18 klassische und moderne, meist selten und manchmal gar nicht veröffentlichte Kurzgeschichte erfassen das weite Spektrum der Phantastik. Mancher gruselig unterhaltsamer Schatz wird gehoben, oft stößt des Lesers Spaten auch auf taubes Gestein: Die Reise durch die literarische Dunkelheit lohnt dennoch auf jeden Fall!
_Inhalt_
|Graham Masterton: Die graue Madonna| („The Grey Madonna“, 1995), S. 9-27: Im belgischen Brügge verlor Dean auf tragische Art seine Gattin; sie hatte sich Rat suchend an die denkbar falsche Person gewandt, die der untröstliche Ehemann zu seinem Unglück ebenfalls findet …
|Christopher Fowler: Die langweiligste Frau der Welt| („The Most Boring Woman in the World“, 1995), S. 29-41: Eine vernachlässigte und betrogene Hausfrau und Mutter schwelgt in Rachevisionen, deren Umsetzungen näher rücken …
|Stefan Grabinski: Szamotas Geliebte| („Kochanka Szamoty“, 1922), S. 43-60: Endlich erhört sie den vor Liebe Verrückten, doch wen hat er eigentlich woher zu sich gerufen?
|David H. Keller: Da unten ist nichts!| („The Thing in the Cellar“, 1952), S. 61-69: Jedes Kind fürchtet sich vor dem Ding in der Dunkelheit, doch was geschieht, wenn es wirklich existiert …?
|Guy de Maupassant: Die Tote| („La morte“, 1887). S. 71-76: Im Laufe einer denkwürdigen Nacht auf dem Friedhof erfährt der Geliebte, um wen tatsächlich er so untröstlich trauert …
|F. Paul Wilson: Schockwellen| („Aftershock“, 1999), S. 77-127: Im Augenblick des eigenen Todes zeigen sich geliebte Verstorbene: eine Erfahrung, die bizarres Verhalten nach sich zieht …
|Clark Ashton Smith: Necropolis – Das Reich der Toten| („The Empire of the Necromancers“, 1932), S. 129-141: Zwei mächtige, aber moralfreie Zauberer schaffen sich ein Heer aus Zombie-Sklaven, doch sie treiben es schließlich so toll, dass sogar die Toten rebellieren …
|Simon Clark: Die Geschichte des Totengräbers| („The Gravedigger’s Tale“, 1988), S. 143-153: Was der faule Totengräber dieses Mal aus der Erde holte, hätte er besser lagern sollen, denn es erweist sich als nicht richtig tot …
|Margaret Irwin: Das Buch| („The Book“, 1930), S. 155-174: Wer es liest und seinen Anweisungen folgt, wird reich und berühmt – bevor der eigentliche Preis gefordert wird …
|Brian McNaughton: Ringard und Dendra| („Ringard and Dendra“, 1997), S. 175-219: Ein junges Paar sucht Zuflucht bei einem Hexenmeister, was wie erwartet für teuflische Folgen sorgt …
|Karl Hans Strobl: Das Auge| (1926), S. 221-230: Der berühmte Schriftsteller fühlt sich im Wahn beobachtet, und ein kleiner Junge rückt ihm in seiner Neugier ein wenig zu nahe …
|Storm Constantine: So ein nettes Mädchen| („Such a Nice Girl“, 1997), S. 231-257: Wer war Emma wirklich? Die unbedarfte Nachbarin findet es heraus, was ihr mehr Wissen über schwarze Magie beschert, als sie verkraften kann …
|Montague Rhodes James: Pfeife, und ich komme zu dir, mein Freund!| („Oh, Whistle, and I Come to You, My Lad“, 1904), S. 259-284: Als ein neugieriger Urlauber in die am Strand gefundene antike Pfeife bläst, erscheint des Nachts ein unerfreulicher Besucher …
|Cornell Woolrich: Papa Benjamin| („Papa Benjamin“, 1962), S. 285-340: Wer die Voodoo-Götter beleidigt, darf sich über spektakuläre Strafmaßnahmen nicht wundern …
|John Keir Cross: Das Glasauge| („The Glass Eye“, 1946), S. 341-361: Es gibt kein Leid auf dieser Welt, das nicht durch noch größeres Unglück übertroffen werden könnte …
|Algernon Blackwood: Der Schrecken der Zwillinge| („The Terror of the Twins“, 1914), S. 363-372: Der zornige Vater hielt die Geburt seiner Zwillingssöhne schon immer für einen Irrtum der Natur, den er nach seinem Tod zu korrigieren gedenkt …
|Mort Castle: Party-Time| („Party Time“, 1984), S. 373-376: Wenn Söhnchen nur zu bestimmten Anlässen aus dem Keller gelassen wird, so gibt es dafür gute Gründe …
|Graham Masterton: Der Hexenkompass| („Witch-Compass“, 2000), S. 377-412: Er erfüllt dir zuverlässig deine Wünsche, aber du bist womöglich nicht glücklich mit dem Ergebnis, denn du zahlst deinen speziellen Preis dafür …
|Frank Festa: Nachwort|, S. 413-415
_Sie kommen wieder, aber lange hat’s gedauert_
Viel, sehr viel Zeit ist verstrichen, bis diese neue Sammlung alter und aktueller Storys im |Festa|-Verlag erschien. Fast musste man als enthusiastischer Leser des [ersten „Necrophobia“-Bandes 1724 schon bangen, dass diese der phantastischen Kurzgeschichte gewidmete Reihe eingegangen war, bevor sie sich überhaupt zur Reihe entwickeln konnte. So ist es glücklicherweise nicht gekommen, doch die dreijährige Pause verdeutlicht einmal mehr, dass der ‚kurze Horror‘ in Deutschland einen schweren Stand hat.
