Neil Gaiman – Die Messerkönigin. Erzählungen

Dieser erste bei uns veröffentliche Storyband von Neil Gaiman ist eine Fundgrube von Ideen für Fantasy- und Krimileser. Die Geschichten sind vielgestaltig wie ihre Themen: Legenden, realistische Storys, Fabeln, Gleichnisse, Märchen, Balladen – die berühmten langzeiligen Erzählgedichten Gaimans ebenso wie kunstvoll gedrechselte Sestinen.

Zu jedem Beitrag der Sammlung hat Gaiman einen Begleittext zur Entstehung und dem Ort des ersten Erscheinens verfasst. Diese Texte hat er in einem langen Einleitungskapitel zusammengefasst. Wer also darauf keinen Wert legt, kann gleich mit dem zweiten Kapitel loslegen.

Der Autor

Neil Gaiman ist seinen Lesern vor allem als einfallsreicher Autor der gruseligen und einfallsreichen „Sandman“-Comicbooks bekannt. Er hat mit „Die Messerkönigin“ ausgezeichnete Grusel-, Fantasy- und Märchenstorys vorgelegt, sowie mit „Niemalsland“, „Sternwanderer“ und „American Gods“ drei vielbeachtete Romane (alle bei |Heyne| verlegt). Gaiman erzielte mit seinem Real-Fantasy-Roman „Niemalsland“ auch hierzulande einen Bestseller.

Die Erzählungen

Welcher Idiot hat eigentlich die Liebe erfunden? Schon kurz nachdem sie im himmlischen Design-Center der Engel entworfen und getestet worden ist, fordert sie bereits das erste Todesopfer: der verlassene Engel bringt den Geliebten um – ein klarer Fall für den Racheengel des Herrn. Hierzulande wäre die jedenfalls so nicht durch den TÜV gekommen. Aber zu der Zeit, als Er das Universum in die Phase des Prototyps gehen ließ, hatte Er völlig freie Hand. Er erfand sogar ziemlich neumodische Sachen wie etwa auch den Begriff des Todes (und später sogar, noch schlimmer, erfand Er Geschlechter!). Kein Wunder, dass über solch bedenklichen Vorfällen wie gemeuchelten Engeln sein Oberengel Luzifer, der Feldherr der Heerscharen, ins Grübeln kam und sich fragte, ob es nicht besser sei, zur Abwechslung mal auf die Stimmen aus der Finsternis zu hören …

Überhaupt bekommen Neil Gaimans Hauptfiguren, die in unseren Legenden und Sagen schon so lange als Bösewichte und Übeltäter verleumdet worden sind, in seinen in „Die Messerkönigin“ gesammelten Geschichten und Gedichten endlich ihre Chance, die Dinge ins rechte Licht zu rücken.

So entspricht es offensichtlich auch nicht den Tatsachen, dass Schneewittchen als Unschuld vom Lande von ihrer Stiefmutter aus reiner Eifersucht getötet wurde. Nicht doch! Vielmehr ist das Mädchen, das durch spätere Propaganda als „Schneewitchen“ bekannt wurde, eindeutig ein Vampir, der seinen Liebesopfern das Blut aussaugte. In der Geschichte „Schnee, Glas, Äpfel“ lässt ihr die Gemahlin des von diesem Vampir zu Tode gebrachten Königs denn auch als Vergeltung das kalte Herz herausschneiden und die Leiche in den Wald bringen. Sie hätte es besser wissen müssen!

Vampire wie das untote Mädchen treiben weiterhin ihr Unwesen. Erst als die verantwortungsbewusste Königin die kleine Vampirin per Apfel vergiftet, kehrt Frieden im Land ein. Doch leider nicht für lange: Denn ein ausländischer Prinz hat sich in das in Glas und Kristall eingesargte Mädchen verguckt und befreit es. Nun schlägt der Königin die letzte Stunde: Denn selbstverständlich heischt die Vampirin Rache, die ihr der von Liebe umnebelte Prinz allzu gerne verschafft. Die Königin landet wie eine gewöhnliche Hexe im Ofen.

Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen, wie Gaiman, der Autor der „Sandman“-Comicbooks, die bekannten Geschichten gegen den Strich bürstet und ihre Schurken endlich zu Wort kommen lässt. Vampire, Grendel-Ungeheuer („Baywolf“ ist eine drollige Verbindung aus „Beowulf“ und „Baywatch“) , Trolle, Vogelmädchen und Werwölfe finden sich hier, aber auch H. P. Lovecrafts Große Alte (in „Old Shoggoths Peculiar“) feiern ein Wiedersehen mit der ahnungslosen Welt. Mehrmals, wen wundert’s, geht dabei die Welt unter.

