Kate Wilhelm (Hrsg.) – Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod (NEBULA Award Stories 9)

Der Innenraum der Science Fiction: Schlachtfelder der Zukunft

Dieser Auswahlband enthält drei preisgekrönte Nebula-Stories aus dem Jahr 1973 sowie sechs für den Preis nominierte Erzählungen von bekannten AutorInnen wie Harlan Ellison, Norman Spinrad, Gene Wolfe, James Tiptree jr. (= Alice Sheldon), Carol Emshwiller, Ben Bova, Vonda McIntyre, George R.R. Martin und Edward Bryant.

Die Herausgeberin

Die 1928 geborene US-Autorin Kate Wilhelm ist seit 1963 mit dem Science Fiction-Herausgeber Damon Knight verheiratet und eine der wichtigsten Science Fiction-Schriftstellerinnen (nur in Europa liest man kaum noch etwas von ihr). Sie begann bereits 1956 Stories zu veröffentlichen und hat sich über die Jahrzehnte hinweg durch zahlreiche Romane und Storysammlungen den Ruf erworben, im Genre vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsromane zu schreiben und außerhalb des Genres gute Kriminalromane.

In der amerikanischen SF-Gemeinde genießt Wilhelm einen prominenten Ruf. Erstens leitete sie einen der wichtigsten Lehrgänge für angehende SF-AutorInnen: den „Clarion Science Fiction Writers‘ Workshop“ und zweitens schaffte sie es (wie neben ihr wohl nur noch Ursula K. Le Guin) eine Brücke aus dem Genre-Ghetto hin zur allgemeinen Belletristik zu schlagen.

Bei uns erschienen von ihr folgende Bücher: Der Clewiston-Test (1976), Hier sangen früher Vögel (1976), Fühlbare Schatten (1981), Huysmans Schoßtierchen, Inseln im Chaos (1991), Kinder des Windes (Collection, 1989), Margaret und ich (1971), Somerset träumt (Collection), Die Tür ins Dunkel, Verrückte Zeit, Winterlicher Strand (1981) und Wacholderzeit (1979). „Winterlicher Strand“ wurde verfilmt. (Ein vollständiges Verzeichnis aller übersetzter Stories findet sich im Heyne Science Fiction & Fantasy Programm, ISBN 3-453-14016-8.)

Die Erzählungen

1) Gene Wolfe: Der Tod des Dr. Island (Nebula Award 1973)

Der junge Nicholas befindet sich zusammen mit anderen Patienten auf einer künstlichen Welt, die ihm als Therapie dienen soll. Er ist nämlich krankhaft aggressiv veranlagt und musste sogar eine Hirnoperation über sich ergehen lassen, bei der seine beiden Hirnhälften getrennt wurden. Aber seine Mitpatienten Ignacio und Diane sind auch nicht gerade angenehme Mitbewohner dieser merkwürdigen Tropeninsel. Ignacio redet von sich nur in der dritten Person und ist ebenfalls aggressiv, so dass er bei der ersten Begegnung sofort Nicholas verprügelt. Und Diane neigt zur Katatonie. Wenigstens ist sie dem Jungen sympathisch, obwohl oder weil sie stets unbekleidet herumläuft.

In allen Dingen versteckt sich der automatisierte Arzt dieses Sanatoriums, das in einer Umlaufbahn um den Planeten Jupiter kreist. Dieser Arzt, wie könnte es anders sein, nennt sich Dr. Eiland. Er spricht durch die Äffchen auf den Bäumen, durch die Wellen am Strand und die Bäume im Zentrum. Er versucht Nicholas klarzumachen, wie seine Therapie funktioniert. Er verkörpere die Gesellschaft, in die Nicholas in naher Zukunft wiedereingegliedert werden soll. Der Junge glaubt ihm nicht.

Und er hat recht, Dr. Eiland zu misstrauen, denn dieser lässt zu, dass Ignacio Diane tötet. Es sei nur zu Ignacios Bestem, behauptet Dr. Eiland, und Diane sei eh schon sterbenskrank gewesen. Für den Mord rächt sich Nicholas mit einer Attacke gegen Dr. Eiland selbst…

Mein Eindruck

Die preisgekrönte Geschichte erfordert vom Leser jede Menge Geduld, denn sie ist nicht nur rund 60 Seiten lang, sondern auch fast nur in Dialogen geschrieben. Diese sind zwar leicht lesbar, müssen aber dekodiert werden, um Rückschlüsse über die Position und Beschaffenheit dieser kleinen Satelliten-Welt zu erhalten. So ist es beispielsweise schwierig sich vorzustellen, wie sich einer der Bewohner nicht nur einmal selbst sehen kann – wegen der konkaven Krümmung des Horizonts -, sondern gleich vierfach.

