Wolfgang Jeschke & Karl Michael Armer (Hrsg.) – Zielzeit. Die schönsten Zeitreise-Geschichten Band 2

Klassische und andere Erzählungen: Durch die Zeit, schubiduwah!

Die beiden bekannten Herausgeber Jeschke und Armer haben zwei Bände der schönsten Zeitreisegeschichten extra für die Heyne SF Bibliothek zusammengetragen. Es ist ein genre von außerordentlich hohem Qualitätsniveau, und so fiel es ihnen nicht schwer, fündig zu werden. Die Auswahl erfolgte unabhängig vom Bekanntheitsgrad des Autors und unabhängig davon, ob die Geschichten bereits einmal in Deutschland veröffentlicht worden waren. Einzige Limits waren eine Seitenbegrenzung auf 70 Seiten und dass die Story nicht kurz zuvor irgendwo publiziert worden war.

Ausdrücklich sei an dieser Stelle auf das einleitende Vorwort Wolfgang Jeschkes und eindringlich auf das Nachwort Armers hingewiesen, die beiden nur in Band 28 „Die Fußangeln der Zeit“ zu finden sind. Besonders Armer zeigt beachtliche Aspekte des Subgenres Zeitreisegeschichte auf, die im Grunde jeder beliebige Leser nachvollziehen kann: Befinden wir uns schließlich nicht alle auf der Zeitreise des Lebens? In meiner Besprechung dieses Bandes werde ich näher darauf eingehen können.

Dieser 2. Auswahlband mit Zeitreisegeschichten ist der Band 29 der Heyne Science Fiction Bibliothek und die direkte Fortsetzung von Band 28.

Die Herausgeber

1.) Karl Michael Armer

Karl Michael Armer, geboren 1950, ist in der Werbung tätig und veröffentlichte ab 1977 SF-Stories sozialkritischen Inhalts. Dazu gehören „Mit beiden Beinen fest auf der Erde“ (1977), „Es ist kein Erdbeben, Ihnen zittern nur die Knie“ (1981), „Die Eingeborenen des Betondschungels“ (1984) und „Die Endlösung der Arbeitslosenfrage“ (1987). Weitere Stories wie „Durch das Weltall, schubiduwah“ erschienen auch in USA oder wurden wie „Umkreisungen“ mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

2.) Wolfgang Jeschke

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für kenner“ im Kichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Christopher Priest & David Redd: Der Agent (1982)

Die südliche Ostsee wird in einer Parallelwelt von der Norddeutschen Republik und dem Masurischen Bund gleichermaßen begehrt. Der kleine Stadtstaat Silte ist nominell neutral, wird aber von den Masuren als Schutzgebiet beansprucht. Egon Rettmer ist in Silte, im Haus seiner Tante, als Agent der Norddeutschen tätig. Diese bereiten bereits die Invasion Siltes vor.

Die Invasoren haben Rettmer einen Feldsensor gegeben, mit dem er durch das Zeitfeld in ihre Zeitzone gelangen kann. In dieser Zone ist es bereits einen Tag später und die Invasion in vollem Gange. Nach seiner Rückkehr soll Rettmer eigentlich den Sensor zerstören, doch das unterlässt, denn er hat eigene Pläne: Die Norddeutschen behandeln ihn zu geringschätzig, was ihn wütend macht. Er will die Invasion deshalb lieber auf einer vorgelagerten Insel überstehen, während er in Silte wahrscheinlich umgekommen wäre.

Doch als er die junge Heidi Blühm, ein Mündel des russischen Händlers Wassilow, in seinen Plan einweiht und integriert, verstößt er gegen die Regeln der Zeit und begegnet sich mehrmals selbst. Die Folgen sind höchst unerfreulich…

Mein Eindruck

Liebe in den Zeiten des Krieges – alle Regeln sind aufgehoben, auch die des Zeitverlaufs. Die ziemlich sinnliche und ein wenig ironische Geschichte besticht nicht so sehr durch den etwas verwirrenden Ablauf der Ereignisse, die sich in Schleifen statt auf Linien bewegen, sondern vielmehr durch die besondere Art der Liebe, die dadurch ermöglicht wird.

Rettmer baggert Heidi an, bis sie ihm nach draußen vors Haus der Tante folgt. Dort fällt sie ihm praktisch um den Hals – aber hoppla! Da berichtet sie ihm vom Morgen des gleichen Tages, wo er sie doch recht forsch verführt habe, und sie habe eingewilligt, weil sie von ihrem Vormund Wassilow loskommen wollte. Diesmal sind die Voraussetzungen der Liebe also nicht wie üblich Bekanntschaft, Verführung und Beischlaf, sondern diese bereits erfüllt, als Rettmer, wie er denkt, Heidi erstmals kennenlernt. Immerhin ist er gewitzt genug, um schnell auf die besonderen Umstände einzugehen.

Doch dann dreht Heidi den Spieß um: Rettmers Plan war von Wassilow vorhergesehen worden, der umgehend die Masurische Polizei alarmierte. Plötzlich wird Rettmers Fluchtplan zu einer Falle, in der er sich um ein Haar gefangen hätte. Nur der Feldsensor rettet ihm mit dem Sprung in eine andere Zeitzone. Doch hier beginnt sich die Schleife negativ auf alle auszuwirken…

2) Philip K. Dick: Eine Kleinigkeit für uns Temponauten (1974)

„Ich will sterben“, fleht Addison Doug, doch dieser Wunsch bleibt ihm verwehrt. Genauso wie seine Mit-Temponauten Benz und Crayne ist er in einer Zeitschleife gefangen: Er ist dazu verdammt, immer wieder seinen eigenen Tod, seine Rückkehr und die nationale Trauerfeier wiederzuerleben. Seine Merry Lou ist ihm nur eine kleine psychologische Stütze bei seiner Bürde, aber immerhin: Benz und Crayne haben überhaupt niemanden, der ihnen hilft.

Nach und nach erfahren wir aus Gesprächen, wie es zu der misslichen Lage kam. Die Russen hatten schon ein Team 50 jahre voraus in die Zukunft geschickt. Die Amerikaner mussten natürlich nachziehen, mit einem doppelt so weiten „Flug“. Leider ging beim „Wiedereintritt“ in die Gegenwart etwas schief, und damit begann die Zeitschleife. Als einzigen Ausweg sieht Doug die Selbstvernichtung beim „nächsten“ Flug: Er nimmt 50 Pfund Zusatzgewicht mit, so dass es beim Rückeintritt zu einer Implosion kommen, bei der die Temponauten sterben sollten….

Mein Eindruck

Das ist eine psychologisch tiefgründige, aber logisch gesehen anstrengende Story. Kein Wunder angesichts der zu bewältigenden Zeitparadoxa. Am wichtigsten ist aber die Psychologie, und auch bei dieser hapert es, besonders bei Merry Lou: Wenn sie Doug liebt, warum hilft sie ihm dann, zu sterben? Sie sagt nie, dass sie ihn von seiner Bürde – nämlich die Hölle des ewigen Lebens – befreien will. Auch wird erst beim wiederholten Lesen klar, warum Doug seinen zwei Kollegen etwas vormacht: Sein letztes Gespräch mit dem Militärkommando der Mission verläuft ganz anders als er es ihnen erzählt.

Fazit: In dieser Story, die zuerst in „Final Stage“ (GB) erschien, steckt mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Daher hat sie andere Autoren stark beeinflusst. Mit der titelgebenden „Kleinigkeit“ ist übrigens ein Trostpflaster gemeint.

3) Kingsley Amis: Verein der Freunde des Fusels (1964)

Der Zeitreisende Simpson erkundet mit verschiedenen Apparaten die nahe Zukunft des 22. Jahrhunderts, freundlich unterstützt von seinen Vereinsmitgliedern, die allesamt wie er Alholoforscher sind. Was Simpson aus der Zukunft zu berichten weiß, klingt alles andere als ermutigend oder erheiternd. Religiöse Fanatiker hat 20 Jahre lang das Trinken von Alkohol wie auch dessen herstellung unterdrückt, und als Simpson eintrifft, muss er feststellen, dass die „alkoholischen Getränke“ vor allem Industriealkohol enthalten – schauderhaftes Zeug!

