Foon, Dennis – Stadt der vergessenen Kinder, Die (Das Vermächtnis von Longlight, Band 2)

Band 1: [„Die Stunde des Sehers“ 2211

Roan hat fast schon zu hoffen gewagt, dass es ihm und seinen Freunden gelungen wäre, die Kinder aus Fairview in Sicherheit zu bringen. Doch eines Tages fallen die Kinder aus heiterem Himmel alle gleichzeitig in Ohnmacht, und alle Versuche Alandras, sie wieder aufzuwecken, scheitern. Roan erkennt, dass er sich aus seiner Deckung hervorwagen muss, will er den Kindern helfen. Und schließlich ist da ja auch noch seine Schwester Stowe, die er retten muss …

Stowe wurde von den Meistern darin ausgebildet, ihre Fähigkeiten einzusetzen. Doch obwohl sämtlichen Meistern bewusst ist, dass Stowes Kraft schon jetzt die ihre weit übersteigt, sind sie sich doch nicht über das Ausmaß ihres Könnens im Klaren: Stowe kann ihren Körper verlassen! Und auf diese Weise entdeckt sie, dass sie die ganze Zeit, seit sie in Metropolis ist, belogen und benutzt wurde. Sie beschließt, sich zu rächen, aber das ist nicht einfach, wenn man keiner Menschenseele trauen kann. Und dann stellt sich auch noch heraus, dass sie süchtig ist. Nach Staub …

Schon dieser kurze Inhaltsabriss zeigt, dass die Handlung, die sich im ersten Band noch nahezu ausschließlich um Roan drehte, diesmal zweigeteilt ist:

Roan ist durch die Ereignisse des ersten Bandes bereits ziemlich gereift. Er hat Entscheidungen getroffen, Verantwortung übernommen. Das heißt aber nicht, dass er nicht immer noch dazu lernt! Unter anderem sieht er sich durch die Ereignisse gezwungen, seine Ansichten über die Bluttrinker zu revidieren. In der Art, wie er mit seinen neuen Erkenntnissen umgeht, zeigt sich deutlich das Potential, das zu nutzen er letztlich gezwungen sein wird. Denn seine Bestimmung ist es, Krieg gegen Metropolis zu führen. Und das, obwohl er sich jetzt schon zwischen seinen beiden Hauptverpflichtungen – dem Schutz der Kinder und der Rettung seiner Schwester – zu verzetteln droht, und obwohl er die Anwendung von Gewalt in seinem Innersten noch immer vehement ablehnt.

Stowe taucht zum ersten Mal als eigene Person mit Gedanken und Gefühlen auf. Sie ist ein überaus mutiges Mädchen und sehr charakterstark, ihre einzige Schwäche ist ihre Sucht nach Staub. Unter dem Druck der feindseligen Umwelt, in der sie sich befindet, ist sie noch schneller gereift als ihr Bruder. Tatsächlich ist zwischen Stowe und ihrem Bruder kein großer Altersunterschied mehr zu spüren, obwohl sie vier oder fünf Jahre jünger ist als Roan. Aber natürlich wurde ihr von ihren Lehrern nur das beigebracht, was sie unbedingt lernen musste, um die Aufgaben zu erfüllen, die die Meister nicht selbst bewältigen können, weil ihnen die Fähigkeiten dazu fehlen. Daraus resultiert eine gewisse Unerfahrenheit, die Stowe trotz ihrer Stärke zunehmend in Bedrängnis bringt …

Neben Stowe bringt der zweite Handlungsstrang auch noch andere Personen ins Spiel:

Kordan, einer von Stowes Lehrern, ist dagegen ein ziemlicher Hanswurst. Seine Fähigkeiten sind eher mäßig, dafür ist sein Charakter umso mieser, geprägt hauptsächlich von Feigheit und Neid gegenüber Stowe.

Willum, ihr anderer Lehrmeister, dagegen ist absolut undurchschaubar. Er behandelt Stowe freundlich und geduldig, gibt aber nicht das Geringste von sich preis. Es ist schwer, ihn nicht zu mögen, aber trauen will man ihm auch nicht so recht.

Der wichtigste Neuzugang ist Darius, der Bewahrer und Erzbischof der Stadt Metropolis. Seine Herrschaft trägt durchaus Anzeichen von Irrsinn – Kinder werden verschleppt und als Ersatzteillager missbraucht, nur um die herrschende Klasse uralter Greise am Leben zu halten! Die Bewohner der Stadt, über die er der nahezu uneingeschränkte Alleinherrscher ist, sind fast alle durch eine Art implantiertem Computerchip gleichgeschaltet. Die Stadt selbst ist sowohl auf realer Ebene als auch im Traumfeld nach außen hin geradezu verbarrikatiert. Dennoch kann man Darius nicht direkt als größenwahnsinnig bezeichnen. Seine Ziele – Unsterblichkeit und absolute Kontrolle über uneingeschränkt alles – mögen aberwitzig sein, er selbst aber ist völlig klar im Kopf, kalt, berechnend und skrupellos, und das macht ihn nur umso gefährlicher! Mit Darius und seiner Stadt Metropolis hat der bisher so anonyme Feind ein Gesicht bekommen.