Dass eine Künstliche Intelligenz diese Welt überwacht und ihre Bewohner betreut, ist ganz natürlich: Ein solcher Arzt muss allgegenwärtig sein. Sätze wie „Die Wellen flüsterten“ sind so erklärbar. Das Schwierige an dieser Irrenanstalt sind natürlich die Irren: Sie reden manchmal merkwürdiges Zeug, und dass sie sich gegenseitig umbringen wollen, macht es auch nicht einfacher.

Die dritte Ebene besteht in der Relevanz dieser Versuchsanordnung für unsere Welt. Der Arzt, die KI Dr. Eiland, lässt sich leicht als gesellschaftliches Über-Ich, als Gott oder transzendente Ebene auffassen, und die Patienten entsprechen dann uns. Soweit, so gut. Das Besondere ist nun das, was der Titel andeutet: Der Tod, den Dr. Eiland bereithält, ist ein ganz besonders schmerzhafter, wenn man seinen Nächsten liebt oder mag, so wie Nicholas Diane mag. Warum hat Dr. Eiland ihre Ermordung zugelassen, ist Nicholas’ zentrale Frage. Und Dr. Eiland antwortet, dass dieser Tod einen therapeutischen Zweck habe: „ein Tod, der einer anderen Person helfen könnte“ (S. 79).

Der Leser muss sich fragen, ob eine solche Art von therapeutischem Tod auch zulassen würde, dass Millionen von Juden vergast würden, um so „die arische Rasse“ zu retten (die bekanntlich eine Fiktion ist). Oder auch eugenische Experimente. Aber solche Assoziationen hatte der Autor wohl nicht im Sinn. Jedenfalls lädt Dr. Eiland in Nicholas’ Augen Schuld auf sich und soll dafür büßen. Selbst wenn es Nicholas’ Welt zerstören würde und damit auch ihn…

Diese Geschichte der Selbstbehauptung hat sicherlich die amerikanischen Leser erfreut, aber sie lässt sich auf vielerlei Weise deuten. Der Autor hat sich einen Spaß daraus gemacht, die drei Schlüsselwörter „Tod – Doktor – Eiland“ ein paarmal neu zu kombinieren und dazu jeweils eine Story zu schreiben. So erschien beispielsweise 1971 auch „Dr. Deaths Insel und andere Geschichten“ (in „Der Bonsai-Mensch“, vgl. meinen Bericht). Das Thema der Psychotherapie griff Wolfe auch in seinem Roman „Der fünfte Kopf des Zerberus“ wieder auf, ebenfalls mit einem Jungen.

2) Edward Bryant: Der Hai

Der Haiforscher Folger ist ein Kriegsveteran und lebt jetzt irgendwo an der südamerikanischen Küste. Der Krieg wurde nicht nur mit Raketen usw. geführt, sondern auch mit aufgerüsteten Meerestieren wie Haien, Mörderwalen, Delphinen und Tintenfischen. Er war auf den Falkland-Inseln auf einer Forschungsstation, als ein Programm zur Steuerung solcher Tiere begann. Seine Freundin Valerie wollte schon immer ein Hai sein und ließ ihr Gehirn einem Großen Weißen Hai einpflanzen. Mittels Sonex-Implantat konnte er sich mit ihr rudimentär verständigen. Bis sie ihm den Arm abbiss…

Der Krieg ist vorüber und Folger lebt genügsam mit seiner Haushälterin Maria zusammen, als zwei Fremde auftauchen. Es sind Leute von der amerikanischen Regierung, die auf das Fachwissen des Veteranen zurückgreifen wollen: Er soll auf Guam lehren – oder sterben. Er bedingt sich Bedenkzeit aus, während der er seine Erinnerungen an Valerie sichten und bewerten kann. Dann trifft er eine Entscheidung und er geht ins Wasser, um dort dem Großen Weißen Hai zu begegnen. Die beiden Regierungsagenten lassen ebenfalls nicht lange auf sich warten, um ihn zu erledigen. Als der Hai endlich auftaucht, kommt es zur Auseinandersetzung.

Mein Eindruck

Offensichtlich spielt Folgers Geschichte auf zwei Zeitebenen, und der Kniff, sie beide zu vereinen, besteht darin, die Vergangenheit, die um die Hai-Werdung Valeries kreist, in die Gegenwart zu holen. Dies geht natürlich einfach dadurch, dass sich Folger daran erinnert, während er in der Gegenwart mit den zwei Regierungsagenten spricht und kämpft. Die Erinnerungen sind als kursiv gesetzter Text leicht zu erkennen, so dass es kein Vertun gibt. So lässt sich die Story leicht und schnell lesen.