Da hilft ihm ein freundlicher Zeitgenosse namens Pjotr Davies aus der Patsche, indem er ihm den „Verein der Freunde des Fusels“ vorstellt. Dessen Mitglieder haben sich an einem 200 Jahre alten Film, den sie in altem Müll fanden, ein Beispiel genommen und das, was sie dort zelebriert fanden, als Vorlage für ihr „traditionelles genießen alkoholischer Getränke in traditionellem Ambiente“ genommen. Simpson ist gespannt, wie das wohl aussehen mag, denn der Film trug den Titel „Endstation Gosse“.

Wie er bei den folgenden Aktivitäten zu seinem Leidwesen herausfindet, geht es dabei um: Landstreicher, Rotwein, Methylakohol und leider auch jede Menge Schuhcreme…

Mein Eindruck

Kingsley Amis ist ein Spaßvogel, wie seine Satire „Die Verwandlung“ über ein vom Papst regiertes England bewies, nebst diversen anderen Romanen wie „The Anti-Death League“. Auch hier zeigt er sich von seiner satirischen Seite. Er stellte sich einfach vor, wie man in hundertachtzig Jahren wohl Alkohol konsumieren würde, eine dann vielleicht schon vergessene Kunst.

Dass er aber ausgerechnet Pennbrüder dafür einsetzt, ist schon ein Verstoß gegen den guten Geschmack. Es wird jedoch noch viel schlimmer, als der Zeitreisende auch die verschiedenen Zutaten des Fusels, den die Vereinsfreunde zusammengebraut haben, zu kosten bekommt. Diese Zutaten sind derart lebensbedrohlich, dass Simpson Reißaus nimmt. Beim Leser kommt der Verdacht auf, dass der Autor eben KEIN Freund des Fusels war – und auch nie einem solchen Verein beigetreten wäre.

4) John Brunner: Der galaktische Verbraucherservice 1. Bericht: Preiswerte Zeitmaschinen (1965)

In einem Vergleichstest, der der „Stiftung Warentest“ alle Ehre machen würde, untersucht die Zeitschrift „Der gute Kauf“, 2329 veröffentlicht von der Galaktischen Föderation der Verbraucher-Gemeinschaften, sechs verschiedene Zeitmaschinen auf ihr Preis-/Leistungsverhältnis. Die üblichen Testkategorien wie Leistung, Verarbeitung, Betriebssicherheit, Garantien und vor allem Preis werden auf ihre Güte abgeklopft. Dabei tritt Erstaunliches zutage.

Erste Zeitmaschinen gab es schon 2107 auf Logaia, doch erst nach einem Jahrhundert des Einsatzverbots gelang es Dr. Ajax Yak von der Universität Spica um 2230, ihr Prinzip so zu vereinfachen, dass sie zu erschwinglichen Preisen für Endverbraucher hergestellt werden konnten. Auf den meisten Welten wird dafür ein Führerschein verlangt. Aber nur auf wenigen Welten wie Terra, Konfuzius und Osiris gibt es auch Mindestanforderungen an Leistung und Qualität. Deren Normen wurden dem Test zugrunde gelegt.

Die Testgeräte liegen im Preis alle unter 10.000 Krediteinheiten. Sie liegen in drei Kategorien, je nachdem ob sie beim Einzelhandel zum regulären Preis und/oder beim Discounter gekauft wurden. Die Modelle heißen, vom Topmodell abwärts:

Welt-Wanderer
Chronokinetor
Super-Wandler
Tempora Mutantur
Jederzeit-Hüpfer
Ewigkeits-Twister (importiert)

Um es kurz zu machen: Der „Welt-Wanderer“ erwies sich als empfehlenswertes Heimgerät, doch vor dem Kauf des Ewigkeits-Twisters warnen die Autoren des Tests eindringlich. Nicht nur die Klausel, dass laut „Garantie“ jeder Käufer sein Eigentum gepfändet bekommt, sollte er Mängel am Gerät reklamieren, machte sie stutzig. Auch die Entdeckung, dass die Kabelisolierung aus TIERLEDER bestand, ließ bei ihnen das rote Lämpchen grell aufleuchten. Und als sie ein wenig nach der Herkunft dieses Imports forschten, stießen sie auf jenes verhängnisvolle Jahr 2107, als auf Logaia die ersten Experimente gemacht wurden…

Drum lese, wer sich für das Zeitreisen interessiert, erst einmal „Der gute Kauf“, bevor man sich unrettbar im Kochtopf eines Barbaren wiederfindet!

Mein Eindruck

Ganz wundervoll, wie der versierte Autor Brunner hier das Prinzip der „Stiftung Warentest“ auf ein in der SF gängiges Requisit anwendet, auf die Zeitmaschine. Seit H.G. Wells sie so erfolgreich im Jahr 1895 erfand, taucht sie immer wieder in klassischen Geschichten auf, sei es bei Asimov oder Heinlein. Noch heute sind diese Apparate von großer Faszination, so etwa in „Zurück in die Zukunft“. Doch keiner der geistigen Schöpfer verschwendet auch nur fünf Minuten darauf, uns zu erklären, wie diese Maschine funktioniert, geschweige, ob sie ein qualitätsvolles Gerät der Topkategorie ist oder ein Billigimport von Irgendwo.

Brunner beschreibt wenigstens einige Bestandteile der Maschine, so etwa die Energieversorgung – Atomfusion oder –spaltung –sowie den Feldgenerator. Er erwähnt ein geheimnisvolles „Versteinerungsfeld“, das – irgendwie selbstverständlich – den gesamten Körper des Zeitreisenden umfangen müsse, um ihn komplett und nicht etwa in Einzelteilen von Zeitpunkt A nach Zeitpunkt B zu transportieren. Nicht alle Geräte erfüllen im Test diese Voraussetzung, mit fatalen Folgen für die Prüfer!

Auch die Reichweite ist natürlich ein Kriterium für die Leistungsfähigkeit. Hier unterscheidet sich die tatsächliche Leistung in Erdnormjahren (ENJ) von der im Datenblatt genannten mitunter beträchtlich. Immerhin bringt es der „Welt-Wanderer“ auf fast ein Dutzend Jahrtausende, wohingegen der „Ewigkeits-Twister“ nicht einmal den Mindestwert von 4,7 ENJ erreichte.

Höchst interessant ist das Konzept VERBOTENER Zeitzonen, die niemand besuchen darf. Ähnlich wie das Tempolimit im Straßenverkehr, das bei Strafe nicht überschritten werden darf, gibt es auch im Zeitreiseverkehr Verbote. Sie sind meist religiös begründet, denn eine Zuwiderhandlung könnte einen galaktischen Krieg auslösen. Zu solchen Zeitzonen gehören: Jesu Kreuzigung und Auferstehung, Buddhas Meditation unterm Bo-Baum, die Hedschra Mohammeds in Jahr 622 n.Chr. und zwei andere Zeitzonen neueren Datums.

Diese Daten sind in Listen eingetragen, die die Maschine automatisch beachten muss, damit er zu keinem Verstoß kommt. Leider waren manche Geräte nicht in der Lage, sie alle ausnahmslos zu beachten, und so kam es dass einer der Prüfer nach dem Besuch von „Bertie Tuddles Streben“ einen hysterischen Lachanfall erlitt, der ihn arbeitsunfähig machte. Die Autoren des Tests geben deshalb strenge Empfehlungen, auch was die Retemporisierungs-Police für die Rückkehr-Versicherung betrifft.

Wie man sieht, verfügt der Autor über eine gehörige Portion Humor und Ironie. Er macht seinen Job ausgezeichnet und sehr glaubhaft. Dass er überhaupt keine Geschichte erzählt, verzeiht man ihm gerne, denn die „Helden“ dieser Story sind neben den namenlosen Prüfern vor allem die Geräte selbst. Die Textsorte „Prüfbericht“ wurde während der SF-Epoche der New Wave mehrfach von den besten Autoren des Feldes gewählt, doch unter ihnen ragen Brunners Beiträge heraus. Er fasste sie im Buch „Der galaktische Verbraucherservice“ zusammen, das deutsch bei Goldmann erschien.