Und nicht nur der Gegner hat sich deutlicher herauskristallisiert, auch der geschichtliche Hintergrund wurde präziser beleuchtet. Stowe fragt Willum und erhält einige Antworten, Roan findet auf seinem Weg mit dem Geschichtenerzähler einige Dinge heraus. Die verschiedenen Gruppen, denen Roan bisher begegnet ist – sein eigenes Dorf, die Bewohner der Oase, die Brüder und Kiras Dorf -, werden allmählich in Zusammenhang zueinander gesetzt. Das Bild, das daraus entsteht, zeigt: Der verheerende Krieg, der das Land so vollkommen zerstört hat, ist noch gar nicht zu Ende! Und jede der Gruppen, die darin verwickelt ist, scheint ihr eigenes Süppchen zu kochen. Mit diesen Leuten soll Roan gegen Metropolis in den Krieg ziehen? Dann hat er aber noch eine ganze Menge Arbeit vor sich!

Ein zusätzlicher Effekt, den die Einbettung der Ereignisse in einen historischen Zusammenhang mit sich bringt, ist die Vermeidung von Schwarz-Weiß-Effekten. Das Tun der Charaktere rund um Roan und Beule wird nachvollziehbarer, macht sie menschlicher. Auch die „Guten“ sind nicht perfekt, und die „Bösen“ waren zumindest früher einmal Leute wie alle anderen auch. Bei manchen, wie zum Beispiel Saint, ist es gar nicht möglich, sie eindeutig der einen oder anderen Seite zuzuordnen.

Eine interessante Facette des Buches bildet der Staub. Dieser Stoff, den die Staubesser benutzen, um das Traumfeld zu erreichen, stammt nicht ursprünglich von der Erde und ist deshalb begrenzt. Seine Beschreibung klingt wie die einer bewusstseinserweiternden Droge. Der Streit um die Folgen, die sich aus seiner Benutzung ergaben, war der Auslöser für den Krieg. Roan allerdings besitzt die Fähigkeit, das Traumfeld ohne Staub zu erreichen. „Er kann gehen, wohin er will“, sagt Mabatan über ihn, also auch an Orte, die andere nicht erreichen oder aber nicht wieder verlassen können. Hier wird der fließende Übergang zwischen Fantasy und Science-Fiction deutlich. Elegant und ohne Holpern, frei von logischen Brüchen und ganz unaufdringlich durchzieht diese Mischung das Buch und verzahnt alles miteinander.

Kurz gesagt: Im zweiten Band des Zyklus hat sich einiges weiterbewegt. Der historische Hintergrund sowie die Verhältnisse in Metropolis und die Ereignisse rund um Stowe haben viele neue und interessante Aspekte in die Geschichte eingebracht. Die lebensfeindliche Umwelt sowie die Häscher des Erzbischofs – nebenbei, man beachte: Erzbischof! Nicht König oder General oder Präsident! – halten die Ereignisse um Roan unter steter Spannung, während Stowe ständig sowohl die Entdeckung ihres Wissens als auch ihrer geheimen Fähigkeiten fürchten muss. Die Charaktere sind vielfältig und frei von plakativen Klischees.

Mit anderen Worten: Dennis Foons |Das Vermächtnis von Longlight| entwickelt sich zu einem kleinen Juwel und ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich lohnt, gelegentlich nach weniger bekannten Namen zu greifen und nicht immer nur nach solchen, die einem ständig überall begegnen.

Dennis Foon wurde in Detroit, Michigan, geboren und lebt seit 1973 in Kanada. Er war Mitbegründer eines Jugendtheaters und schrieb zahlreiche Drehbücher für Film und Fernsehen, u. a. für die TV-Serie „Die Fälle der Shirley Holmes“, aber auch Theaterstücke. Seine Drehbücher und Dramen wurden vielfach ausgezeichnet, für das Stück „Invisible Kids“ erhielt er den British Theatre Award. Der dritte Band des Zyklus unter dem Titel „The keeper’s shadow“ erschien im September letzten Jahres. Bis das Buch auf Deutsch erscheint, wird es also wohl noch eine Weile dauern.

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