Von diesem literarischen Detail abgesehen, dreht sich Folgers Geschichte um Krieg, Tod und Liebe, also um sehr grundlegende Dinge. Das Besondere daran ist das Ambiente der Unterwasserwelt und die entsprechenden Tiere, die im Krieg zum Einsatz kommen. Dass Valerie ausgerechnet als Großer Weißer Hai weiterleben will, ist schwierig plausibel zu machen, aber in mehreren Szenen äußert und begründet sie diesen Wunsch. Sie ist weiß Gott keine einfache Geliebte.

Die Schwierigkeit, die ich mit dem Text habe, ist vielmehr, dass überhaupt noch Meerestiere im Krieg eingesetzt werden. Es muss sich um einen konventionell geführten Krieg handeln, nicht um einen atomaren. Und das ist im Grunde ziemlich unwahrscheinlich. Es sei denn, man nimmt an, dass die USA keine Atomstaaten angreifen, sondern kleinere, nicht atomar bewaffnete Staaten. Daher auch die Bedeutung des Marianengrabens und Guams. Aber Zweifel bleiben, selbst wenn man weiß, dass es schon seit dem 2. Weltkrieg Experimente gegeben hat, Delphine zum Kriegseinsatz abzurichten, etwa zum Minenräumen oder Kundschaften.

3) George R.R. Martin: Morgennebel (With Morning Comes Mistfall, 1973)

Ein Journalist besucht Wraithworld, um anlässlich einer Expedition eine Reihe von Reportagen für die Erde zu schreiben. Die Expedition von Dr. Dubowski soll ein für alle Mal die Frage klären, ob es auf dieser bei Touristen beliebten Welt wirklich Geister gibt. Die sollen bereits 22 Menschen auf dem gewissen haben.

Sanders lebt von den Touristen, denn er hat hier ein ein schönes Hotel gebaut, auf einer Bergspitze, und ihm den Namen „Wolkenburg“ gegeben. Denn das auffälligste und geheimnisvollste Merkmal des Planeten sind seine undurchdringlichen Nebel, die morgens in die Täler sinken und abends wieder zu den zahlreichen Berggipfeln zurückkehren, über die besonders der Red Ghost emporragt – wildromantisch, finden die Touristen.

Und nun kommt Dubowski, um die Wahrheit herauszufinden, die Romantik zu vertreiben, die tödlichen Geister zu jagen. „Mordende Geister – Unfug!“, ruft Dubowski und schickt seine Robosonden aus. Kein Wunder, dass Sanders nicht gut auf ihn zu sprechen ist, sieht er doch sein Geschäft in Gefahr. Der Reporter fürchtet, dass er Dubowski und seinen Assistenten etwas antun könnte. Währenddessen verliebt er sich in die Nebelwälder…

Mein Eindruck

Zweifellos eine der schönsten Geschichten des frühen, noch ziemlich romantisch veranlagten George R.R. Martin, der bei uns mehr für seine zupackende epische Fantasy als für seine Science Fiction bekannt ist. Dabei war Martins Stärke am Anfang stets das Heraufbeschwören einer romantischen Stimmung, einer ganz speziellen Atmosphäre, die meist elegisch und todgeweiht war: nostalgische Romantik.

Das, was da beklagt wurde, war stets der Verlust etwas ganz Besonderen, meist eines Wunders. In „Morgennebel“ sind es die Geister im Nebel, die durch das Licht der wissenschaftlichen Wahrheit ein für alle Mal vertrieben werden. Und so den Planeten seiner Attraktivität berauben. Mit einer kleinen Verbeugung vor Ray Bradbury, ebenfalls einem großen Romantiker.

Letzten Endes stellt Martin die Frage, was wir eigentlich dort draußen zwischen den Sternen wollen: die desillusionierende Wahrheit, die uns angeblich frei macht – oder das romantische Wunder, das Geheimnis, die Geschichten, die unsere Phantasie entzünden. Ich weiß, was ich wählen würde.

4) Ben Bova: Die Zukunft der Wissenschaft – Prometheus, Apollo, Athene

Dies ist keine Geschichte, sondern ein langer, erzählender Essay. Der Autor, der offenbar viel gelesen hat, zeigt auf, wie sich die Menschheit jetzt – also anno 1973 – weiterentwickeln müsste, um nicht zu scheitern. Dazu braucht sie drei Gaben: die des Prometheus, des Apoll und der Athene.

Prometheus brachte den Menschen das Feuer und damit die Erfüllung des grundlegenden Wunsches: Wärme, schütze und ernähre mich. Aber mit der Erfindung der Technologie und der Energienutzung ist der Mensch inzwischen so erfolgreich geworden, dass seine Industrie die Umwelt und seine Lebensgrundlage zerstört. Also muss eine Alternative her.