5) Garry Kilworth: Auf nach Golgatha (1975)

Simon Falk bucht eine kleine Zeitreise, zusammen mit seiner Frau Mandy grübelt er, wohin sie ihre Kinder James und Julie nehmen sollen. Da kommen ihre besten Freunde Harry und Sarah vorbei und erzählen, sie hätten die Kreuzigung gebucht. Welche Kreuzigung? Na, die von Jesus Christus! Das entscheidet die Wahl.

Nach einer Einweisung durch den Reiseleiter und einer Sprachinjektion fürs Hebräische flutschen sie ins Jahr, in dem Jesus von Nazareth vor Pontius Pilatus gestellt wird. Es ist ein kleines Städtchen, dieses Jerusalem, doch zum Glück ist ihre Reisegruppe gut genug getarnt, um als Einheimische durchzugehen. Als Pontius Pilatus die Frage nach der Begnadigung stellt, ruft James aus Versehen „Barabbas!“ Simon ist aufgebracht, doch zum Glück ist nichts Schlimmes passiert.

Wenig später macht Mandy eine beunruhigende Entdeckung. Auf der Suche nach dem stillen Örtchen stößt sie auf die Tatsache, dass alle einheimischen Familien in ihren Häusern sind und offenbar während der Kreuzigung trauern, denn sie sind sehr still. Aber wer sind dann all die Leute, die Jesus verhöhnen und beschimpfen? Simon ist entsetzt: Es sind alles Touristen, die wie er selbst gekommen sind, um Jesu Tod mitzuerleben…

Mein Eindruck

Die Geschichte ist ein typisches Beispiel für Heisenbergs Unschärferelation: Der Vorgang des Beobachtens durch einen Betrachter ist allein bereits die Ursache für eine Veränderung des Beobachtungsobjektes. Das trifft sicherlich auch für den Tourismus zu, wie man an der jahrzehntelangen Veränderung des Mittelmerrraumes und anderer Gegenden ablesen kann. Hier kommt nun eine Urszene der christlichen Religion hinzu. Trotz aller Zweifel an der Legitimität ihres Besuchs – Simon & Co. sind noch Gläubige – lassen sie sich dazu herab, eben diese Szene anzuglotzen, als wäre sie ein Fußballspiel, ja, sogar beim Verhöhnen mitzumachen. Zu spät merken sie, dass die Touristen die einzigen Zuschauer sind. Irgendeiner hat hier einen Fehler gemacht, und es dürfte wohl die Reiseleitung gewesen sein.

Ein kleiner Fehler ist dem Autor unterlaufen. Die Leute, die damals in Jerusalem/Galiläa lebten, sprachen nicht Hebräisch, sondern Aramäisch.

6) Mack Reynolds: Zins und Zinseszins (1956)

Im Jahr 1300 begehrt ein seltsam gekleideter Ausländer, der sich Mr. Smith nennt, Einlass in das Haus der Bankgesellschaft Marin Goldini in Venedig. Als er 10 Goldmünzen unbekannter Prägung auf den Tisch legt, um sie für 10 Prozent Zins anzulegen, ist der Bankherr nicht abgeneigt. „Und für wie lange?“ will er wissen. „Für hundert Jahre“, sagt Mr. Smith. Ein Vertrag wird abgeschlossen und Mr. Smith gibt Empfehlungen für die Anlage der Summe.

Als er hundert Jahre später das Bankhaus Goldini-Letta betritt, hat sich das Geld samt Zins uns Zinseszins auf 700.000 Zechinen vermehrt. Er legt es erneut für hundert Jahre und erteilt Empfehlungen für seine Anlage, wie schon zuvor. Nun verlangt er die schriftliche Niederlegung der Vereinbarung. Und so weiter bis zum Jahr 1910. Inzwischen macht Mr. Smiths Vermögen mehr als zwei Drittel aller Vermögenswerte des Planeten aus. Doch nur sechs Menschen ist die Existenz des KONTRAKTES bekannt, der die Zukunft dieses immensen Betrags bestimmt. Und nur sie wissen, wieviele Kriege um die Macht über dieses Geld es gegeben hat, das ursprünglich nur aus 20 US-Goldmünzen bestand.

In einem kleinen Kreis wird die Möglichkeit diskutiert, dass Mr Smith ein amerikanischer Zeitreisender sein könnte, wie ihn ein gewisser H.G. Wells in seinem 1895 erschienenen Roman „Die Zeitmaschine“ beschrieb. „Phantasterei!“ meinen mehrere Mitglieder. Viel wichtiger erscheint ihnen die Frage, was Mr Smith am 16. Juli 1960 mit seinem Vermögen anzustellen gedenkt, wenn er an diesem Tag zum letzten Mal vor dem Verwaltungsrat erscheint. Unbemerkt wird ein Foto angefertigt.

Zwei Weltkriege sind geführt worden und zahlreiche Erfindungen wurden gemacht. Der Vorsitzende vergleicht das Foto mit dem abermals auftretenden Mr Smith: Es ist der gleiche Mann, und dass er einen dicken Packen Vertragspapier vorlegt, erscheint fast überflüssig. Die Äußerung, dass man ihm nachspioniert hat, empört ihn nicht, und dass ein gewisser Prof. Alan Shirey nach der Möglichkeit einer Zeitreise befragt wurde, ebenfalls nicht. Nun eröffnet er dem Verwaltungsrat, was mit dieser Unsumme an Vermögen zu tun ist: die Liquidation – für einen ganz bestimmten Zweck…

Mein Eindruck

Was wie die Vorlage für Andreas Eschbachs Roman „Eine Billion Dollar“ klingt, nimmt einen völlig anderen Verlauf. Streng nach dem kapitalistischen Prinzip von Zins und Zinseszins (= compounded interest) vorgehend, beschreibt der Autor die immensen Folgen einer solchen Geldanlage, wenn sie nicht aufgeteilt, ausgegeben oder anderweitig vernichtet, sondern im Gegenteil auf Gewinnmaximierung hin angelegt wird.

Am Schluss steht natürlich die Frage: Wozu soll die ganze Aktion gut gewesen sein, selbst wenn sie sechs Jahrhunderte gedauert hat? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand, wenn man bedenkt, dass allein die Fähigkeit, alle 100 Jahre durch die Zeit zu reisen, immense Summen an Investitionen und Energievorräte erfordert… Doch da beißt sich die Katze in den Schwanz und zu Recht fragt ein Verwaltungsrat, welchen Wert sechs Jahrhunderte Menschheitsgeschichte hatten. Die Antwort von Mr Smith fällt etwas ernüchternd aus.

7) Wilma Shore: Wie aus gewöhnlich gutunterrichteten Kreisen verlautet (1964)

Auf dem beschädigten Tonband des verstorbenen Verhaltensforschers Dr. Edwin Gerber ist eine merkwürdige Konversation gefunden worden, die nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Dr. Gerber begrüßt einen gewissen Harry Wencelman aus dem Jahr 2066, also aus der fernen Zukunft! Auf welche Weise der Besucher zu Dr. Gerber gelangte, bleibt unklar.

Jedenfalls ist der Forscher bemüht, alles über das Leben im Detroit-Chicago der Zukunft zu erfahren, so etwa über globale Konflikte, die Börsenkurse, den aktuellen US-Präsidenten usw. Wer könnte es ihm verdenken? Doch Harry Wencelman stellt sich als 47-jähriger, verheirateter Buchhalter bei einem Konzern heraus, der außer Pendeln, Arbeiten und Zurückpendeln nichts im Sinn hat. Und da der Forscher nur über ein enges Zeitfenster zu verfügen scheint, muss er sich nur allzu bald wieder von ihm trennen.

