Wilson, Robert Charles – Spin

Robert Charles Wilson (* 1953, Kalifornien) wurde bereits mit dem renommierten |Philip K. Dick Award| („Mysterium“, 1994, nicht übersetzt) sowie dem |John W. Campbell Award| für [„Die Chronolithen“ 1816 (2002) ausgezeichnet. Sein ebenfalls ausgezeichneter Roman „Darwinia“ erhielt den kanadischen |Aurora Award| und war für den |Hugo Award 1999| nominiert.

Der hier vorgestellte Roman „Spin“ wurde zwischenzeitlich übrigens ebenfalls für den |Hugo Award 2006| vorgeschlagen, was für die Konstanz und Qualität des Autors spricht.

Wilson greift in „Spin“ erneut ein bereits in den „Chronolithen“ behandeltes Thema auf: Wie beeinflussen menschliche Erwartungen ihr Verhalten und die Zukunft? Doch „Spin“ ist kein bloßer Neuaufguss, die Handlung dehnt sich diesmal von der Erde bis hin zum Mars und darüber hinaus aus, Raumfahrt und Astrophysik sind von zentraler Bedeutung für das zweite große Motiv des Romans: Menschliche Kolonisation und Evolution im Kosmos.

_Die Sterne erlöschen_

Eines Nachts sitzen der junge Tyler Dupree und seine Freunde Jason und Diane Lawton im Garten und beobachten ihre Nachbarn durch ein Fernglas. Völlig unerwartet verschwinden plötzlich die Sterne vom Himmel. Noch weiß keiner der Drei, dass die Zeit des später als „Spin“ bezeichneten Phänomens begonnen hat.

Eine Art Energieschirm hat die gesamte Erde umhüllt und vom Licht der Sterne abgeschnitten. Wie man später herausfindet, auch von dem der Sonne. Eine künstliche Sonne geht jeden Morgen auf und beleuchtet die Erde. Noch schlimmer als der Verlust der Satellitenkommunikation ist die Erkenntnis, dass die Erde verlangsamt oder der Rest des Universums beschleunigt wurde: Zurückkehrende russische Kosmonauten berichten, sie hätten wochenlang die umhüllte, schwarze Erde umkreist. Dabei sind sie im Moment der Umhüllung notgelandet. Man findet heraus, dass außerhalb der Barriere für jede Sekunde auf der Erde 3,17 Jahre vergehen …

Die Barriere entpuppt sich als eine Art schützende Membran, da Raketen sie passieren und auch wieder zurückkehren können. Aber vor den schädlichen Folgen permanenter direkter Sonneneinstrahlung auf eine unglaublich verlangsamte Erde schützt sie die Menschheit. Diese stellt sich die Frage: Wer steht hinter dem Spin? Warum wurde die Erde umhüllt und verlangsamt, was bezwecken die Unbekannten, die schließlich nur noch als die „Hypothetischen“ bezeichnet werden?

_Das Ende der Welt und die Schöpfung einer neuen_

Der „Spin“ wird zum festen Bestandteil des menschlichen Lebens. Bald werden die ersten Generationen geboren, die nie die Sterne mit eigenen Augen gesehen haben. Jasons geschäftlich erfolgreicher Vater E.D. Lawton hat sein ohnehin großes Vermögen durch die Produktion von Aerostaten (Fesselballons), welche die ausgefallenen Satelliten ersetzen, noch weiter erhöht und gehört zu den Gründern der |Perihelion|-Stiftung, die sich der Erforschung des Spins und der Hypothetischen widmet. Sein hochbegabter Sohn Jason wächst als Wissenschaftler in Führungspositionen der Stiftung hinein, die bald einen globalen Machtfaktor darstellt.

Tyler wird Mediziner, während Jasons Schwester Diane, die er seit Jahren unerwidert liebt, sich religiösen Gruppen anschließt, die ein baldiges Ende der Welt propagieren und den unerklärlichen Spin auf verschiedenste Weisen religiös interpretieren. Neue Krankheiten und Seuchen werden als Prüfung der Hypothetischen angesehen. Die Tierseuche KVES sorgt bei Kühen für eine intensive Rotfärbung der Haut und des Fells, was diverse Sekten biblisch deuten und sie dazu motiviert, ein reinrotes Kalb zu züchten, mit dessen Blut sie die Menschheit „reinigen“ wollen.

Jason erläutert Tyler seine Befürchtungen und Pläne. Anstatt wie weite Teile der Menschheit in einer Endzeitstimmung zu erstarren, hat er ehrgeizige Pläne. Die extreme Verlangsamung der Erde und das entsprechend rasende Vergehen der Zeit außerhalb sind Bedrohung und Chance zugleich. In weniger als einem Erdjahrhundert droht die Sonne sich in das Stadium eines roten Riesen weiterzuentwickeln und die inneren Planeten inklusive der Erde zu verschlingen. Keiner weiß, ob der Schirm der Hypothetischen die Menschheit auch davor schützt. Doch diese extreme Zeitdifferenz macht etwas möglich, von dem man bisher nur träumen konnte: Innerhalb weniger Jahrzehnte könnte man den Mars terraformen und kolonisieren – und dem Spin entkommen!

