Clarke, Susanna – Jonathan Strange & Mr. Norrell

Sie schürt Hoffnungen und Befürchtungen zugleich, die Pressestimme des |Time Magazine|, die vorne auf dem Buchdeckel von Susanna Clarkes Debütroman „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ prangt: |“Ein Meisterwerk, das Tolkien Konkurrenz macht.“| Da mag der geneigte Fantasy-Leser einerseits auf ein höchst unterhaltsames Lesevergnügen hoffen, aber andererseits schwingen bei einem Tolkien-Vergleich immer auch starke Zweifel mit. Welcher Autor konnte einem solchen Vergleich bislang überhaupt standhalten? War so ein Vergleich schon mal irgendwann in der jüngeren Literaturgeschichte wirklich angemessen?

Auch im Fall von „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ist dieser Vergleich äußerst problematisch, schürt er doch leicht eine überzogene Erwartungshaltung, die am Ende eigentlich nur enttäuscht werden kann. Susanna Clarke ist nicht J.R.R. Tolkien, und mit Mittelerde, Hobbits und unsichtbar machenden Ringen hat ihr Roman schon mal gar nichts zu tun. Der Vergleich mit Tolkien kann sich also nur auf anderer Ebene abspielen und meint wohl auch eher den Einfallsreichtum der Autorin und den Umfang und Phantasiegehalt des Werkes – und nicht zuletzt eine entscheidende Grundsubstanz des Romans, die quasi das Salz in der Suppe ist: Magie.

Bücher über Zauberer sind zurzeit der letzte Schrei, und wer denkt da nicht gleich an einen gewissen bebrillten Teenager, der seit Jahren sämtliche Bestsellerlisten unsicher macht. Doch auch damit hat „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ nur wenig gemeinsam. Susanna Clarke bewegt sich mit ihrem Debüt in einem recht eigentümlichen Umfeld – sozusagen dem historischen Fantasy-Roman. „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ wirkt über weite Strecken wie ein historischer Roman, ergänzt um eine saftige Prise Magie und Zauberei.

Angesiedelt ist die Geschichte am Beginn des 19. Jahrhunderts in einem alternativen England. Der Leser erfährt zunächst einmal, wie es um die englische Zauberei (die offenbar auf Dekaden voller Ruhm und Glanz zurückblicken kann) bestellt ist. Zauberei wird nur noch theoretisch praktiziert (was der aufmerksame Leser sicherlich gleich als Widerspruch reklamieren möchte). Zauberei betreibt man nicht durch Zauberei, sondern nur, indem man wie ein wahrer Gentleman darüber diskutiert und sie studiert. Zu dieser Zeit betritt ein einscheinbarer älterer Herr die Bühne der Zauberei und stiftet einige Unruhe, indem er tatsächlich zaubert: Mr. Norrell.

Mr. Norrell ist sehr bemüht, der englischen Zauberei wieder zu Glanz und Ehre zu verhelfen, aber ebenso fest entschlossen, alle anderen Zauberer zu Stümpern und Scharlatanen zu degradieren, denn schließlich kann sich kein Zauberer mit ihm selbst messen. Mr. Norrell sieht sich selbst mehr oder weniger als den einzigen wirklichen Zauberer im ganzen Königreich an. Und so versteht es sich fast von selbst, dass er sich darum bemüht, seine Künste in den Dienst seiner Majestät zu stellen, um im Kampf gegen Napoleon von Nutzen zu sein.

Gleichzeitig nimmt Norrell, ganz gegen seine eigennützige und eigenbrötlerische Art, einen äußerst talentierten Schüler auf: Jonathan Strange – ein Mann, der das Talent dazu hätte, seinen Meister irgendwann zu überflügeln. Gemeinsam arbeiten Strange und Norrell im Auftrag der englischen Regierung daran, die englischen Truppen im Krieg gegen Napoleon zu unterstützen. Strange lernt schnell und wird schon recht bald alleine nach Spanien geschickt, um Lord Wellington und seine Truppen vor Ort tatkräftig zu unterstützen. Strange und Norrell verhelfen so der englischen Zauberei zu neuem Ruhm.

Doch je weiter Strange seine Kenntnisse vertieft, desto weiter entfernt er sich auch von seinem Lehrer Mr. Norrell. Zwischen den beiden bahnen sich erste Schwierigkeiten an, und als Strange seine von Norrell differierenden Ansichten zur Zauberei öffentlich kundzutun beginnt, entsteht ernsthafte Rivalität …

Was Susanna Clarke mit ihrem Debüt erschaffen hat, ist ein wahrhaftiger Schmöker. 1024 eng bedruckte Seiten – ein Buch wie geschaffen für ausgiebige Schmökerabende vor dem prasselnden Kaminfeuer. Susanna Clarke schafft es, dass man das Buch trotz des immensen Umfangs recht zügig durchliest. Leichtfüßig schickt sie den Leser durch die 69 Kapitel – erheitert und unterhält, fesselt und fasziniert.

