Übersetzungen weisen so viele Übersetzungs- und Druckfehler auf, dass eine Liste hier zu weit führen würde.

Ein Fehler darf aber nicht unerwähnt bleiben, denn er tritt wiederholt auf. Auf S. 207 nennt der Übersetzer den „Event Horizon“ (Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs) kurzerhand „Abendhorizont“, also „Evening Horizon“. Was das eine mit dem anderen zu tun haben soll, wissen nur die Götter des Wörterbuchs.

Auf S. 255 ist die Rede von einem „Drive-in-Bequemlichkeitscenter“. In USA sind solche „Leisure Centers“ unsere Fitness- und Wellness-Zentren. Aber die Frage bleibt offen, warum man in ein solches Zentrum hineinFAHREN sollte. Vielleicht ist ja ein Einkaufszentrum gemeint, wie ich in meiner Zusammenfassung nahelege.

Unterm Strich

Mit Silverberg und Pohl sind zwei Veteranen unter den Beiträgern: Ihre Erzählungen sind mitnichten die schlechtesten. Aus dem Cyberpunk-Lager kommen die zwei wichtigsten Vertreter, nämlich Bruce Sterling und William Gibson. Dass dies bereits 1982/83 erfolgte – der Hype dauerte bis einschließlich 1986 – spricht für den Scharfblick des Herausgebers.

Es sind erfreulich zahlreiche weibliche Autoren: Altmeisterin Le Guin erfreut mit der erfundenen Antarktis-Expedition, die nur aus Frauen bestand; die Feministin Joanna Russ erfindet eine mittelalterliche Heilige, Connie Willis startet ihre erfolgreiche Serie von historischen Expeditionen in die Vergangenheit, und Nancy Kress strengt den Leser mit einer neuen Form des Theaterspielens an.

Neben diesen drei Gruppen gibt es noch die Mitspieler. Unter diesen ragt zweifellos der Physiker Gregory Benford mit seiner umwerfenden Action-Story „Relativistische Effekte“ heraus. Er wendet Einsteins Relativitätstheorie auch auf zwischenmenschliche Relationen an. Bill Johnson schließt sich der Thematik nahtlos in seinem Actionthriller „Treffpunkt Apogäum“ an, in der Schatzsucher am Rande eines Schwarzen Lochs auf unerwartete Schwierigkeiten stoßen.

Thomas M. Disch, der Autor von „Camp Concentration“ und „Angoulême“ (dem allerersten Namen von New York City), demonstriert die verhängnisvollen Folgen einer Gedächtnislöschung, Bruce McAllister zeichnet das Bild einer verzweifelten Ehefrau, die nun einen Klon ihres Mannes aufziehen soll. Etwas aus dem Rahmen fällt die witzige Kurzgeschichte „Die Werbung um Schlepper-Sadie“ von O. Niemand, einem Autor, der offensichtlich anonym bleiben wollte. Die Story in der Tradition von O. Henry folgt durchaus spannend der Ermittlung eines Cops mit Filmriss, der auf die verehrte Geliebte eines Aliens stößt.

Insgesamt ist die Auswahl zwischen männlichen und weiblichen weitaus ausgewogener als frühere jahresbesten-Anthologien. Was so positiv zu bewerten ist, kann aber die Tatsache nicht kaschieren, dass alle Beiträge aus den USA stammen. Das steht auch auf der Rückseite des Einbandes: „Die schönsten AMERIKANISCHEN SF-Stories des Jahres“. Insofern kann man die drei Best-of-Bände von Terry Carr nur als ERGÄNZUNG zu den international und europäisch orientierten „SF-Story-Readern “ betrachten, die Wolfgang Jeschke seinerzeit selbst herausgab.

Gerade dieser dritte Carr-Band macht deutlich, wie begrenzt die SF-Thematik bei den männlichen Autoren ist: Immer wieder extreme Astrophysik wird wiedergekäut, wohingegen die Cyberpunks sich endlich mal einer sozialen Komponente annehmen, wie Gibson zeigt. Thomas M. Disch war ein Anhänger der europäischen New Wave und fasst Zukunftsliteratur ganz anders auf als die Altmeister Pohl und Silverberg. Er steht dem Verständnis, das die weiblichen Autoren von SF haben, viel näher: Zwischenmenschliche Beziehungen stehen im Mittelpunkt. Was dem Band noch fehlt, ist deshalb eine Story von James Tiptree jr. alias Alice Sheldon.

Taschenbuch: 462 Seiten
Originaltitel: The Best Science Fiction of the Year #12, 1983.
Aus dem Englischen von diverse Übersetzern.
ISBN-13: 9783453311237

www.heyne.de

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