Die Gabe Apolls besteht in der friedlichen Nutzung der Sonnenenergie. Darunter versteht der Autor nicht nur Sonnenkollektoren und dergleichen, sondern in erster Linie Kernfusion, also die Verschmelzung von Atomen schweren Wasserstoffs (Deuterium). Wie jeder weiß, gibt es solche Fusionsreaktoren bis heute nicht, obwohl sie enorm energiereich wären und praktisch keinen radioaktiven Abfall produzieren würden. Warum? Diese Frage lässt der Autor unbeantwortet, aber sie ist bekannt: Es ist erst einmal immens viel Energie nötig, um die Fusion in Gang zu bringen.

Um die gottähnlichen Menschen, die die Fusion beherrschen und sich auf andere Welten ausbreiten, vor der psychologischen Selbstzerstörung zu bewahren, ist jedoch die dritte Gabe nötig: Verstehen und Weisheit. Verstehen des eigenen Körpers, Geistes und Erbguts, sowie die Weisheit, diese Erkenntnisse „richtig“ anzuwenden. Erst dann wird die Expansion in den Weltraum gelingen, die nötig ist, sobald wir die Alte Erde vollständig ausgesaugt haben.

Mein Eindruck

Die amerikanische Zukunftsgläubigkeit und hoffnungsfrohe Naivität dieses Essay ist anrührend. Inzwischen schauen wir desillusioniert auf solche Träumer zurück und betrachten die Scherben dessen, was sie erhofft haben. Prometheus und Apoll haben uns ihre Gaben nur unter hartnäckigem Widerstand überlassen, und Athenes Gabe angeht, so haben wir noch nicht mal die zweite Schicht der Erkenntnisse angekratzt – so etwa in der Genetik (Genomforschung, Biodesign), in der neurologie (wie funktioniert dieser Klumpen Hirnmasse überhaupt?) und vor allem Verhaltensforschung, wo immer noch Unmengen von Irrtümern den Weg zur Weisheit versperren.

Wenigstens gelingt es dem Autor, seine Argumentation sehr anschaulich und leicht lesbar vorzubringen, so dass niemand Schwierigkeiten mit dem Verstehen haben dürfte. Und obwohl noch kein Mensch zum Mars oder gar zu den rohstoffreichen Asteroiden geflogen ist, erlischt das Fünkchen Hoffnung nicht, dass uns dies bereits in 20 Jahren gelingen könnte.

5) Vonda McIntyre: Von Nebel, Gras und Sand (Nebula Award 1973)

In ferner Zukunft, einige Jahre nach einem atomaren Holocaust, leben die Menschen in Stämmen in der Wüste oder zusammengedrängt in den Ruinen der Städte. Ärzte wandern von ihrem Zentrum aus, um zu helfen.

Die junge Heilpraktikantin Schlange kuriert mit Hilfe von manipuliertem Schlangengift Verletzte und Todkranke, oft erfolgreich, machmal kommt sie auch zu spät. Sie kämpft gegen Fremdenangst und Ignoranz, dabei wird ihre Traumschlange getötet, mit der sie die Patienten beruhigt. Doch die Heiler können die Traumschlangen, die von fremden Welten stammen, nicht selbst züchten, sondern müssen sie in der alten Stadt kaufen. Dort jedoch wird Schlange abgewiesen.

Mein Eindruck

Das Buch ist nicht nur eine gelungene Synthese aus Science Fiction- und Fantasy-Elementen, sondern zugleich eine einfühlsame Studie einer jungen Frau, die im wesentlichen auf sich allein gestellt das Leben in einer lebensfeindlich gewordenen Welt meistert. Die Autorin macht weder den Fehler, eine problemlose Idylle zu schildern, noch zeigt sie die Heilerin als besser funktionerenden Mann. Vielmehr wird hier eine im Grunde realistische Geschichte im Fantasy-Gewand erzählt, und die Heldin bewältigt ihre Schweirigkeiten aus sich selbst heraus, durch Einsatz ihrer besonderen Fähigkeiten als Frau, als Mensch.

Zu der Zeit seiner Entstehung Anfang der siebziger Jahre dürfte die Schilderung von Ehegemeinschaften aus drei Mitglieder und von Dörfern, in der Familien aufgrund von Adoption zustandekommen, für einiges Aufsehen gesorgt haben. Auch die Themen Kindesmißbrauch und Vergewaltigung dürften hier zum ersten Mal in der SF aufgetaucht sein. Die hier abgedruckte Basis-Story des späteren Romans fehlt daher in kaum einer feministischen SF-Anthologie.