Mehr als genug Zeit hat man: Ein Monat auf der Erde entspricht 8,3 Millionen Jahren, ein Jahr zirka einhundert Millionen Jahren. Das Experiment wird unter der Leitung |Perihelions| gestartet und erweist sich als Erfolg. Der Mars wird erfolgreich besiedelt und eine Zivilisation entsteht. Doch zum Entsetzen der Erdmenschen wird auch diese nicht vom „Spin“ verschont. Doch ein Marsianer kann die Erde noch erreichen …

_Endzeit, Ecopoiesis und Evolution _

„Spin“ vereinigt drei Lieblingsthemen Wilsons, die zusammen erfreulicherweise noch mehr ergeben als nur die Summe der Teile. Standen bei den „Chronolithen“ das menschliche Verhalten und seine Auswirkungen angesichts erschütternder, weltverändernder Umstände im Mittelpunkt, hat Wilson den Fokus in „Spin“ auf Kosmologie und Astronomie verschoben, verbunden mit Evolutionstheorien.

Die Furcht vor den „Hypothetischen“ und die religiöse Verehrung, die ihnen zuteil wird, zeigt, wie viel stärker der (Aber-)Glaube in Zeiten sein kann, in denen die Wissenschaft scheitert und Phänomene nicht erklären kann. Selbst Jason muss dies eingestehen, trotzdem kann er einen Bruch in der Beziehung zu seiner ihr Heil in der Religion suchenden Schwester nicht vermeiden.

Tyler Dupree, der als Ich-Erzähler den Leser durch den Roman begleitet, ist wie bereits Scott Warden in „Die Chronolithen“ ein eher langweiliger Durchschnittstyp, der im Schatten großer Personen an den Ereignissen beteiligt ist. Als Freund der Familie Lawton hat er Kontakt zu dem zynischen Geschäftsmann E.D., der in einer konfliktreichen Beziehung zu seinem von ihm stark geförderten und zur Leistung angetriebenen Sohn Jason steht. Die Familie Lawton ist ein Musterbeispiel für die Gesellschaft des Spins. E. D. ist ein ultrakapitalistisches Relikt der Prä-Spin-Zeit, das sich nicht anpassen kann und will, während seine Frau Carol, die schon vorher eine Alkoholikerin war, von der Flasche nicht mehr loskommt. Jason ist ein scharfsinniger Denker, der seine intellektuelle Überlegenheit andere oft in verletzender Weise spüren lässt. Er ist vom Spin besessen, er ist die treibende Kraft im „Kampf“ gegen den Spin. Seine Schwester Diane stellt das Sorgenkind dar; wie viele andere Menschen flüchtet sie sich in die Lehren religiöser Sekten.

Dieses Personenschema ist Wilson-Lesern bereits aus den „Chronolithen“ hinlänglich bekannt, die Fixierung Tylers auf Diane ist nicht überzeugend und unnötig. Tylers wenige, stark fixierte Interessen gepaart mit seinen sozialen Problemen bei normaler beziehungsweise überdurchschnittlicher Intelligenz deuten auf das dem Autismus verwandte Asperger-Syndrom hin. Spuren und Andeutungen darauf finden sich an mehreren Stellen des Romans, sollten aber keine Entschuldigung dafür sein, dass nicht nur Tyler eher ein Konzept verkörpert denn eine reale Person. Die Charaktere wirken somit leider etwas schematisch, wie Abziehbilder der entsprechenden Chronolithen-Charaktere, bei denen sich Wilson mehr Mühe und Zeit für eine glaubhaftere Charakterisierung gelassen hat. Der religiöse und massenpsychologische Teil der Handlung ist sehr deutlich von den „Chronolithen“ inspiriert, was für seine Qualität bürgt, leider aber auch bereits allzu bekannt ist. Jedoch konzentriert sich Wilson in „Spin“ nicht nur auf diesen Aspekt; ihm war sehr wohl bewusst, dass er diesen Komplex bereits erschöpfend behandelt hat.

Was „Spin“ auszeichnet, ist die von Wilson inzwischen zur Meisterschaft entwickelte Kunst, interessante Fragen aufzuwerfen und den Leser häppchenweise mit Informationen zu füttern, die andererseits neue Fragen aufwerfen, und einige der bisherigen Fragen zumindest teilweise zu beantworten. Das Themenspektrum ist sehr breit und daher ungemein abwechslungsreich; angefangen bei Massenpsychologie und –hysterie, werden Themen wie menschliche Evolution und Raumfahrt mit der Besiedlung des Mars und Kosmologie verquickt.

Was Wilson auszeichnet und ehrt, ist, dass er all dies in einem einzigen Roman mit 555 Seiten untergebracht hat. Viele seiner Kollegen hätten daraus einen mehrbändigen Zyklus geschaffen und die faszinierende Ideenflut verdünnt und totgeredet. Er packt unheimlich viele phantastische Ideen in diesen Roman, der deshalb stets unterhaltsam ist und zum Weiterlesen motiviert. Das gelungene Ende belohnt den Leser mit dem viel zitierten „sense of wonder“, der vielen modernen Science-Fiction-Romanen ein wenig abhanden gekommen ist. Zwar ist auch bei „Spin“ ähnlich wie bei den „Chronolithen“ eher der Weg das Ziel, dieses Mal endet Wilsons Roman jedoch wesentlich befriedigender als die in dieser Hinsicht schwachen „Chronolithen“.

„Spin“ stellt Wilsons Meisterwerk da. Es verbindet die besten Elemente seiner bisherigen und bereits vorzüglichen Romane, einzig die etwas einfallslose schematische Charakterisierung ist ein kleiner Wermutstropfen dieses durch und durch gelungenen Romans. „Spin“ zieht den Leser in seinen Bann; hat man einmal angefangen zu lesen, will man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen.

Homepage des Autors:
http://www.robertcharleswilson.com/

[„Die Chronolithen“ 1816
[„Darwinia“ 92

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