Dabei nahm Herausgeber Frank Festa deutschsprachige Storys der Gegenwart erst gar nicht in seine Sammlung auf. Er begründet das mit deutlichen Worten: „Nun, ich habe schon öfter erklärt, dass ich lieber die Originale veröffentliche als deren Kopien, und zurzeit sehe ich wirklich keinen eigenständigen, unamerikanisierten Horrorautor im deutschen Sprachraum.“ (S. 414) Die Anhänger der deutschen Phantastik werden dies energisch und empört bestreiten, der Rezensent gibt Festa Recht und setzt noch eins drauf: Deutscher Grusel ist nicht nur Nachahmung, sondern Horror auf Groschenheft-Niveau, der seine Existenz dem Reservat der aktuellen Kleinverlage verdankt, die ihm mit viel Liebe, aber wenig Sinn für Qualität eine unverdiente Scheinblüte bescheren.
_Sie kommen nicht nur in der Nacht_
Das trifft auf die Mehrzahl der in „Necrophobia II“ versammelten Storys glücklicherweise nicht zu. Aus zwölf Jahrzehnten stammen sie und dokumentieren damit die Entwicklung, die das Genre nahm. Eine ‚akademische‘ Präsentation ist dem Herausgeber dabei fern; „Necrophobia II“ gehorcht keiner inhaltlichen und erst recht keiner chronologischen Systematik, Unterhaltung ist Trumpf. Alte und neue Geschichten stehen nebeneinander, thematisch decken sie – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – das breite Spektrum des Genres ab. Monster, Vampire, Phantome, Wahnsinn: Alles ist da, ein lange, gut bestückte Tafel für den gierigen Leser. Welchem Leser welche Story besser gefällt, ist natürlich Ansichtssache. An dieser Stelle können nur einige (subjektive) Hinweise und Hintergrundinformationen folgen.
_Gespenster, Gespenster …_
Die gute, alte Gespenstergeschichte wird in dieser Sammlung gleich mehrfach erzählt. Sie hat sich im Kern nicht geändert: Im Leben blieb der verstorbene Mensch ‚unvollendet‘, sodass er (oder sie) nun als Geist spuken und für Abhilfe sorgen oder sich rächen möchte.
Handwerklich perfekt drechselt Montague Rhodes James [1862-1936] seine Gruselmär vom Tempelritter-Schutzgeist. Sehr typisch für den Verfasser, trifft dessen Zorn einen völlig Unschuldigen: James-Gespenster unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse; sie haben es auf alle Lebenden abgesehen. Vermutlich kann nur ein Autor, der rein gar nicht an Gespenster glaubt, sie so perfekt, d. h. spannend, witzig und ohne Beachtung ‚literarischer‘ Qualitäten heraufbeschwören wie James! Weniger elegant und nüchtern im Ton, aber mindestens ebenso konsequent ist David H. Keller [1880-1966], der gar nichts von einem Happy End hält, nur weil sein (niemals auch nur zipfelhaft sichtbar werdender) Keller-Schrecken Kinder als Beute bevorzugt. Wie man diesen Plot als makaberen Scherz zelebriert, zeigt uns Mort Castle [*1946].