6) Harlan Ellison: Der Todesvogel (The Deathbird)

250.000 Jahre in der Zukunft ist die Erde leer und öde. Dennoch regt sich etwas. Im Herzen eines Vulkans schlummert der Körper von Nathan Stack, einem früheren Erben eines Industrieimperiums. Er wird aus seiner Magmablase durch ein mysteriöses Schattenwesen geweckt und geführt, bis sie an die Oberfläche gelangt sind. Dort ist es ziemlich garstig. Indem sie sich telepathisch verständigen, lernt Nathan, dass sein Führer den Namen Dira trägt und einer Rasse von Hütern angehört, die die Erde vor langer Zeit verlassen haben. Nur Dira hat noch einen Auftrag zu erfüllen.

Das Schattenwesen führt Nathan einen Berg empor, an dessen Spitze ein einsames Licht brennt. Wer kann es entzündet haben, fragt sich Nathan zu Recht. Dira, der ihn gegen allerlei Angreifer beschützt, verrät ihm, dass dort oben „Der Irre“ lebe. Und er habe es auf Nathan abgesehen. Als daher Nathan das Plateau vor dem Palast auf dem Gipfel erreicht, trifft ihn ein psychischer Angriff von großer Wucht. Dira feuert ihn an, sich dagegen zu wehren und endlich zu kämpfen… Und dann ist da noch der über allen kreisende Todesvogel…

Mein Eindruck

Doch so einfach macht es uns der Autor nicht, der für seine Provokationen und seine Raffinesse bekannt ist. Dieser recht mythologisch anmutende und auch so erzählte Text soll, so die Rahmenhandlung, als Diskussionsgrundlage für einen Abendschulkurs in Literaturkritik dienen, ja, sogar als Anregung fürs Schreiben eigener Aufsätze. Das ist zwar albern, ironisiert aber den scheinbar bedeutungsschweren Binnentext so schön albern, dass man sich fragt, wen der Autor eigentlich auf die Schippe nehmen will.

Dazu muss man herausfinden, um was es bei Nathans Geschichte geht. Nathan ist der sehr ferne Nachfahre von Adam, dem ersten Mann. Seine erste Frau war bekanntlich nicht Eva, sondern Lilith, die Herrin der Dämonen. Und wenn es um Adam geht, dann auch unweigerlich auch ums Paradies, die Hölle und den Baum der Erkenntnis, die Vertreibung – und Gott. Unschwer ist Nathan als Adam und Dira als Schlange zu erkennen. Wie sich herausstellt, spielt „Der Irre“ die Rolle von Gott. Es muss zu einer finalen Auseinandersetzung kommen, bei der es darauf ankommt, die Erde, Adams/Nathans Mutter, von Gott zu befreien und so zu erlösen. Dann können alle „nach Hause gehen“: Nathan, Dira und der Todesvogel.

Diese ziemliche ketzerische Aussage – es sei die Pflicht des Menschen, sich und die Erde von Gott zu befreien – wird schlau versteckt und verklausuliert formuliert. Natürlich kommt auch Nietzsches Spruch „Gott ist tot“ vor – als Diskussionsgrundlage für die Klasse.

Leider ist durch dieses Hinundher die Story keineswegs lesbar, sondern selbst eine Denksportaufgabe geworden. Solche Erzählungen konnte sich nur ein Kultautor wie Harlan Ellison erlauben, der unter anderem 1969 die preisgekrönte literarische Vorlage für den satirischen Post-Atomkriegs-Thriller „Ein Junge und sein Hund / Apokalypse 2024“ (siehe meinen Bericht) lieferte. Das fanden wohl auch die Juroren des Nebula Awards nicht so toll und verweigerten der Novelette einen Preis. Ellison ging leer aus. Dafür entschädigte ihn aber der HUGO Award 1974. Die Story nahm der Autor 1975 in die Sammlung „Deathbird Stories: A Pantheon of Modern Gods“ auf.

7) Norman Spinrad: Eine Frage der Schönheit

Mr. Harris ist ein Antiquitätenmakler der Extraklasse. Da New York City nach dem Bürgerkrieg ziemlich zerstört ist, verfügt er jedoch über ein schier unerschöpfliches Reservoir an Altertümer, die er an den Mann und die Frau bringen kann. Die amerikanische Behörde für Nationale Antiquitäten ist ihm gerne behilflich, den alten Plunder verscherbeln.

Mr Shiburo Ito ist sein neuester Kunde, doch der japanische großindustrielle hat ein besonders heikles Problem, das Mr Harris ihm lösen helfen soll. Itos Schwiegereltern sind japanische Künstler vom höchsten Rang der nationalen Schatzhüter. Folglich schauen sie auf Itos künstlerischen Geschmack hochnäsig herab, was den Haussegen ebenso schiefhängen lässt wie es die Ehe mit seiner Ehefrau gefährdet. Harris soll Abhilfe schaffen. Ein wunderbar erhaltenes altes Konzertplakat aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vermittelt Harris eine Ahnung, womit er rechnen kann: mit einer saftigen Provision.

