Eric Larson – Der Teufel von Chicago

Im Chicago der 1890er Jahre verwirklicht der Architekt Daniel H. Burnham eine Weltausstellung, deren Glanz und Größe jedes bekannte Maß sprengt. Gleichzeitig wird der ‚Arzt‘ H. H. Holmes als einer der ersten und schlimmsten Serienmörder aktiv … – Mit immensem Rechercheaufwand und in wunderbarer Sprache lässt Eric Larson das späte 19. Jahrhundert auferstehen. Sein Werk kann ohne Einschränkungen empfohlen werden; dies ist ein „Geschichtsbuch“, das auch den Laien nicht abschrecken, sondern fesseln wird!

Inhalt

Chicago im US-Staat Illinois hat sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts von einer Provinzstadt zur Handelsmetropole entwickelt. Nur New York zählt mehr Einwohner, und diese Stadt ist auch der große Rivale Chicagos. Als Bewohner einer „windigen Stadt“ müssen sich die stolzen Bürger verlachen lassen. Dem Ruf ist es zudem wenig hilfreich, dass in Chicago die größten Schlachthäuser des Kontinents rund um die Uhr arbeiten.

1890 soll ein Zeichen gesetzt werden. Im Vorjahr hat die Weltausstellung im europäischen Paris für weltweites Aufsehen gesorgt. Viele Länder haben ihre technischen Errungenschaften präsentiert. Die USA wurden kläglich von den Europäern deklassiert worden. Das wurmt die stolzen Amerikaner gewaltig. In Chicago treffen sich reiche und mächtige Männer und beschließen, im Sommer 1893 eine noch größere und prächtigere Ausstellung zu realisieren, die zeigen soll, wer auf dieser Welt zukünftig das Sagen haben wird!

Der renommierte Architekt Daniel Hudson Burnham ist der Wortführer dieser Gruppe. Überall ragen von ihm entworfene „Wolkenkratzer“ in die Höhe. Ohne Rücksicht auf Kosten und Mühen plant Burnham jetzt die „Weiße Stadt“, ein Utopia auf Zeit, das vom menschlichen Können künden und natürlich Chicagos Ruhm mehren soll. Die Umsetzung stellt die Stadt vor eine Zerreißprobe. Die Kosten sind gewaltig, die Zeit drängt, Misswirtschaft, Kompetenzrangeleien und wuchernde Ausschüsse behindern die Zeitdruck stehenden Vorbereitungen. Immerhin sind Arbeitskräfte billig in einer Welt ohne Arbeitsschutz. Rund um die Uhr wird auf einer der größten Baustellen aller Zeiten geschuftet. Unfälle sind an der Tagesordnung, der Blutzoll ist gewaltig. Doch danach fragt niemand – neue, unverbrauchte Menschen ziehen jährlich zu Tausenden nach Chicago.

Das Durcheinander gewährleistet auch einem anderen Mann die Realisierung seines Traums. Der junge Arzt und Drogist Herman Webster Mudgett sucht das Gewimmel der großen Stadt, um ungestört seinem Wahn frönen zu können: Er verführt, ermordet und zerlegt junge Frauen. Chicago bietet ihm ungeahnte Möglichkeiten. Unter dem Decknamen Henry Howard Holmes baut Mudgett ein Haus, das er zu einer Festung und Frauenfalle ausbaut. Das Zentrum seiner Burg bildet eine große, sorgfältig eingerichtete, schalldichte Tötungskammer samt Krematorium. Hier lässt Holmes seine inneren Dämonen von der Kette und ergötzt sich am Todeskampf seiner Opfer. Mehrere Jahre währt sein Terror, denn Chicago ist groß, die Polizei korrupt und unfähig. Holmes gilt zudem als Gentleman, die verschwundenen Frauen gehören zu gesellschaftlichen Schichten, deren Schicksal niemanden interessiert. So wird Holmes immer dreister, und seine Mordlust steigert sich …

Seiner Zeit mörderisch weit voraus

Eine fantastisch anmutende Horrorgeschichte, die tatsächlich genauso geschah: Die große Weltausstellung, die nur Gutes über ihre vielen Millionen Besucher bringen soll, perfektioniert die Tarnung eines Mannes, der Jack the Ripper sowie die meisten Serienmörder, die nach ihm kamen, zu Waisenknaben degradiert. H. H. Holmes ist der womöglich erfolgreichste und grausamste Mörder der Neuzeit. Der disziplinierte, hochintelligente Psychopath tötet nicht für eine Idee oder ein Programm, sondern ausschließlich zum eigenen Vergnügen und für Geld.