Wesentlich ‚psychologischer‘ geht James‘ Zeitgenosse Algernon Blackwood [1869-1951] an das Thema heran. Das Gespenst des Vaters hat ein Motiv für sein Tun, das grausam und grauenvoll ist, was Blackwood einmal mehr ungemein stimmungsvoll darzustellen weiß. Graham Masterton [*1946] stellt unter Beweis, dass das Konzept des Gespenstes auch heute keineswegs unmodern geworden ist. F. Paul Wilson [*1946], mit seinen „Handyman Jack“-Geschichten sonst eher für grobschlächtigen Horror bekannt, erstaunt mit einer ‚aktuellen‘ und doch höchst klassischen Gespensterstory.
_Rückkehr als Leiche_
Noch erschreckender als das Gespenst wirkt die Vorstellung vom oder von der Toten, der oder die in persona aus dem Grab zurückkehrt und nicht nur durch das Erscheinen, sondern auch durch den Anblick (und den Geruch) Entsetzen verbreiten. Sehr drastisch spielt das Simon Clark [*1958] durch, der freilich gleichzeitig belegt, dass Horror und (friedhofserdeschwarzer) Humor erstaunlich gut korrespondieren.
Deutlich allegorischer beschäftigt sich Guy de Maupassant [1850-1893] mit dem Thema Tod. Die Erlebnisse seines Helden mögen sich so ereignet haben oder die Ausgeburt eines kranken Hirnes sein; eine Entscheidung, die dem Leser überlassen bleibt, ohne dass diese an der ‚Moral‘ der Geschichte etwas ändern würde. Ähnlich diffus bleibt Stefan Grabinski [1887-1936], der dem Schrecken indes eine perfide Präsenz verleiht; sein Geist gehört zu den wahrlich seltsamen seiner Art.
Grabinskis Geschichte balanciert auf der Schneide zwischen ‚reinem‘ Spuk und dem Grauen, das derjenige beschwört, der sich mit dem Jenseits einlässt und dabei meist mehr abbeißt, als er oder sie zu schlucken vermag. Margaret Irwin [1889-1969], Cornell Woolrich [1903-1968] und noch einmal Graham Masterton thematisieren das schaurige Angebot, das scheinbar eine ‚Abkürzung‘ zu Reichtum und Macht bietet, bis die Macht im Hintergrund ihren Preis einfordert. (Die Woolrich-Story gehört zu den Ausgrabungen Festas; leider hält sie in der Umsetzung nicht, was der Plot verspricht, und sie transportiert zahlreiche zeitgenössische Rassismen.) Storm Constantine [*1956] überrascht mit einer Nachwuchs-Magierin, die zur Abwechslung einmal erfolgreich bleibt; ohne Opfer geht es jedoch ebenfalls nicht ab.
_Wahn und Wirklichkeit_
Der letzte Schritt zum ‚realen‘ Grauen ist der Verzicht auf Übernatürliches. John Keir Cross [1911-1967], Karl Hans Strobl [1877-1946] und Christopher Fowler [*1953] erzählen von Menschen in der Krise, deren Stress sie geistig zu zerbrechen droht oder schon zerbrochen hat. Die Folgen sind furchtbar, weil hier der Mensch und nur der Mensch die Verantwortung für daraus resultierende Wahnsinnstaten trägt.
Aus dem Rahmen fallen die Storys von Clark Ashton Smith [1893-1961] und Brian McNaughton [1935-2004]. Sie mischen Horror mit Fantasy zur „Dark Fantasy“, wobei Smith trotz des schwülstigen, künstlich altmodischen Tonfalls fesselt, während McNaughton ein weiteres Mal mit seiner (zudem aus dem früheren |Festa|-Sammelband „Psycho-Express“ von 2000 recycelten) haltlos zwischen Pathos und Klamauk schwingenden Mär langweilt: neben „Papa Benjamin“ ist diese Story die einzige echte Enttäuschung in „Necrophobia II“.
Damit lässt sich leben. Das grundsätzliche Konzept der „Necrophobia“-Reihe hat seine Tragfähigkeit bewiesen. Bleibt zu hoffen, dass es bis zum dritten Teil nicht wieder so lange dauert.
_Impressum_
Originalzusammenstellung
Übersetzung: Andreas Diesel (4), Sigrid Langhaeuser (3), Jutta Swietlinski (2), Alexander Amberg (2), Felix Lake, Felix F. Frey, Friedrich v. Oppeln-Bronikowski, Heiko Langhans, Otto Knörrich (je 1)
Cover: Markus Vesper
Deutsche Erstausgabe: Juli 2008 (Festa Verlag Nr. 1521/Horror TB, Bd. 20)
415 Seiten
EUR 13,95
ISBN-13: 978-3-86552-061-6
http://www.festa-verlag.de