Wollen mal sehn. Harris fliegt seinen anspruchsvollen Kunden zunächst zur Freiheitsstatue – leider hat sie ihren Kopf verloren. Doch die Gefühle und Rücksichtnahmen Itos machen ihm hier ebenso einen Strich durch die Rechnung wie beim altehrwürdigen, aber nahezu verfallenen Yankee-Stadion. Und erst recht die UN-Gebäude sind nicht Itos Ding. Harris lässt schon den Kopf hängen – eine Million Yen futsch! Da ruft Ito frohlockend aus, als habe er einen unermesslichen Schatz entdeckt: eine alte, marode Brücke erregt das Entzücken des Japaners?, wundert sich Harris. Es ist die Brooklyn Bridge…

Mein Eindruck

Wie sich die Zeiten ändern. Anfang des 20. Jahrhunderts waren es die neureichen Räuberbarone New York Citys, die sich in Europa Altertümer beschafften, um sie in Amerika wiederaufzubauen. Etwa 200 Jahre später sind es die einst besiegten Japaner, die sich ihrerseits in Amerika bedienen.

Die Geschichte funktioniert zum einen durch den zynischen Humor des Maklers, der vor keiner abfälligen Bemerkung über den vergangenen Glanz der USA zurückschreckt. Dieser Zynismus steht in amüsantem Kontrast zu der feinfühligen Höflichkeit, derer er sich in seiner Wortwahl befleißigen muss, um Mr. Itos Gefühle nicht zu verletzen – die Japaner haben ja eine merkwürdige Etikette.

Zum anderen ist die Story eine verkappte Retourkutsche und Mahnung an die USA. Wartet’s nur ab, ihr großmäuligen Yankees, scheint der Autor zu sagen, dann werdet ihr genauso heruntergekommen sein wie die Innenstädte von Manchester und Birmingham, von Glasgow ganz zu schweigen! Heute hui, morgen pfui! Und die Japaner waren bereits 1973 als künftige Herren in Fernost erkennbar – und das war lange bevor Michael Crichton seinen Thriller „Nippon Connection“ (verfilmt mit Sean Connery und Wesley Snipes) schrieb. Insofern ist die Story nicht nur Hohn und Mahnung, sondern auch eine ernste Warnung.

8) James Tiptree jr. (=Alice Sheldon): Der Plan ist Liebe und Tod (Nebula Award 1973)

Der Ich-Erzähler ist ein Alien, eine Mischung aus Panzerechse und Spinne. Die ganze Story dreht sich um Überleben und Fortpflanzung, auf sehr ungewöhnliche Weise.

Unser junges Monster wird wie seine Geschwister von der veränderten Mutter plötzlich verstoßen. Wer nicht schnell davonläuft, wird von ihr gefressen. Vorbei sind die Tage, da sie Schutz und Nahrung bot. Unser Monster schafft es, diesem ersten Verrat zu entkommen. Doch der Plan ist groß, und so ist das stetig wachsende Monster mit effektiven Waffen und starkem Panzer ausgestattet. Das Überleben klappt, doch seine Artgenossen weisen es drohend fort.

Auf der Suche nach Gesellschaft stößt es eines Tages auf eine kleine rosa schimmernde Kreatur, die ständig „Lieliluu“ piept und gurrt.. Doch statt sie zu fressen, wickelt er sie ein, denn er hat sich in das Wesen verliebt. Damit er mit seinem Liebling überleben kann, zieht er in eine Höhle, die er mit Beute vollstopft.

Von einem alten, gebrechlichen Artgenossen hat er erfahren, was der Plan vorsieht. Dass nämlich die Artgenossen in dem kommenden harten Winter, der jährlich länger wird, einander jagen und fressen. Nur der Gierigste wird überleben. Der Plan mag zwar groß sein, doch unser Monster gedenkt, sich ihm zu widersetzen, denn es ist ja intelligent, und die Kälte des Winters macht dumm. Auf diese Weise, so hofft es, werde es zusammen mit seinem rötlichen Liebling den langen Winter überstehen, bis die Tage wieder länger werden.

Als es so aussieht, als sei der Plan überwunden worden, beginnt sich der kleine Liebling zu verlieben, und es kommt zu einer Paarung und Befruchtung. Auf eine geradezu unheimliche Weise verändert sich der Liebling. Und da er nun Junge zu versorgen hat, braucht er nun viel Nahrung…

Mein Eindruck

Wenn es je so etwas wie eine antike Tragödie für Aliens geben sollte, so ist dies sicherlich der Prototyp dafür. Unser Jüngling hofft, mit seiner Intelligenz dem Diktat des „Plans“ widerstehen zu können. Doch das Diktat der Liebe macht ihm einen dicken Strich durch die Rechnung, und so wird des Monsters Intelligenz ausgehebelt, um der Herrschaft des Plans, d.h. der Triebe und des Instinkt, wird zur Geltung zu verhelfen.