Mein Eindruck

Welche weltbewegenden Neuigkeiten der Zeitreisende hätte mitteilen können! Börsenkurse etwa, oder wenigstens neue Verkehrsmittel. Stattdessen kümmert sich der Besucher nur um seine eigene kleine Welt, als sei er schon 65 und ginge gleich in Pension. Und sein Heim wird sowieso von seiner Frau regiert. Die Konversation wird auf frustrierende Weise zu einer Parodie jener weltbewegenden Dialoge, wie sie sich die Viktorianer und die John-Campbell-Autoren einfallen ließen, so etwa Heinlein, Asimov und dergleichen. Die Autorin zeigt, dass die Banalitäten des Alltags auch vor einer Zeitreise nicht haltmachen.

8) Robert Silverberg: Was heute in der Morgenzeitung stand (1972)

Eine weitere banale Welt ist die rein weiße Vorstadt des Redbud Crescent, die jedoch durch ein epochales Ereignis in Aufregung versetzt wird: Die Zeitung vom 1. Dezember ist bereits am 22. November da! Glücklicherweise ist nur ein kleiner Zirkel von 22 Haushalten im Besitz jener weltbewegenden Börsenkurse, die ihnen Wohlstand verheißen. Eine kleine Versammlung beschließt: Jeder versuche sein Glück auf eigene Faust!

Aber der Verdacht besteht insgeheim, es könnte sich um einen schlechten Scherz handeln, und deshalb wird der Ich-Erzähler misstrauisch, als die Buchstaben anfangen, verwaschen auszusehen. Und nicht nur das: Jede Zeitung vom 1. Dezember ist unterschiedlich. Daher reagieren die Nachbarn sehr nervös, als Edith Fischer kundtut, sie habe die Todesanzeige ihrer Schwester gesehen und wolle sie warnen.

Der Versicherungsvertreter, quasi der Wortführer der Zeitungsausnutzer, verbietet es ihr eindringlich. Wer weiß, was passieren könne, griffe sie in den Lauf des Schicksals ein. Schluchzend scheint Edith nachzugeben und sich damit abzufinden. Doch am 30. November erfährt unser Chronist, dass Edith dennoch zu ihrer Schwester geflogen ist. Dann ist er da, der 1. Dezember – und er bekommt die Zeitung vom 22. November! Und noch etwas ist anders: alles andere…

Mein Eindruck

Eine feine ironische Story von einem Routinier. Der Plot ist schon uralt, verwendet bereits in den 1940er und -50er Jahren, auch in einigen Märchen. Ganz nebenbei jedoch vermittelt der Autor ein paar persönliche Einsichten. Aus Eigennutz sind die Spekulanten unter den Nachbarn bereit, den Tod von Ediths Schwester billigend in Kauf zu nehmen. Sie dürfe sie nicht warnen noch ihr beistehen, wird ihr beschieden. Darf man dem Schicksal in den Lauf des Rades greifen, fragen sich die Spekulanten – aber nein, denn wenn es in der Zeitung steht, muss es ja auch so kommen. Ihre Mediengläubigkeit wird alles ebenso kritisch beurteilt. Und am Schluss erhalten sie ihre gerechte Strafe. Doch diese Hölle ist ganz anders als die bekannten.

9) Renato Pestriniero: Knoten (1984)

Ein Fotograf erblickt in Venedig ein geisterhaftes Gesicht im Fenster einer Wohnung. Es sieht aus, als sei es zu einem schrecklichen Schrei geöffnet, doch nichts ist zu hören. Seine Tochter Aura hat weder etwas gehört noch gesehen. Auch der Pförtner dieser Wohnsiedlung, die wegen ihrer hohen Treppe den Namen Scala Contarini trägt, leugnet, dass es hier solche Bewohner geben könne. Aber er faselt etwas von einer Zeitreise. Wie kommt er denn darauf, fragt sich der Fotograf.

Heimlich steigt der Fotograf in eines der Häuser ein, doch schon bald hat ihn ein anderer Pförtner erwischt. Man hat ihn quasi bereits erwartet, und so führt der Alte unseren Chronisten erst in eine riesige Bibliothek und dann durch einen engen Korridor, an dessen Ende ein riesiges metallisches Insekt hockt. Keine Gefahr, also nehmen sie den klapprigen Aufzug hinauf aufs Dach. Der Blick über Venedig ist wunderschön. Dann erklärt der Alte etwas über Knoten in zeitzonen, das unser Mann nicht versteht, also begibt er sich wieder nach draußen. Doch dieses hat sich verändert: Der Blumenladen an der Ecke ist fort und sein Freund Paolo ist ihm plötzlich fremd geworden. Nur Aura und ihre Mutter Claudia sind noch da, Gottseidank!

Zwei Jahre vergehen, bis der Fotograf bei einem seiner regelmäßigen Besuche den Alten wiedersieht und mit ihm über die Knoten in der Zeit reden kann. Er erfährt, dass er in früher Jugend in eine alternative Zeitzone versetzt worden sei, einen anderen lebensweg. Da versteht er, dass das Gesicht im Fenster, das alles ausgelöst hat, sein eigenes war!

Mein Eindruck

In dieser Geschichte, die mich an Kafka erinnert, wird philosophisch darüber gesprochen, wie alle Zeiten im Universum miteinander zusammenhängen und dass alle Wesen mit ihren Zeitzonen etwas Wesentliches zu einem höheren Zweck betragen. Aber worin könnte dieser höhere Sinn bestehen, fragt sich der Fotograf. In einem Gleichgewicht, in Vollkommenheit? Welcher Mensch könne dies schon von seiner Warte aus sagen, fragt der Alte unsicher und geht.

Die Siedlung Corte Contarini mit ihrer Scala hat mich gleich an gewisse Stadtgemälde von Giorgio de Chirico erinnert. Sie weist aber auch Züge der Vexierbilder von M.C. Escher auf: Treppe, die rundherum führen und doch wieder in sich selbst münden. Das Metallinsekt jedoch erweist sich lediglich als Staffage, denn es spielt keine weitere Rolle. Eigentlich schade.

10) John Sladek: Im Überlandbus (1971)

Andor fährt in den Badeurlaub. Da er sich finanziell keine großen Sprünge leisten kann, nimmt er den Überlandbus. Er liest Zeitung in der Hoffnung, mit keinem der anderen Fahrgäste eine Unterhaltung führen zu müssen, dann ein Reisemagazin, das seinen Badeort beschreibt, dann einen Krimi. Sein Sitznachbar wechselt, die Fahrgäste, doch die Restaurants gehören immer zur gleichen Kette: mit Spitztürmchen und einer rosa und grün gestrichenen Fassade; die Kellnerinnen tragen ebenfalls rosa und grün – Corporate Identity. Drei Mahlzeiten am Tag, ab und zu umsteigen, einmal hätte Andor um ein Haar den falschen Bus genommen.

Die Tage ziehen vorüber, und er bemerkt, dass er noch erstaunlich viel Geld übrig hat und sein Fahrschein immer noch die gleiche Anzahl Abschnitte wie am Anfang aufweist. Er denkt: In der Nacht fahre ich in der Zeit zurück. Vielleicht gibt es sogar zwei Andors, einen, der von A nach B fährt, und einen, der von B nach A fährt, mitten durch den ersten Andor durch. Und so kommt es, dass er niemals ankommt.

Mein Eindruck

John Sladek war einer der wenigen amerikanischen Teilnehmer an jener rebellischen literarischen Bewegung innerhalb der Science Fiction-Gemeinde, die später als New Wave bezeichnet wurde und die in der Mehrzahl in Michael Moorcocks Magazin „New Worlds“ veröffentlichte. Ein Kennzeichen der Texte bestand darin, dass sie stilistische Neuerungen der „Kunstliteratur“ aufgriffen und verwendeten, so etwa Wiederholungen und Schleifen im Handlungsablauf und in den Gedanken des Protagonisten. Das ist auch hier der Fall.

