Cleave, Chris – Lieber Osama

„Lieber Osama“ – ein Titel, der provoziert und der nicht nur „nach den jüngsten Anschlägen auf die Londoner U-Bahn, von Furcht erregender Aktualität“ ist, wie es auf dem Klappentext heißt. Schließlich liegen die Beinaheanschläge auf britische Flugzeuge und die beiden Kofferbomben in Deutschland noch nicht besonders weit zurück, wodurch Chris Cleaves Roman noch mehr an Brisanz gewonnen hat.

In seinem Debütroman inszeniert Cleave einen islamistischen Anschlag während eines Fußballspiels zwischen Arsenal und Chelsea. Während die charmant-naive Ich-Erzählerin ein kleines Techtel-Mechtel mit ihrem Nachbarn, dem reichen und egoistischen Journalisten Japser Black, hat, kann sie im Fernsehen beobachten, wie ihr Mann und ihr vier Jahre und drei Monate alter Sohn in die Luft fliegen. Schockiert von den Bildern, zwingt sie Jasper, sie zum Tatort zu fahren, wo sie sich im zerstörten Arsenalfanblock auf die Suche nach ihren Liebsten macht. Doch alles, was sie findet, ist Mr. Rabbit, das Kuscheltier ihres Sohns.

Daraufhin fällt sie für drei Tage ins Koma und verbringt geraume Zeit in der Psychatrie, wo sie im Radio vernimmt, wie die Opferzahlen des 1. Mai täglich nach oben korrigiert werden. Sie erhält Besuch von Prinz William und kotzt ihm auf die Schuhe. Schließlich kommt auch Jasper Black zu Besuch, und nachdem sie ihn zuerst abweist, entwickelt sich so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn da nicht Petra wäre, Jaspers gefühlslose, karrieregeile Freundin, die nicht davor zurückschreckt, ihre Freunde auszuspielen, als sie erfährt, dass die Ich-Erzählerin, die im Übrigen in dem ganzen Buch nicht einmal beim Namen genannt wird, an sensible Informationen über den ersten Mai kommen kann

Chris Cleave‘s Roman ist ein wirklich erfrischendes Debüt. Woher kommt überhaupt dieser Titel?, fragt man sich mit berechtiger Gespanntheit, wenn man das erste Mal von diesem Buch hört. Die Antwort ist simpel. Die namenlose Ich-Erzählerin, die dem Leser durch ihre charmant-naive Schreibweise sehr sympathisch ist, addressiert die Geschichte direkt an Osama, dem sie die Schuld am Tod ihres Mannes und Sohns gibt. Immer wieder spricht sie unseren Lieblingsterroristen im Buch direkt an, fragt ihn, wie er gehandelt hätte oder ob er sich das vorstellen kann. Anders als erwartet, ermüdet sich dieser Witz nicht im Laufe des Buchs, weil Cleave ihn sparsam und an den richtigen Stellen einsetzt.
Überhaupt ist die ganze Geschichte von einem zynischen, aber unaufdringlichen Humor durchzogen, der oft sehr lakonisch daherkommt, was perfekt in die Geschichte und zur Hauptperson passt.

|“Dann zündeten deine Männer die Bomben. 6 von ihnen trugen Splitterbomben am Leib, die restlichen 5 Brandbomben. Nach Meinung der Experten war so was noch nie zuvor gemacht worden, es seien überhaupt die schrecklichsten Selbstmordbomben in der Geschichte der Menschheit gewesen. Zwar müssen die Bombenpakete unter den Arsenal-Trikots riesig gewesen sein, aber offenbar hat niemand was gesagt, außer vielleicht: Boah, guck dir mal den Fettsack an. Bierbäuche gibt‘s nämlich bei den Arsenal-Fans die Menge. Jetzt vielleicht nicht mehr ganz so viele.“| (Seite 72/73)