Clarke gibt dem Ganzen den Anstrich eines historischen Dokuments. Gewitzt fügt sie immer wieder Fußnoten als Belege des Erzählten an, die auf historische (selbstverständlich fiktive) Zauberliteratur verweisen und erzählt im Kleingedruckten am Seitenende so manche lustige und unterhaltsame Anekdote. Das sprengt manchmal ein wenig den Rahmen einer verträglichen Fußnotengestaltung und kann sich, wie in einem Fall, auch schon mal über fünfeinhalb Seiten ziehen. Manchen Leser mag das irritieren, und auch für meinen Geschmack hätten es ruhig etwas weniger Fußnoten sein können, zugunsten von mehr in den Text eingebetteten Erklärungen, aber bei diesem Roman gehört dies offenbar zur besonderen Note, und bei einem Buch dieses Umfangs hat man sich auch daran irgendwann gewöhnt und stört sich kaum noch an dieser Eigenart.

Insgesamt neigt Susanna Clarke zu einem recht ausschweifenden, intensiv beschreibenden Erzählstil. Auf den ersten Seiten mag man noch so manches Mal denken, sie könne sich ruhig etwas kürzer fassen, aber schon nach wenigen Kapiteln ist man dann so sehr in die Atmosphäre eingetaucht, dass es einem gar nicht mehr auffällt. Insofern geht Clarkes stilistische Rezeptur auf. Sie beschreibt ausführlich, plastisch und mit einer Fülle an Adjektiven und kreiert so im Laufe der Kapitel eine dichte und intensive Atmosphäre.

Diese intensive Atmosphäre braucht der Leser auch besonders. Es ist nicht immer unbedingt die Handlung, welche die Lektüre vorantreibt. Clarke lässt sich Zeit, Entwicklungen aufzuzeigen, Bezüge herzustellen und den Leser in aller Ruhe die Protagonisten und die Geschehnisse beobachten zu lassen. So gesehen braucht der Spannungsbogen ausgesprochen lange, um die Intensität zu entwickeln, die den Leser dann zum Ende hin wirklich fesselt. Es sind vor allem die Atmosphäre und Clarkes gewitzte und ironische Art zu erzählen, die man anfangs mögen muss, um sich voll auf das Buch einlassen zu können. Wen Clarke damit aber anspricht, den dürfte sie dann auch direkt begeistern können.

„Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ist ein Roman, der vor allem durch den alles durchziehenden Witz und die stets durchschimmernde Ironie wunderbar zu lesen ist. Vieles erzählt Susanna Clarke mit einem Augenzwinkern, und gerade bei den Beschreibungen der diversen Figuren kommt die Ironie nicht zu kurz. Jede Figur hat so ihre skurrilen Eigenheiten und die Autorin versteht sich einfach darauf, solcherlei Dinge wunderbar plastisch zu beschreiben.

Inhaltlich ist „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ein recht vielschichtiger Roman. Zum einen beschreibt er die damalige Zeit sehr gut. Die politischen Umstände vor dem Hintergrund der Zeit Napoleons werden dank der Tätigkeit der beiden Zauberer in den Diensten seiner Majestät ausführlich beleuchtet. Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kommen nicht zu kurz. Norrell verkehrt in der feinen Londoner Gesellschaft, und dieser Bezug ist es auch, der schon so manchen Leser und Kritiker an Jane Austen hat denken lassen.

Die besondere Würze aber ist natürlich die Zauberei. Auch wenn sie manchmal etwas überzogen wirken mag, wenn Strange zum Beispiel während des Krieges gegen Napoleon eine ganze Stadt auf einen anderen Kontinent verlegt, so wirkt sie ansonsten eben doch so, wie man es sich am ehesten als realistisch vorstellen kann. Es bleibt alles sehr geheimnisvoll, hat aber auch einen etwas elitären Charakter und vor allem viel mit dem Wälzen alter Bücher zu tun. Geradezu wissenschaftlich betreiben Strange und Norrell ihre Zauberei – sehr zum Missfallen der feinen englischen Gesellschaft, die sich die Zauberei irgendwie spektakulärer und als passende Erheiterung für so manche langweilige Dinnerparty vorgestellt hatte.

Auch die düsteren Elemente fehlen in Clarkes Roman nicht. Je weiter Strange seine Zauberei voranbringt, desto mehr dunkle und unbekannte Wege tun sich auf. Immer wieder wird auf den Rabenkönig angespielt, der im Mittelalter den Norden Englands regiert haben soll und der gleichzeitig der König des Elfenreiches war. Wahnsinn, wieder auferweckte Tote, Besuch von geheimnisvollen Elfen, Menschen, die in das Elfenreich entführt werden – der Roman steckt voller Phantasie und origineller Einfälle, die teils düster, teils aber auch einfach skurril sind.

Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ein ausgezeichneter Schmöker für alle diejenigen ist, die atmosphärische und phantasievolle Romane lieben. Manch einer mag Längen in der Handlung beanstanden, ich für meinen Teil finde es aber viel mehr erstaunlich, wie locker und flott man dieses mehr als tausendseitige Werk verschlingen kann. Man braucht schon einen Sinn für Clarkes feinsinnige Ironie und ihre augenzwinkernden Beschreibungen, aber wer über einen solchen verfügt, der wird reichlich belohnt.

„Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ist schon ausgesprochen phantasievolle Lektüre, die sich vermutlich am ehesten als historischer Fantasy-Roman einordnen lässt. Gerade auch in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um einen Debütroman handelt, handelt es sich um ein wirklich lesenswertes Buch, dem man die meisten seiner kleinen Schwächen gerne verzeiht.

http://www.jonathanstrange.de/

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