Andor ist ein typischer Vertreter der amerikanischen Kultur: Er ist mobil und bewegt sich durch eine Landschaft, in der sich alles wiederholt, insbesondere die Restaurants einer bestimmten Kette. Weil er sich nicht mit seinen anonymen Mitmenschen beschäftigt, sondern nur mit sich selbst, sind die Fahrgäste für ihn alle austauschbar. Er ist wurzellos, und sogar sein Ziel hat keine Bedeutung mehr, sobald ihm das Reisemagazin alles darüber erzählt hat. Tatsächlich glaubt er sich sogar schon daran zu erinnern, dort gewesen zu sein, mit einer austauschbaren Urlaubsbekanntschaft. Kein Wunder also, dass sich Andor sich im Bus, dem Inbegriff der Mobilität, am wohlsten fühlt.

Mögen die Äußerlichkeiten noch so amerikanisch wirken, so ähnelt die Geschichte nichts so sehr wie einer Geschichte von Franz Kafka…

11) Christopher Priest: Ein endloser Sommer (1976)

Thomas James Lloyd ist im August des Jahres 1940 in Richmond bei London gestrandet. Duetschen bombardieren immer noch die Großstadt und ab und zu stürzt ein abgeschossener Bomber vom Himmel. Das kümmert Thomas in keinster Weise. Er ist ein Fremder hier, gestrandet in der Zeit. Denn eigentlich stammt er aus dem Jahr 1903. In jenem Juni machte er gerade seiner geliebten Sarah Carrington einen Heiratsantrag, als ihn uns sie der Strahl des Friesergeräts traf. Eingefroren in eine unendliche Gegenwart, erstarrten sie ohne Bewustsein.

Doch im Januar 1935 erwachte Thomas aus diesem erstarrten Tableau und wurde mit einer Lungenentzündung ins nahe Krankenhaus eingeliefert. Seitdem ist er immer wieder zu jener Stelle am Ufer der Themse zurückgekehrt, wo Sarah, erstarrt in einem Moment der Vergangenheit, auf ihn zu warten scheint. Jeden Moment kann auch sie aus dem Tableau erwachen, sagt er sich. Doch wann?

Diese Frieser scheinen aus der Zukunft zu kommen, mit ihren teuflischen Apparaten, mit denen sie die Zeit erstarren lassen. Nur Thomas und andere Wiedererwachte können diese Menschen, die aus den Wänden ebenso sehen wie die Tableaus, die sie erzeugen. Als der deutsche Bomber abstürzt und die Wiese um Sarah herum zu brennen beginnt, drängen sich acht Frieser um das Wrack und die nahe Sarah. Und das Wunder geschieht: Die erwachende Sarah gerät in Flammen, doch Thomas nimmt sie fest in die Arme – und wird mit ihr eingefroren.

Mein Eindruck

Eine wunderschöne bittersüße Erzählung, die von Priests großem stilistischem Können zeugt und haargenau zu seinem ästhetischen Programm des „visionären Realismus“ passt: Zeit und Sichtbarkeit im Raum sind nur schwache und leicht aufhebbare Kategorien der Wirklichkeit, zeigt er uns. Doch wenn sich auch die Kategorien ändern mögen, so tut es die Seele des Menschen doch nicht: Thomas’ Liebe zu Sarah verlangt weiterhin nach Erfüllung und weigert sich, die Hoffnung aufzugeben. Dass es ausnahmsweise mal eine Art Happy-end gibt, ist ein seltener Glücksfall. Der Titel erweist sich im Lichte dieser Handlung und ihres Ausgangs als ein höchst bitterer Witz.

12) Brian W. Aldiss: Der Mann in seiner Zeit (1965)

Die erste Weltraumexpedition zum Mars ist zurückgekehrt, doch bei der Landung ging etwas schief. Acht der neun Crewmitglieder kamen dabei um, nur Jack Westermark hat überlebt. Aus Casablanca hat ihn die britische Regierung nach Hause zurückgebracht, um Jack zu untersuchen. Dabei wurde eine psychologische Anomalie entdeckt, die man nicht erwartete: Jack nimmt seine Umgebung exakt 3,3077 Minuten vor allen anderen wahr und reagiert auch entsprechend. Es ist, als besäße er jetzt seine eigene Zeitempfindung – womöglich ist die des Planeten Mars. So als besäße jeder Planet seine eigene Zeit.

Endlich lässt die Regierung Jack zu seiner Frau Janet. Sie ist behutsam auf die Anomalie vorbereitet worden, dennoch trifft es sie wie ein Schlag, wie sich Jack ihr gegenüber verhält – so als sei sie gar nicht da. Ihre Gefühle für ihn geraten erheblich ins Wanken. Um mit der neuartigen Lage zurechtzukommen, stellt die Regierung dem Ehepaar einen Berater zur Seite. Clement Stackpole bemüht sich wie ein wahrer Gentleman, doch er redet genau wie die Bürokraten: hochgestochen und technisch. Das treibt Janet immer wieder zur Weißglut. Clem und Jack reden sogar darüber, Expeditionen zur Venus und zum Saturn zu schicken – nicht zu fassen: Es wird also noch mehr Ver-rückte geben!

Ein unglückseliger Vorfall bringt das Fass dann zum Überlaufen. Es ist Janet, die durch ihr fehlehaftes Verständnis von dem, was ein „Ereignis“ ist, ihrem Mann Schmerz zufügt, obwohl sie ihm eigentlich helfen wollte. Stackpole erklärt es ihr und ihrer Schwiegermutter. Doch es fällt den Frauen schwer, derart fremdartige Konzepte zu erfassen, geschweige denn, sich darauf umzustellen. Die Trennung ist die einzig mögliche Konsequenz.

Mein Eindruck

Der bekannte britische SF-Autor, quasi schon der Doyen seiner nationalen Zunft (und ein wirklich feiner Kerl, wie ich nach einer Lesung beurteilen kann), wendet die Vorstellung einer minimalen Zeitverschiebung auf die wichtigste menschliche Beziehung an: Liebe und Ehe. Wichtig ist dabei, dass die Zeitverschiebung rein psychologisch begründet ist, also keinen einsteinschen Gesetzen der Zeitrelativität unterliegt. Sonst müsste ja Westermark bei seiner Rückkehr zur Erde deren Ortszeit übernehmen. Das tut er aber nicht, sondern bleibt der Mars-Zeit verhaftet.

Auf die feinfühlige englische Art exerziert der Autor die verschiedenen Stadien des Zerfalls einer Ehe durch. Kurzzeitig denkt Janet sogar an eine Affäre mit Stackpole, doch schon bald merkt sie, dass der Psychologe ihr unsympathisch ist, weil er er genauso technisch denkt wie Westermark selbst. Zwischen dieser Denkweise und ihrer eigenen, emotional betonten Empfindungsweise liegen Welten. Und wenn diese vermaledeiten dreieinhalb Minuten nicht wären, die Jack von ihrer Welt trennen, würde der Unterschied in ihrer Denk- und Empfindungsweise die Kluft herbeiführen.

13) Robert Bloch: Die alten Rittersleut (1941)

Irgendwo in der amerikanischen Provinz hat sich der ehemalige Gangster Butch von seinem Milieu abgeseilt und widmet sich der Landwirtschaft. Nachdeem er wieder mal 50 Hühner mit Verlust verscherbelt hat, fährt er zu einer Kaschemme, um dem Dünnen Tony, einem lokalen Mafioso, seine „Schutzgebühr“ zu entrichten. Doch bevor er dort anlangt, stoppt ihn ein nie gesehenes Phänomen: ein Ritter in voller Rüstung auf einem ebenso gepanzerten Ross. Weil der Ritter Butchs Pickup für einen Drachen hält und ihn mit eingelegter Lanze angreift, muss Butch ausweichen. Es geht einiges zu Bruch, auch am Ritter.