Cleave benutzt diesen feinen Humor auch, um Kritik am eigenen Land zu üben. Nach dem Attentat verwandelt sich England mehr und mehr in eine Hochsicherheitsfestung mit Ausgangssperre am Abend und Hubschrauberpatrouillen. Gleichzeitig geraten alle Moslems ins Visier der Ermittler, darunter auch der Hauptperson Lieblingskrankenschwester Mena.

|“Am nächsten Morgen tauchte zwar wie immer die Sonne auf, aber keine Mena. Stattdessen kam eine neue Schwester, eine Australierin. Blond und betont gut drauf. Wenn man sie sah, dachte man unweigerlich: 19-JÄHRIGES PARTY-GIRL SHARLENE BEI KLINIK-BUMS ERWISCHT.
– Hallo. Was ist denn mit Mena?
– Sie darf hier nicht mehr arbeiten, sagte die neue Krankenschwester.
– Wie bitte?
– Sie war doch Moslem, oder?, sagte die Neue. Sicherheitsrisiko. Seit Mitternacht sind alle Moslems beurlaubt. Endlich schnallen sie es in diesem Land. Also, ich will ja nichts sagen, meiner Meinung nach sind 99 % aller Moslems ganz okay, aber wenn du ein paar von ihnen nicht trauen kannst, kannst du keinem trauen, ist doch so, oder?“| (Seite 85/86)

Im Verlauf des Buchs entwickelt sich daraus ein beinahe utopisches Szenario, das zwar dank Überspitzung für Erheiterung sorgt, gleichzeitig aber zum Nachdenken anregt. Könnte es eines Tages wirklich so bei uns aussehen? Würde Elton John tatsächlich einen Song mit dem schönen Titel „England‘s heart is bleeding“ schreiben, der schließlich in jedem hippen Frisiersalon als Clubremix läuft? In diesem Zitat kann man zudem ein weiteres „Stilmittel“ erkennen, das im Buch immer wieder auftaucht. Der Autor streut des Öfteren diese Schlagzeilenüberschriften à la BILD ein, wodurch er die einzelnen Situationen sehr bissig auf den Punkt bringt.

Die Handlung an und für sich ist natürlich fiktiv, allerdings läuft es dem Leser an manchen Stellen kalt den Rücken hinunter, wie nahe derartige Szenarien sein können. Während sich der Anfang hauptsächlich mit dem Attentat und dem Klinikaufenthalt der Ich-Erzählerin beschäftigt, geht es später nur noch um ihr neues Leben und vor allem um die Beziehung zu Jasper Black und seiner Freundin sowie ihrem neuen Chef, einem hohen Tier bei Scotland Yard. Trotzdem schimmert das Terror-Thema immer wieder durch.

Inwiefern der Anschlag als Auslöser für die Folgehandlung gesehen werden kann, ist zweifelhaft. Ohne Frage können derartige Ereignisse das Leben eines Menschen sehr aus der Bahn werfen, doch an manchen Stellen geht der Autor einen Schritt zu weit und das Buch versinkt im wattigen Selbstfindungsjargon (allerdings immer mit unschlagbarem Humor). Manchmal ist die Geschichte ein wenig zu abgedreht, obwohl die meisten Zusammenhänge und Ereignisse sehr alltäglich wirken.

Doch das Über-die-Stränge-Schlagen sei Cleave vergeben. Schließlich hat er das Buch nicht mit dem Anspruch geschrieben, einen humorlosen Schinken zu veröffentlichen. Bissigkeit, Übertreibung und Überspitzung sind schließlich die ständigen Begleiter des Lesers, eingepackt in einen wundervollen, sehr eigenständigen Schreibstil mit einer sehr sympathischen Working-class-Heldin der Herzen. „Lieber Osama“ ist auf jeden Fall ein literarischer Leckerbissen 2006 und sei jedem ans Herzchen gelegt, der humorvolle Literatur mag und vor Zynismus keine Angst hat.

http://www.rowohlt.de

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