Die Story ist sowohl ironisch, weil unser junger Held allen Illusionen der Jugend von Größe und Intelligenz erliegt, als auch tragisch, weil die Herrschaft des Triebes jedes Lernen, Weiterdenken und die Entwicklung der Art verhindert. Es ist ein ewiger Kreislauf, aus dem es keine Chance auf Entkommen gibt. Das ist einer der Gründe, warum die Story zeitlos wirken kann und in ihrer Emotionalität und subjektiven Darstellung den Leser direkt anspricht.

9) Carol Emshwiller: Die Kindheit des Menschenhelden

Noch eine Geschichte übers Muttersein, diesmal demonstriert an einem Jungen. Der Junge stellt sich vor, er wäre ein Astronaut und berühmt. Seine Gedanken wirbeln durcheinander, so dass am Schluss ein Bewusstseinsstrom daraus wird. Wir können nicht sicher sein, dass er sich tatsächlich draußen im All befindet, wo er neue Welten zu entdecken hat. Nein, vielmehr gilt es ein Rätsel zu lösen: „Was ist grün und zerquetscht und liegt im Rinnstein?“ Dreimal dürfen wir raten.

Mein Eindruck

Die Autorin schickt uns durch diesen recht modernen Text, der trügerisch einfach aussieht, weil er aus Dialogen besteht, der aber irreführend ist, weil sich keinerlei Handlung ergibt: Der gesamte Text besteht nur aus Erinnerungen. Aber wem gehören sie? Im Zentrum steht stets der Junge, der ständig an die wichtigste Person in seinem Leben denkt, an seine Mutter. Von einem Vater ist relativ wenig zu sehen.

Dem Leser beschleicht allmählich angesichts der wiederholten Frage „Was ist grün und zerquetscht und liegt im Rinnstein?“ ein schlimmer Verdacht. Nämlich, dass es sich dabei um eben diesen Jungen handelt, dessen Erinnerungen wir verfolgen. Es ist der letzte Film, den sein junges Bewusstsein abspult, bevor er den Geist aufgibt. Dadurch folgt die Autorin der Vorlage „Pincher Martin / Der Felsen des letzten Todes“ von William Golding (deutsch bei S. Fischer). Darin phantasiert der sterbende Marinesoldat, der im Krieg auf einem Felsen gestrandet ist, sein ganzes Leben, bevor er stirbt.

Das Vorwort

Nicht unterschlagen werden soll das tiefschürfende Vorwort der Herausgeberin Kate Wilhelm (siehe oben), das nicht weniger als zwölf dichtgedrängte Argumente umfasst. Sie fragt, was die Leser in diesem Genre zu finden hoffen und was es zu leisten vermag. Umwerfend ist ihr Diktum: „Metaphysiker versuchen die ultimative Natur der Wirklichkeit zu entdecken, und in diesem Sinne ist der Innenraum der Science Fiction metaphysische Fiktion.“ (S. 18)

Daran hat man erstmal eine ganze Weile zu knabbern, bis man darauf kommt, dass sie der SF eine ebenso hohe Rolle zuweist wie etwa einem philosophischen Werk. Aber was ist der „Innenraum“, der „inner space“ im Gegensatz zum „outer space“? Sie gibt die Antwort selbst: Hier ist das Schlachtfeld, das sich um 1973 eröffnete: Verhaltensforschung (Skinner), Kinderpsychologie (Jean Piaget), Neurophysiologie, Sprachtheorie (Chomsky) – sie nennt sie alle. Und auffällig ist, dass sich insbesondere weibliche Autoren dieses „inner space“ angenommen – und genau das bewist ihre Auswahl, in der nicht weniger als drei von neun Autoren weiblich sind – ein sehr guter Anteil.

Die Übersetzung

Leni Sobez ist wirklich nicht die beste SF-Übersetzerin der Welt. Dieser Eindruck verfestigte sich mit jeder Seite, die ich von ihr lesen musste. Schließlich kamen auf 232 Textseiten immerhin 16 Fehler zusammen. Die meisten davon sind Flüchtigkeitsfehler, aber es gibt doch einige, die ein völliges Fehlen von Verständis für die amerikanische Kultur und, was für einen SF-Text noch schlimmer ist, für Astronomie vermissen lässt. Zugegeben, anno 1982 gab es weder Google noch Wikipedia, aber es gab die Encyclopedia Britannica, die Encyclopedia Americana und den Brockhaus. Alles Wissensquellen, die man hätte zu Hilfe nehmen können – wenn, ja wenn man damals fürs Übersetzen anständig bezahlt worden wäre, um sich diese Werke überhaupt leisten zu können.