Dieser stellt sich höflich als Sir Pallagyn von der Schwarzen Festung vor und berichtet, der Zauberer Merlin habe ihn mit einer Kundfahrt beauftragt und deshalb durch die Zeit geschickt, um hier einen bestimmten Gegenstand zu „besorgen“ (sprich: klauen). Er gesteht, Butch habe ihn in ehrlichem Kampfe geschlagen. Daher gehöre dem Sieger das Ross, aber auch die Waffen. Das bringt Butch auf eine Idee. Er ist ein richtig netter Gangster und erkennt einen Kumpel, wenn er ihn sieht. Außerdem hat er schon eine Menge Whisky intus und bringt seinen Sir Pal auf dessen geschmack. Feuchtfröhlich beschließen sie als aufrechte Kumpels, es mit dem dünnen Tony aufzunehmen. Butch wird dem Kerl die Meinung geigen und den Tribut verweigern.

Die Meinugsverschiedenheit wird zu Butchs Zufriedenheit geregelt, allerdings mit kräftiger Mithilfe seitens des edlen Ritters. Dafür will sich Butch revanchieren – auf Gangsterehre! Das Objekt, das Sir Pal sucht, befindet sich offenbar im Museum der nächsten Stadt, dort wo sich in Vitrinen jede Menfge Altertümer befinden – und Ritterrüstungen. Butch tüftelt einen Plan aus, der in seiner Schlichtheit geradezu genial ist: Er belässt Pal einfach in seiner Rüstung, liefert ihn im Museum ab. Wenn nachts die Luft rein ist, kann sich Pal das Objekt krallen und türmen. Leider erweist sich die Ausführung dieses Genie-Plans aus weitaus wenig ideal, so dass es schon bald im sonst so friedlichen Provinzmuseum ordentlich rumst…

Mein Eindruck

Eine prächtige Schnurrpfeiferei, wie sie Jeschke und Armer lieben! Und die Übersetzung bringt den schnoddrigen Gangsterjargon von Butch exakt herüber, ebenso aber auch die höfische, gestelzte Ausdrucksweise Sir Pallagyns. Butch lässt dabei als alter ego des Autor einige spitze und abfällige Bemerkungen über die alten Rittersleut fallen. Er nennt die Ritter der Tafelrunde die „Artus-Gang“, die sich ständig mit konkurrierenden Gangs anlegte und überall, wo sie hinkam, sich alles, was nicht niet- und nagelfest war, unter den Nagel riss, so etwa auch diesen komischen Kelch, den Gral. Das muss so `ne Art Fußballpokal gewesen sein, naja.

Diese und weitere Respektlosigkeiten sind ebenso herzerfrischend wie die Sauferei der beiden so unterschiedlichen Kumpels. Natürlich denkt Butch am Ende, er habe alles nur im Suff halluziniert. Aber dann sieht er das edle Ross von Sir Pallagyn in seinem Stall…

14) Ursula K. Le Guin: April in Paris (1962)

Prof. Barry Pennywither aus Indiana weilt am 2.4.1961 zu Studienzwecken in Paris, genauer gesagt, auf der Ile St. Louis, unweit von der Kathedrale Notre Dame. Er ist einsam und unglücklich. Plötzlich erfasst ihn eine Gewalt, die ihn durch die Zeit schleudert. Dr. Jehan Lenoir aus dem Jahr 1486 ist ebenfalls einsam und unglücklich, wohnt im gleichen Zimmer wie Pennywither und hat ihn mit einem Zauberspruch herbeigerufen.

Da der Professor Experte für das französische Spätmittelalter ist, findet er sich mit Lenoirs Akzent sofort zurecht. Nachdem sie sich gegenseitig versichert haben, dass sie nicht aus der Hölle kommen, tauschen sie ihre Kentnisse aus. Pennywither kehrt kurz in seine eigene Zeit zurück, doch kommt er mit einer goldenen Taschenuhr und vielen Büchern zurück: Endlich hat er einen guten Freund gefunden. Sie verbringen viele Stunden miteinander und nachdem sie die Uhr für ein Jahresgehalt verkauft haben, kosten sie zudem die Schönheiten des Lebens aus.

Doch Pennywither sehnt sich nach weiblicher Gesellschaft, und so tut ihm Lenoir den Gefallen, eine Frau herbeizurufen: Es ist ist die gallische Sklavin Bota, die im Lutetia der spätrömischen Zeit nichts zu lachen hatte. Doch in Pennywithers liebevollen Armen blüht sie auf, auch wenn ihr Latein einiges zu wünschen übriglässt. Nun fühlt sich nur noch Lenoir einsam und vernachlässigt. Ein kleiner Hund ist zwar ein Anfang, aber eine Frau wäre ihm lieber, und so ruft er eine herbei.

Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine Archäologin, die von der Erdkolonie Altair stammt, in einer fernen zukünftigen Zeit. Auch sie war einsam und fühlte sich unter Ihresgleichen fremd. Doch hier bei Pennywither und Lenoir kommt sie sich heimisch vor. Das Quartett plus Hund beginnt ein gemeinsames Leben. Schließlich ist es April in der Stadt der Liebe, und die Kastanien blühen…

Mein Eindruck

Dies ist natürlich eine sehr romantische, etwas naive Geschichte. Aber sie hat bereits wichtige Grundmerkmale vieler Geschichten Le Guins. Die beiden Doctores dürsten nach Wissen und ergründen die Welt, deshalb haben sie keinerlei Problem damit, sich mit Angehörigen anderer Völker anzufreunden und ebenfalls auszutauschen: den Frauen Bota und Kislk (die möglicherweise nicht menschlich sind). Auch Kislk dürstet nach Freundschaft und Wissen, Bota sucht Freiheit, Zuneigung und Liebe. Sie bilden das, was man heute auf Facebook und MySpace eine kleine Community nennen würde. Es ist wirklich eine sehr schöne Geschichte.

15) Robert F. Young: Das Mädchen mit dem Löwenzahn (1968)

Mark ist ein 44-jähriger Anwalt, der im September 1961 seinen Urlaub in den idyllischen Wäldern hinter Cove City verbringt. Seine Frau Anne ist als Geschworene in der Stadt, sein Sohn Jeff studiert. Eines Tages sieht Mark auf seinem Spaziergang ein schönes Mädchen auf dem Hügel stehen, und ihr Anblick raubt ihm den Atem. Sie trägt ein weißes Kleid, das sie umweht, und löwenzahngelbes Haar. Sie heißt Julie und ist eine Zeitreisende aus dem Jahr 2201.

Zunächst ist er nicht ganz sicher, ob ihm die junge Frau nicht einen Bären aufbinden will, aber sie sagt so kluge Dinge über das Zeitreisen und die Zeitmaschine, die ihr Vater, ein Physiker, konstruiert habe, dass er ihr zu glauben beginnt. Ihre Treffen werden regelmäßig und ihre Dialoge intensiver. Deshalb trifft es ihn hart, als sie vier Tage ausbleibt. Der Grund ist einfach: Ihr Vater ist gestorben. Da sie die Maschine kaum selbst reparieren kann, wird sie wohl kaum noch einmal kommen. Tut sie auch nicht, und Mark wird schier verrückt vor Liebeskummer, denn ihre letzten Worte waren: Ich liebe Sie.“

Als er zu seiner Frau Anne zurückkehrt, hat sich etwas verändert, wie sie sofort bemerkt. Sie fürchtet, er könne eine andere haben. Doch dann macht er einen Fund in einem alten Koffer, der alles verändert – und wieder ins Lot bringt.

Mein Eindruck

Was für eine ungeheuer romantische Geschichte. Es geht um einen Mann in der Midlife-Crisis, der sich in eine junge Frau verliebt, die seine Tochter sein könnte. So schön, so altbekannt. Vergleichsweise interessanter ist jedoch die Begründung, warum Zeitreisen in die Vergangenheit ungefährlich sind. Die Zukunft ist festgelegt und ein Zeitreisender wird so in die umgebenden Geschehnisse eingebettet, dass er die Zukunft nicht ändern kann. Es bringt also keiner seinen Großvater um, so dass er selbst nie geboren wird. Vernünftigerweise gelten die gleichen Zwänge und Vorkehrungen gegen solche Missetaten wie zu allen Zeiten. Leuchtet mir ein. Ein bisschen.