Liebe, Begehren und Tod

Viele der Geschichten enthalten erotische Elemente. Doch Gaiman, man ahnt es bereits, hat seine besondere Sicht auf das, was man gemeinhin für erotisch hält. Sex, Liebe, Begehren und Tod sind für ihn eng verwoben. Daraus ergibt sich ein in der Regel tragischer Verlauf aus der erotischen Begegnung.

Am zugänglichsten sind für Krimileser zwei Geschichten um die Traumfabrik Hollywood, die in diesem Band enthalten sind. Die erste, „Mordmysterien“, habe ich bereits eingangs gerafft wiedergegeben. Sie trägt diesen merkwürdigen Titel, weil sie sowohl ein Rätsel – mystery – als auch ein Mysterienspiel enthält. Ein Besucher aus England, der kurz mal seine amerikanische Ex-Freundin besucht, hat nach einem frustrierenden Liebesspiel einen Gedächtnis-Aussetzer. Schlaflos begibt er sich auf die Straße vor seinem Hotel und trifft einen Streuner, der sich eine Zigarette borgt und sich mit der erwähnten Geschichte revanchiert. Es könnte sich um Luzifer handeln. Am nächsten Tag liest der Engländer vom Tod seiner Ex-Freundin. Sie und ihre Tochter wurden Opfer eines brutalen Mordes …

Star-Ruhm

„Der Goldfischteich und andere Geschichten“ erzählt eine unheimliche Geschichte à la „Barton Fink“. Ein englischer Autor landet einen Bestseller über Charles Mansons Nachkommen und soll für ein Hollywood-Studio das Drehbuch schreiben. Natürlich in L. A. und zwar in keinem anderen Hotel als in dem, in dem John Belushi starb (ich glaube, das war das Chateau Marmont, aber der Hotelname wird nie erwähnt). Genau wie Barton Fink kann es der Engländer niemandem recht machen, doch bekommt er von einem der Gärtner, selbst schon über 90, eine recht merkwürdige Story erzählt. Eine junge Filmgöttin, June Lincoln, stirbt im Jahr 1926 kurze Zeit nach einem Filmerfolg.

Auf ihrer Premierenparty küsste sie einen der drei Goldfische im Teich des Hotels. Diesen Fisch nannte der Gärtner daher Princess. Die anderen beiden hießen Ghost und Buster. Merkwürdig findet unser englischer Freund, dass die Goldfische ein genauso langes Gedächtnis haben wie die Fahrten von Punkt A nach B in L. A. dauern: dreißig Minuten. Und auch die Studiogewaltigen haben eine entspechend kurzes Gedächtnis. L. A. ist ein mit Geistern gefüllter Teich, in dem die Goldfische (auch die Stars!) einander schon nach kurzer Zeit vergessen haben und sich begrüßen, als hätten sie den anderen nie zuvor gesehen.—Es gibt nur wenige Geschichten wie diese, die ein reales Geschehen mit einem surreal und ominös aufgeladenen Symbol (dem Teich) so gut erklären.

Humor

Auch der Humor kommt nicht zu kurz: So etwa wird der heilige Gral nicht vom edlen Ritter Sir Galahad auf seiner ewigen Suche gefunden, sondern von einer schrulligen alten Witwe bei einer Wohltätigkeitsorganisation. Und die lässt sich den Gral, als Galahad ihn kaufen will, schon gut entgelten. So ist wenigstens der Stein der Weisen doch noch zu etwas nutze.

Unterm Strich

Man kann dieses Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und wird sofort eine interessante Idee, eine gewagte Beschreibung oder verblüffend-provokante Aussage finde. Ein Buch, das mit keinem Beitrag langweilig ist. In mancher Hinsicht erinnerte es mich an Clive Barkers [„Bücher des Blutes“. 538

Opfer der Zeitdiebe lesen die Storys oder Langzeilenpoeme von zwei bis vier Seiten. Leute mit mehr Zeit auf ihrem Konto können ihr Vergnügen auf bis zu 40 Seiten auskosten.

HINWEIS:
Manche Geschichten sind für Leser erst ab 16 Jahren geeignet, da die erotische Schilderung doch mitunter etwas drastisch ausfallen kann!

Die Übersetzung ist brauchbar, hat aber durchaus Fehler. So hat sich die Übersetzerin nicht die Mühe gemacht, mal einen falsch geschriebenen Buchtitel von C.S. Lewis nachzuschlagen: „Dawntrader“ statt richtig „Dawntreader“. Daher kommt natürlich im Deutschen eine völlig falsche Bedeutung heraus.

Gegenüber der Originalausgabe wurde ein Beitrag gestrichen: „Eaten“, eine Art Drehbuch.

Taschenbuch: ca. 330 Seiten
Originaltitel: Smoke and mirrors, 1998
Aus dem Englischen übertragen von Ingrid Krane-Müschen
ISBN-13: 978-3453177987
www.heyne.de