Fleischhauer, Wolfram – Schule der Lügen

„Deine Geschichte wird Dich finden“ – ein Satz, der sich wie eine Bestimmung vom Anfang bis zum Ende durch den Roman „Schule der Lügen“ von Wolfram Fleischhauer zieht.

Zugleich ist dieser Satz das elementare Sinnbild der hier geschilderten Familiengeschichte, die dem Leser in sinniger und ungemein interessanter Form ein ganz eigenes Spiegelbild präsentiert, in dem sich ein jeder wiederfinden kann. In der heutigen schnelllebigen Zivilisation, in der Moral, Ethik und Anstand oftmals nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, lässt Fleischhauers „Schule der Lügen“ den Leser genau über diese Problematiken in philosophischer Weise ins Grübeln kommen.

Wie oft verrennen wir uns in geheimen Wünschen und Hoffnungen und vergessen dabei unsere eigene Persönlichkeit in den Mühlen von Arbeit, Verpflichtungen gegenüber der Familie und dem Druck, der daraus resultiert? Wie oft meinen und empfinden wir, dass wir uns in einem Irrgarten verlaufen haben und unmöglich den erlösenden Ausgang finden können? Wenn wir dann eines Tages die Wahrheit über uns selbst herausfinden, ist es meist zu spät, um die verlorene Zeit einzufangen, und wir fügen uns dem scheinbar unausweichlichem Schicksal.

Wolfram Fleischhauer erzählt in seinem 2006 erschienen Roman elegant und einfühlsam ein abgründiges Familiendrama voller Intrigen, Täuschungen und Lügen, Verführungen und Liebe, mit dem Hintergrund, uns aufzuzeigen, was wirklich wichtig im Leben ist, um sich selbst verwirklichen zu können.

_Die Geschichte_

Der junge adlige Student Edgar von Rabov verbringt seine Abende und Nächte in dunklen Bars und zweifelhaften Etablissements in den Tagen der Weimarer Republik, inmitten von Berlin. In den goldenen Zwanzigerjahren der Weimarer Republik ist er auf der Suche nach sich selbst, vernachlässigt dabei das Studium der Chemie, sich dessen bewusst, dass er der Alleinerbe des väterlichen Konzerns ist, obwohl er nicht davon innerlich nicht überzeugt ist, der Aufgabe und Nachfolge seines Vaters gerecht zu werden.

In einer kalten Februarnacht des Jahres 1926 begegnet Edgar eine exotisch aussehende, schöne Inderin, mit der er heimliche Blicke tauscht, doch die Edgar offensichtlich nicht sonderlich interessant findet. Außerdem befindet sie sich in Begleitung eines mysteriösen älteren Herrn, der zudem noch aus England zu kommen scheint. Beim Verlassen der Bar steckt ihm die orientalische Schönheit im Vorbeigehen einen Zettel zu: „Übermorgen hier. Ich erwarte Sie.“

Edgar trifft sich mit der jungen Inderin Alina und kann sich ihrem exotischen Zauber nicht entziehen. Alina wirkt auf den jungen von Rabov anziehend, zugleich aber auch abschreckend und widersprüchlich. Er lässt sich auf ein abgründiges Liebesabenteuer mit ihr ein, das er selbst nicht gänzlich ergründen kann.

Edgar empfindet nach und nach eine immer tiefere Zuneigung für Alina, doch seine intolerante und standesbewusste Familie sieht diese Verbindung nicht gerne, lässt ihn beschatten und setzt ihn persönlich stark unter Druck. Edgar soll sich seiner Position in der Familie und seiner Verpflichtung gegenüber Deutschland bewusst werden.

Edgar und Alina bewegen sich in einer Art von Zwischenwelt, voller ungelöster Fragen. Bei aller Zuneigung, die sie füreinander empfinden, wird ihre Liebe auch von einer philosophischen Sicht der Dinge begleitet.