16) Robert Silverberg: Viele Häuser (1973)°°°°°°°

Alice und Ted Porter sind schon elf Jahre verheiratet, haben zwei Kinder und – hassen sich bis aufs Blut. Ted will sich mit seiner Geliebten Ellie abseilen, aber die Scheidung würde ihn wohl arm machen – nicht so gut. Alice wird von ihm nicht mehr begehrt, ganz klar, obwohl sie ihn noch körperlich attraktiv findet. Während beide heimlich darüber nachdenken, wie sie den anderen loswerden können, bietet ihnen die Firma Temponautics Inc. an, eine Probefahrt mit einer Zeitmaschine zu unternehmen.

Sie haben schon darüber gesprochen, was wohl passieren würde, wenn Ted in die Vergangenheit reisen würden, um seinen Großvater umzubringen, so dass er nie geboren werden würde. Großvater Martin Jamieson ist jetzt 88 Jahre alt, lechzt aber immer noch nach Alices beträchtlichen Reizen. Ohne es Ted zu sagen, fasst Alice ihrerseits den Plan, Opa Jamieson im Jahr 1947 umzubringen, damit Ted nicht geboren wird und sie frei sein würde. Als sie in der Zeit 59 Jahre zuvor anlangt, betritt sie das Junggesellen-Apartment Martins und beschließt, ihn erst zu verführen, bevor sie ihn mit einem Laserküchengerät umbringt…

Eine Kreditanfrage von Temponautics alarmiert Ted: Seine Frau will zu seinem Großvater ins Jahr 1947? Das kann nur eines bedeuten: Sie will ihn umbringen, damit sie Ted los wird. Ted zwingt Temponautics, ihn ihr nachreisen zu lassen, um einen Schadenerstazprozess zu vermeiden. Wird er rechtzeitig eintreffen, um sie von ihrer Missetat abzuhalten? Oder wird die Zeitpolizei sie zuerst verhaften?

Mein Eindruck

Diese sehr dichte Erzählung schildert die hier skizzierte Handlung nichtlinear und in zahlreichen Variationen. Denn wie schon aus „Terminator 2“ zu erfahren war, ist die Zukunft nicht festgelegt – die Vergangenheit aber auch nicht. Folglich ergeben sich aus den Interferenzen zwischen den verschiedenen Taten von Alice, Ted und Martin zahlreiche Möglichkeiten des Handlungsverlaufs. Der Autor spielt sie alle durch, wodurch er ein Höchstmaß an Spannung und Ironie erzeugt. Am ironischsten ist allerdings der Schluss: Ted reist mit Alice glücklich und zufireden nach Hawaii in die zweiten Flitterwochen. Wer’s glaubt, wird selig.

17) Philip José Farmer: Die Welt, die Dienstag war (1971)

Tom Pym ist amerikanischer Schauspieler, der in der Dayworld nur am Dienstag lebt. In der Dayworld werden die Menschen auf Tage verteilt, so dass sie erstens viel länger leben und zweitens das Problem der Überbevölkerung lösen. An den anderen tagen schläft Tom Pym in seinem „Sarg“, einem Knockout-Behälter, in dem er schläft und träumt. Als sein Haus abbrennt, muss er umziehen, in eine Dienstag-Haus, in dem 66 andere Knockout-Behälter stehen. In einem davon bemerkt er eine wunderschöne Schauspielerin namens Jennifer Marlowe und begehrt sie. Doch Jennifer lebt am Mittwoch, und den Tag zu wechseln ist ein Kapitalverbrechen. Dennoch versucht es Ton, hat Erfolg – und wird über’s Ohr gehauen.

Mein Eindruck

Der Autor hat diesen witzigen Einfall zu dem Roman „Dayworld“ ausgearbeitet, den ich leider nicht kenne, aber er könnte unter dem Titel „Der Dienstagsmensch“ bei der Sammlung Luchterhand veröffentlicht worden sein. Knaur, Goldmann, Heyne und Bastei-Lübbe haben den Roman nicht publiziert.

Wie so viele Romane jener Zeit der Paranoia unter US-Präsident Nixon geht es um die Unterdrückung und Reglementierung des Bürgers durch die Regierung. Nichts Näheres wird darüber in der Story erklärt – es ist einfach so. Die Götter dieser Welt sind erstens die Bürokraten (die natürlich mal wieder einen Fehler machen) und die Psychiater, die darüber befinden, ob Toms Wechselwunsch legitim oder sogar notwendig ist. Und von letzteren wird er übers Ohr gehauen. Am Schluss lebt Tom an gar keinem regulären Wochentag, was zwar eine interessante Lage ist, aber nicht weiter ausgebaut wird.

Um den Fortgang von Toms Schicksal zu erfahren, müsste man also doch „Dayworld“ lesen.

18) Klaus Möckel: Der Irrtum (1980)

Der optische Erfinder Götz Niklas hält im Jahr 1977 in der DDR Rückschau auf sein Leben rund 200 Jahre zuvor, als er in der Grafschaft Frankenfeld-Birnbach aufwuchs, in die Dienste des Grafen Ernst-August IV. trat und von da an so ausgenutzt wurde, dass er ins Exil nach Sachsen gehen musste. Er kehrte auf Bitten der gräfliche Mätresse zurück und prosperierte halbwegs als Spiegelmacher und Schleifer von Lorgnettelinsen. Doch stets arbeitete er an seiner ENTDECKUNG, die man heutezutage wohl eine Zeitmaschine nennen würde.

Die Prasserei und Verschwendungssucht des Grafen stand in krassem Gegensatz zur Entrechtung und Armut der Bauern und Tagelöhner. Das konnte ja nicht gutgehen, denkt sich Niklas. Bis dann der Bauernaufstand am 22.3.1790 im Gefolge der Französischen Revolution erfolgte. In jener Nacht flüchtete sich der Graf zu ihm, Niklas, und bat um heimliche Aufnahme. Was für ein Hohn, denkt sich Niklas, und bindet den Graf in der Zeitmaschine fest. Dann expediert er sich zusammen mit seinem Opfer in die Zukunft – den Grafen ins Jahr 1972, sich selbst fünf Jahre später.

Nachdem sich sein Staunen, Entsetzen und Unbehagen an den neuen Umständen gelegt hat, sucht er den Grafen – und findet ihn auf der Titelseite der Lokalzeitung: Ernst-August leitet den Volkseigenen Betrieb (VEB) Antiqui, der Sammlerstücke von Antiquitäten herstellt und in alle Welt exportiert. Er lässt sich anstellen und arbeitet wieder als Linsenschleifer, heimlich Machenschaften des einstigen Grafen beobachtend. Wie nicht anders zu erwarten, haben sich bereits die Speichellecker und Hofschranzen versammelt. Doch als E.-A. auch noch Niklas’ neue Freundin Regina schikaniert, entschließt sich Niklas zu einem radikalen Schritt – natürlich mithilfe der Zeitmaschine…

Mein Eindruck

Die lange Erzählung wird keineswegs in der von mir skizzierten Abfolge entwickelt, sondern stellt vielmehr zunächst die beiden Gesellschaftssysteme gegenüber: das alte feudalistische und das aktuelle sozialistische des „Arbeiter- und Bauernstaates“ DDR. Durch diesen Kniff fand der Text, der 1980 in der DDR veröffentlicht wurde, sicherlich Gnade vor den gestrengen Zensoren, denn das sozialistische Modell, vertreten durch den VEB Antiqui, und durch zwei Revolutionen, scheint ja zu obsiegen.

Dennoch gelingt dem Autor ein gewisser kritischer Ansatz gegenüber den realen Verhältnissen in der damaligen DDR. Denn immer wieder scheinen sich die Leiter der VEBs zu kleinen Fürsten aufgeschwungen und Misswirtschaft getrieben zu haben, so wie einst zu Zeiten der echten Fürsten. Diesmal kommt es aber durch das Verschwinden des Leiters zu einer inneren Reinigung des VEBs und somit zu einer Optimierung, die den hohen Herren in der SED-Zentrale sicherlich begrüßenswert und tolerabel erschienen.

