Daschkowa, Polina – Keiner wird weinen

Polina Daschkowa gehört zu den russischen Autorinnen, um die man nicht herumkommt, wenn man Krimis mag. Neun Bücher wurden mittlerweile in deutscher Sprache veröffentlicht, viele von der Kritik hoch gelobt. Die Russin ist vor allem dafür bekannt, ein realistisches, oft brutales Bild des heutigen Russlands zu zeichnen. Sie beschönigt nichts und fühlt dem einst kommunistischen Land immer wieder auf den Zahn.

„Keiner wird weinen“ erzählt von Kriminellen, Semikriminellen und ganz normalen Menschen, die aufgrund der Rachegelüste Einzelner zusammenfinden. Diese Einzelnen sind Kolja und Wolodja. Kolja ist in einem Kinderheim aufgewachsen, in dem hauptsächlich geistig zurückgebliebene Kinder untergebracht waren. Mit seinem Intellekt verschaffte er sich dort bald eine gewisse Stellung, und als der Dieb Sachar später zu seinem Ziehvater wird, steht Koljas krimineller Karriere nichts mehr im Weg. Innerhalb kürzester Zeit schwingt er sich zum Anführer einer brutalen Einbrecherbande auf und ist auch nach deren Zerschlagung nicht greifbar.

Wolodja will das tun, wozu die Miliz nicht fähig ist: Er will Kolja, der mittlerweile Skwosnjak genannt wird, finden und erledigen. Immerhin hat der brutale Einbrecher, der nie Zeugen hinterlässt, seine Familie ausgelöscht. Das hat Wolodja geprägt, der nun, zum Einzelgänger geworden, das Böse in der Welt rächen will. Sobald er sieht, wie jemand einem anderen Menschen etwas antut, bringt er den Täter um. Skwosnjak ahnt nichts von seinem Feind, doch der unausgefochtene Kampf zwischen den beiden zieht viele unschuldige Menschen in einen Strudel der Gewalt, darunter die junge Vera. Sie wohnt zusammen mit ihrer Mutter in Moskau und lässt sich bereitwillig vom untreuen Stas für Arbeit und Liebesdienste ausnutzen. Sie ist ein freundlicher Mensch und ahnt nichts Böses, als unerwartet ein junger, gutaussehender Mann ihr den Hof macht. Als Stas dies mitbekommt, hat er das Gefühl, den jungen Mann schon einmal gesehen zu haben, und zwar bei nichts Gutem …

Würde man weiter ausholen, schlösse sich der Kreis wieder. Polina Daschkowas Roman macht es dem Leser lange schwer, einen roten Faden zu erkennen. Viele Handlungsstränge und Personen werden eingeführt, einige in der Gegenwart, einige in der Vergangenheit. Die Verknüpfung erfolgt stückweise und wird auch manchmal nicht ganz klar. Wer kennt sich jetzt woher von früher und wer hat einen Hass aufeinander? Wo lässt sich diese Person einordnen und was hat jener Mann damit zu tun? Polina Daschkowa macht es dem Leser nicht immer ganz leicht. Am besten ist es, die Autorin einfach erstmal erzählen zu lassen, denn gegen Ende kommt Licht ins Dunkel. Die einzelnen Stränge verbinden sich zu einem langen, sorgfältig geflochtenen Zopf, und es bleibt dem Leser nichts anderes übrig als Daschkowas Virtuosität zu bewundern. Diese Art, scheinbar völlig zusammenhangslos neue Personen einzuführen und sie schließlich zu Hauptakteuren zu machen, ist wirklich großartig.

Gerade daraus bezieht das Buch seine Spannung. Der Leser weiß nicht, wohin die Geschichte führt, aber er ahnt, dass es einen gemeinsamen Nenner geben muss. Langsam ergeben sich dann erste Bezugspunkte, erst allmählich, dann immer rascher kommt das Buch in Fahrt. Die Personen sind folglich der Dreh- und Angelpunkt in „Keiner wird weinen“. Alles hängt entweder mit ihnen oder ihrer Vergangenheit zusammen, und da empfiehlt es sich, mit der Qualität der Charaktere nicht zu geizen. Hierin muss man sich bei der russischen Autorin allerdings keine Sorgen machen. Die Personen werden zumeist mitsamt Lebenslauf eingeführt und sehr lebendig und originell dargestellt – zum größten Teil jedenfalls. Manchmal begeht die Autorin auch, zum Beispiel bei Stas, Vera oder Stas‘ Ehefrau, den Fehler, auf einfache Klischees zurückzugreifen. Ein Mann, der Frauen nur wegen ihres Aussehens heiratet, eine Frau, die ihren Mann wegen seines Status heiratet, und allen voran Vera. Sie erinnert stark an andere Frauencharaktere der russischen Kriminalliteratur. Sie ist mollig, mehr oder weniger erfolgreich im Job, familienbezogen und glaubt nicht daran, jemals einen Mann abzubekommen. Sie ist witzig, schlagfertig und greift gerne durch, kann ihre eigenen Gefühle aber kaum artikulieren. Diesen weiblichen Prototypen findet man in so vielen Büchern von russischen Autorinnen, dass sie schon fast solch ein Merkmal für diese Literatur sind wie der Typ Wallander für skandinavische Krimis. Vera kann dennoch durch ihre sympathische Art punkten. Sie wirkt nicht überzeichnet, sondern sehr authentisch, auch wenn es ähnliche Figuren in anderen Büchern gibt.

Ihre spannende, verwinkelte Geschichte bettet die Autorin in einen sehr belletristischen Rahmen. Sie erzählt nicht ausschweifend, lässt aber auch keine Details weg. Sie möchte einen guten Überblick über das Geschehen und die Menschen geben und verwendet dazu ein umfassendes Vokabular, das sie originell einzusetzen weiß. Sie schreibt anschaulich und unterhaltsam, passend zu ihren durchdachten Charakteren. Manchmal lässt sie an der einen oder anderen Stelle ein wenig humorvolle Kritik durchschimmern, aber sie verlässt die Wege des Romans nicht, um eine eigene Meinung loszuwerden.

In der Summe ist Polina Daschkowa mit „Keiner wird weinen“ ein Kriminalroman gelungen, dessen Betonung auf „Roman“ liegt. Es wird weniger ein Kriminalfall erzählt, der von einem Ermittler gelöst werden soll, als vielmehr eine weitverzweigte Geschichte mit vielen Verwicklungen. Diese Verwicklungen, die eine Menge tote und lebendige Menschen einschließen, wirken stellenweise etwas wirr, werden in der spannenden, vieldimensionalen Auflösung aber einleuchtend verbunden. Die starke erzählerische Komponente macht das Buch definitiv lesenswert, denn dadurch erfährt der Leser, der über das heutige Russland nicht allzu viel weiß, vermutlich mehr als in einem klassischen Krimi.

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