Eines Tages verschwindet Alina plötzlich ohne Vorankündigung und reist zurück nach Indien, das unter englischer Kolonialherrschaft steht. Edgar folgt ihr entschlossen; er will Antworten auf all seine Fragen finden, doch was er stattdessen findet, ist zunächst die Vergangenheit seiner Familie – oder einer Familie, die er bis dahin zu kennen glaubte …

_Leseprobe_

Und dann war dieser Brief gekommen. Ein Brief von ihr. Wie oft hatte er ihn schon gelesen? Diesen Abschiedsbrief, der keinerlei Erklärung enthielt.

|Edgar, bitte folge mir nicht. Es war alles falsch. Vergiss mich. Es tut mir unendlich leid, was geschehen ist. Bitte hasse mich nicht. Und Du würdest mich hassen, wenn wir uns noch einmal begegnen würden. Auch deshalb gehe ich. Was immer Du glauben magst: Auf meine Weise war ich immer ehrlich zu Dir. Auch mein Körper, vor allem mein Körper, der noch immer nach Dir ruft. Ohnehin sind nur unsere Körper ehrlich.

Bitte vergiss, was geschehen ist. Wenn Du es kannst. Ich würde einiges dafür geben, wenn ich die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen könnte. Auch wegen Phil. Allein ich bin an allem schuld.

Ich habe den Brief zahllose Male geschrieben und wieder zerrissen. Denn wie sollte ich Worte für uns finden? Oder gar letzte Worte?

Leb wohl. Alina.|

Die Briefmarke auf dem Umschlag war italienisch, abgestempelt in Genua. Zwei Stunden später stand Edgar vor dem Schaufenster der Norddeutschen Lloyd am Tauentzien und studierte die Linienpläne nach Ostasien.

_Kritik_

Wolfram Fleischhauers „Schule der Lügen“ ist ein sehr mitreißender Roman, der von Schuld und Lüge erzählt, von Täuschung und Intrigen, Verführung und Freiheit. Ein Familienroman, der kompliziert erscheint und trotzdem eine philosophische Liebesgeschichte beinhaltet, die zum Nachdenken anregt.

In der bewegten Weimarer Republik, in welcher der Roman spielt, schickt Fleischhauer die Hauptperson Edgar von Rabov auf eine Suche nach der Liebe, nach der Wahrheit und schließlich auf die erlösende Suche nach sich selbst.

Der Autor beweist sich als sehr guter Geschichtslehrer und entführt den Leser in die bewegten gesellschaftlichen Tage zwischen den beiden Weltkriegen. Er schreibt auch aus der Sichtweise der „adligen“ Bevölkerung, die dem Untergang geweiht zu sein scheint und verbissen um die alten Werte und Normen kämpft – allerdings bereits auf verlorenem Boden.

Zwischen Mystik und der ganz anderen Lebensweise in Indien, zwischen Religionen und damit verschiedenen Grundsätzen von Moral und Ethik bewegen sich die hervorragend ausgestalteten Charaktere in „Schule der Lügen“. Ein Hauch von Orientalismus im andersartigen und fernen Indien sowie das schwelende Pulverfass des dekadenten Berlins werden dem aufmerksamen Leser vor das innere Auge gebracht.

Ich kann die Lektüre dieses Roman jedem Leser nahelegen. Besonders zu gefallen wissen als wichtiger Bestandteil des Romans die philosophischen Gespräche, die Fragen nach dem Sinn eines Lebens, nach den elementarsten Grundsätzen des Lebens. Sicherlich Fragen, die sich der Leser individuell beantworten muss und auch sollte, schließlich befindet sich ein jeder auf die Suche nach dem „Wer bin ich? Wohin gehe ich? Worin besteht der Sinn?“

„Schule der Lügen“, der fünfte Roman von Wolfram Fleischhauer, ist überraschend gut und der Autor weiß mit seinem Wissen um Indien und die innerdeutsche Politik in der Weimarer Republik zu überzeugen.

_Wolfram Fleischhauer_, geboren 1961 in Karlsruhe, studierte in Deutschland, Spanien, Frankreich und in den USA. Als Konferenzdolmetscher pendelt er zwischen Brüssel und Berlin, wo er zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn lebt. Unter anderem hat Wolfram Fleischhauer die Romane „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“ und [„Das Buch, in dem die Welt verschwand“ 265 veröffentlicht. Er ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, deren Romane auch international erfolgreich sind.

|528 Seiten|
http://www.piper.de

Schreibe einen Kommentar