Doch der Text an sich erfordert vom heutigen, an leichte und bekömmliche Lesekost gewöhnten Leser, sich durch lange Sätze zu arbeiten und durch lange Absätze, in denen Dialoge nur Ausnahmeerscheinungen sind. Zudem ist zu bedenken, dass hier jemand schreibt und formuliert, der aus dem 18. Jahrhundert stammt. Unter diesen Bedingungen erscheint der Text sogar als höchst lesbar, vergleichbar etwa Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ oder Schillers „Geisterseher“. Auf jeden Fall ist dieser Text schön und gehaltvoll, aber selten und in Westdeutschland wahrscheinlich nur in dieser Anthologie greifbar.

19) Herbert Rosendorfer: Briefe in die chinesische Vergangenheit (1983)

Der ehrenwerte Kao-tai, Mandarin der vierthöchsten Rangklasse, reist per Mathematiktrick aus dem 10. Jahrhundert in das München des 20. Jahrhunderts. In seinen Briefen, die auf Zeitreisepapier geschrieben werden, berichtet er seinen Freunden in der kaiserlichen Dichtergilde von seinen Beobachtungen im verwirrenden modernen Leben. Glücklicherweise helfen ihm drei moderne Münchner dabei, sich ein wenig zurechtzufinden, allen voran Frau Kei-kung, die sein Lager teilt.

Eines der erschreckendsten Erlebnisse ist Kao-tais Versuch, eine Straße in Min-chen zu überqueren. Er sieht den fauchenden Dämon kaum auftauchen, als er er Donnern und Tosen, ein Quietschen und Kreischen hört. Der Dämon, so groß wie zehn Wildschweine, versucht, einen Baum hinaufzuklettern, fällt aber wieder herab und zerschmettert. Kao-tei fällt vor Aufregung in Ohnmacht. Als er wieder erwacht, packen ihn zwei Schergen des lokalen Kaisers, angetan mit grünen Uniformen, und brüllen auf ihn ein. Sodann stecken sie in einen der stählernen A-tao-Wagen und transportieren ihn mit Höchstgeschwindigkeit – Kao-tai fällt erneut in Ohnmacht – in ein gebäude, das er leicht anhand seines ranzigen Geruchs als Gefängnis identifizieren kann. In Jahrtausenden hat sich an diesem Gestank nichts geändert.

Weitere Abenteuer betreffen die Bekanntschaft mit Essen & Trinken, das Skifahren, den Besuch des Oktoberfestes – gar gruselig – und schließlich mit Architektur und Industrie anhand des Olympiadorfes und einer Autofabrik. All diese Erlebnisse sind höchst erschütternd, fechten einen Mandarin der vierthöchsten Klasse nicht wirklich an. Abschließend räsonniert er mit seinem Freund Yü-len-tzu über den Zustand dieser Zivilisation und kommt zu dem Schluss, dass sie sich ihrer letzten Phase vor dem Untergang nähert.

Mein Eindruck

Der Auszug aus dem bekannten Roman „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ – der auch heute noch in ICE-Zügen gelesen wird, wie ich bezeugen kann – vermittelt nur die drastischen Eindrücke aus dem Alltag der Kultur in Min-chen und Ba Yan (Bayern). Wir erfahren nicht, auf welche Weise Kao-tai in unsere zeit gelangte, noch wie er seine deutschen Freunde kennenlernte. Das ist für die Aussagen auch nicht von Belang.

Schnell wird klar, mit welch wunderbarem Kniff der Autor die 1983 aktuellen Zustände in Bayern quasi-satirisch bloßzustellen vermag. Er lässt sie einfach mit anderen Augen betrachten und beschreiben. Aber nicht mit irgendwelchen Augen, sondern mit denen eines Angehörigen der um 1000 höchstentwickelten Kultur der Welt, eines Chinesen am Hofe des Kaisers! Folglich wird hier der höchste Standard der Zivilisation angelegt – kein Wunder, dass die moderne Zivilisation nicht besonders gut dabei wegkommt. Wir haben so viel vergessen, zum Beispiel das richtige Zubereiten und Trinken von Tee.

Natürlich darf auch hier der Humor nicht zu kurz kommen. So stellt Kao-tai einen wissenschaftlich unbegründeten Zusammenhang zwischen dem übermäßigen Genuss von „Rindsmilch“ und „Rindsfleisch“ mit der Mentalität der Einwohner von Min-chen her, die offenbar nicht allzu helle sind. Der Gipfel der Unzivilisiertheit ist allerdings das Oktoberfest, bei dem Unmengen von Ma-ßa und Hal-bal getrunken werden, die dann bei nächstbester Gelegenheit wieder entsorgt werden, am nächsten Baum etwa. In den Bierzelten erklingt ständig ein donnernder Trinkspruch namens „Wan tswa xu-fa“ („Oans, zwoa, gsuffa!“), über dessen Sinn Kao-tai noch lange rätselt…

Die Übersetzungen

Auf den Seiten 101, 171 und 274 musste ich ein paar Flüchtigskeitsfehler entdecken, aber ihre Zahl ist fast verschwindend gering und kaum der Rede wert. Zweifelsfälle und stilistische Ausrutscher fand ich jedoch überhaupt nicht vor, was für die hohe Qualität sowohl der Originaltexte als auch der Übersetzer spricht.

Unterm Strich

Vier Gruppen

Die Erzählungen der beiden Bände sind nicht thematisch geordnet oder sonstwie zugeordnet, außer nach einer willkürlichen Einteilung: „In der ersten Gruppe von Erzählungen ist der Zeitreisende ein staunender Erlebender, in der zweiten manipuliert er die Zeit, in der dritten ist er ihr Opfer. In der vierten Gruppe schließlich gewinnt die Zeit eine mythische, surreale, märchenhafte Dimensionen. Sie erweist sich als rätselhaftes, unnahbares Element, dem wir ausgeliefert sind…“, erklärt Jeschke in seinem Vorwort zu dem Doppelband.

Was nun die Gruppierung anlangt, so konnte ich zwar Vertreter aller dieser vier Gruppen vorfinden, jedoch keine seitenmäßig strenge Abfolge dieser Gruppen. Ich wüsste also nicht zu sagen, wo Gruppe 1 aufhört und Gruppe 2 beginnt, weil diese Grenze verwischt wurde und somit unkenntlich ist. Aber die Einteilung ist hilfreich, um die eine Erzählung von der nächsten zu unterscheiden.

So ist beispielsweise der Erzähler in Pestrinieros „Knoten“ deutlich ein Opfer der unbegreiflichen Zeit, wohingegen die Akteure in Silverbergs Novelle „Viele Häuser“ ganz klar das Heft in der Hand zu haben scheinen – doch die Folgen ihrer Taten stürzen sie um so tiefer in Verwirrung, was zu dem großen ironischen Vergnügen an der Lektüre beiträgt.

Die Auswahl von Band 2

Die Auswahl umfasst sowohl klassische Erzählungen wie Dicks „Ein kleines Trostpflaster für uns Temponauten“ aber auch so unbekannte, kaum wahrgenommene Geschichten wie Möckels „Der Irrtum“, der dem Text von Dick aber in keinster Weise stilistisch oder ideell nachsteht. Man kann also sagen, dass dies eine sehr demokratische Auswahl ist, die dem Leser kaum etwas an Lesenswerttem vorenthält, es sei denn es handelt sich um sehr neue oder um überlange Erzählungen. So hätte ich mich gefreut, wie mal die Novelle „Traubenlese“ von C.L. Moore und Henry Kuttner zu lesen. Sie ist in Moores Sammlung „Shambleau“ (siehe meinen Bericht dazu) nachzulesen.

Für jeden Freund qualitätsvoller und einfallsreicher Zeitreisegeschichten sind diese beiden Bänden einfach unverzichtbar. Es ist ein Jammer, dass ich sie erst jetzt entdecke, rund 25 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung. Aber es ist nie zu spät, und zum Glück ist das SF-Genre eines der Liebhaber und Sammler, die alles getreulich bewahren.

Fazit: volle Punktzahl.

Taschenbuch: 442 Seiten,.
aus dem Englischen und Italienischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 9783453310933

ISBN 3453310934