Auf Seite 46 geht’s schon los: „Und du kommst von den Trojanischen Planeten? Und ich bin vom Äußeren Belt, glaube ich.“ Bei letzterem handelt es sich wohl um eine Zone des Asteroidengürtels, aber von den Trojanischen Planeten habe auch ich noch nie gehört, wohl aber von den Trojanern, kleinen Himmelskörpern…

Ich will nur die schlimmsten Fälle hervorheben. Dazu gehört auf Seite 198 die Erwähnung des „allersten Posters vom Willkommenen Tod“, gedruckt vom Fillmore West Rockkonzert-Veranstalter. Beim Willkommenen Tod kann es sich eigentlich nhur um eine ganz bestimmte Band handeln, nämlich um die Grateful Dead, die in den sechziger Jahren aufzutreten begann.

Auf Seite 237 findet sich eine krasse Fehlübersetzung. Das englische Wort „cement“ für Klebstoff wird dabei einfach stehengelassen, so dass der Beton-Baustoff „Zement“ daraus wird. Als der kleine Junge in Carol Emshwillers ein Modell zusammenklebt, wird daher dem deutschen Leser der Eindruck vermittelt, er betoniere es ein.

Damit will ich es bewenden lassen, obwohl mir nicht in den Kopf will, wie man „Mark Twain“ mit C schreiben kann (S. 196), denn es handelt sich bei „Mark“ nicht um einen Namen“, sondern um eine nautische Bezeichnung für Lotsen.

Unterm Strich

Diese Anthologie enthält drei meiner Lieblingsstories, nämlich Martins „Morgennebel“, Tiptrees „Der Plan ist Liebe und Tod“ sowie „Von Nebel, Gras und Sand“ der damals jungen Vonda McIntyre. Neben der romantischen Nostalgie George R.R. Martins wirkt die bizarre Tragödie Tiptrees besonders abgehoben. Als Kontrast liest sich McIntyres Heilerindrama wie eine Studie in Verständlichkeit. Auch ihr daraus entstandener Roman „Traumschlange“ lohnt sich.

Das Motiv des Krieges ist in den Erzählungen von Bryant, Spinrad und möglicherweise Emshwiller besonders deutlich, mal ernst, mal spaßig umgesetzt. Die mit dieser Katastrophe einhergehenden psychologischen und sozialen Veränderungen sind das Interessanteste daran, und die genannten Autoren haben sie gekonnt geschildert. Man könnte argumentieren, auch Harlan Ellisons Erde in 250.000 Jahren sei eine Welt nach dem letzten Krieg: wüst, leer, aber nicht unbewohnt. Dass hier der letzte Akt in der Geschichte des Menschen und seines Gottes aufgeführt werden soll, erscheint durchaus passend.

Der schwierigste Text ist neben Emshwillers Kurzgeschichte sicherlich die Novelle von Gene Wolfe. Selbst wenn sie leichtfüßig daherkommt und sich die Dialoge flüssig lesen lassen, so darf man doch der Idylle der Tropeninsel Dr. Eilands nicht trauen. Es geht hier wirklich um Leben und Tod, um Vernunft, Wahnsinn und Heilung – eine Art „Zauberberg“ der Science Fiction, mit einem Satelliten als Sanatorium.

Aus der Reihe fällt lediglich der Essay von Ben Bova, der keine Erzählung im herkömmlichen Sinn darstellt, aber dennoch erzählt, wenn er argumentiert. Für denjenigen, der sich in Astronomie. Physik und Raumfahrt einigermaßen auskennt, ist das der vielleicht leichteste Text des ganzen Bandes.

Wie man sieht, ist die Bandbreite dessen, was unter dem Etikett „Science Fiction“ angeboten wird, immens groß. Das wird auch so bleiben, denn seit in den fünfziger und sechziger Jahren die amerikanischen und britischen Medien die SF für sich entdeckt haben („Star Tek“, „The Incredibles“ usw.), gehört das Inventar der SF auch zur Popkultur. Was ich jedoch zunehmend vermisse, sind gewagte und ketzerische Gedankenspiele wie Tiptrees „Der Plan ist Liebe und Tod“ sowie „Der Todesvogel“ von Ellison.

Taschenbuch: 239 Seiten
Originaltitel: Nebula Stories Nine, 1974;
Aus dem Englischen von Leni Sobez
ISBN-13: 9783811867307

www.vpm.de

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