Sein ‚Erfolg‘ basiert vor allem auf der Tatsache, dass die Welt auf jemanden wie ihn nicht vorbereitet ist. Serienmörder gab es zwar schon vor 1890. Sie blieben jedoch Ausnahmeerscheinungen. (Soweit man dies sagen kann – wer weiß schon, wie viele dieser Killer nie erwischt, ihre Untaten nicht aufgezeichnet wurden.) Jack the Ripper scheint 1888 in London ein erster Vorbote dieser seltsamen Spezies gewesen zu sein. Aber vor allem die Vereinigten Staaten erwiesen sich in den folgenden Jahrzehnten als wahre Wiege für Serienmörder.

Autor Erik Larson verknüpft diese Beobachtung mit einer schon älteren These: Serienmörder à la Holmes waren demnach quasi ein Produkt der industrialisierten, großstädtischen, anonymen Gesellschaft, die um 1900 und vor allem in den USA ihren Aufschwung nahm. Holmes wies selbst in seinen Memoiren auf die Möglichkeiten hin, die ihm Chicago bot: Ein Wolf in einer riesigen Herde kann viele Opfer reißen, bis man ihn bemerkt. Dies gilt umso mehr, wenn besagte Herde in Aufruhr ist. Chicago 1893 beschreibt Larson als Hexenkessel. Die Stadt wächst praktisch ohne kommunale Aufsicht. Niemand weiß, wie viele Menschen hier leben. Es ist kein Problem, unter falschem Namen ein neues Leben zu beginnen. In einer Welt ohne umfassende Fernkommunikation oder überregional aktive Gesetzeshüter kann ein Krimineller wie Holmes sich in Chicago sicher fühlen.

Kehrseiten des Fortschritts

Zwar wurde H. H. Holmes schon früher als True-Crime-‚Held‘ von mehreren Autoren verewigt. Erik Larson schwebte allerdings ein ehrgeizigeres Projekt vor. Er wollte keine der üblichen, auf Tat und Aufklärung beschränkten „wahren“ Kriminalgeschichten erzählen. Andere Fragen beschäftigten ihn. Wie war es beispielsweise möglich, dass ein Serienmörder dieses Kalibers so lange sein Unwesen in einer dicht bevölkerten Stadt treiben konnte?

Holmes muss Chicago in einem besonderen, ihn begünstigenden Augenblick betreten haben, so Larsons Schlussfolgerung. Er weitet sein Untersuchungsgebiet auf die ganze Stadt aus. Dabei stößt er das Tor zu einer fremden Welt auf. Mit Larson betreten wir eine Großstadt, die ohne Strom, fließendes Wasser, Telefon oder andere moderne Selbstverständlichkeiten funktioniert. Die Straßen sind ebenso überlastet wie heute, doch es sind Kutschen, Droschken und andere Gefährte, die von Pferden gezogen über das Pflaster holpern. Geheizt wird mit Kohle, die Straßen werden mit Gas beleuchtet. Eine dichte Schwefelwolke liegt ständig über der Stadt.

Dieses alltägliche Tohuwabohu wird ab 1890 noch turbulenter. Die Ausstellung soll nach dem Willen ihres Vaters Daniel H. Burnham die Welt nach Chicago holen. Dem Historiker Larson bietet dies eine einmalige Chance: Sein Untersuchungsgebiet wird zu einem dreidimensionalen Schnappschuss der Welt am Ende des 19. Jahrhunderts. Leben und Wirken der Beteiligten sind – der Bedeutung des Ereignisses angemessen – gut dokumentiert. Larson steht vor gefüllten Archiven. Er beweist eindrucksvoll, was man aus solchem Material machen kann.

Der Klang des Wissens

Damit nicht genug: Larson hat schriftstellerisches Format. Das verrät nicht nur die (sorgfältig übersetzte) Prosa, die durchaus literarische Qualitäten erreicht. Durch die Geschichte Chicagos und seiner Weltausstellung führen zwei Figuren. Burnham und Holmes verkörpern die gute und die böse Seite ihrer Ära. Sie leben und ‚arbeiten‘ beide in Chicago, einer Stadt, die diese Dualität geradezu filmreif unterfüttert, gilt sie doch nicht nur als moderne Metropole, sondern auch als Schlachthaus Nordamerikas: In den größten Schlachthöfen der Welt verschwindet Vieh zu Millionen. Die böse Parallele zu Holmes‘ Untaten blieb bereits den Zeitgenossen nicht verborgen.

„Der Teufel von Chicago“ ist über die gesamte Distanz ein vorbildliches Sachbuch, das der Leser ungern aus der Hand legt. Wer nunmehr ein ausgezeichnet recherchiertes, brillant geschriebenes aber letztlich trockenes Epos fürchtet, sei beruhigt: Larson lässt bei allem Wortreichtum stets die Fakten für sich sprechen, mit denen er nie hinter dem Berg hält. Seine Schilderungen dessen, was in Holmes‘ Horrorhaus vor sich geht, sind nach gegenwärtigen Maßstäben überaus dezent, fordern seinem Publikum aber trotzdem starke Nerven ab. Abbildungen spart Larson aus; wir sind ihm dankbar dafür.

Was übrigens nicht heißt, dass „Der Teufel von Chicago“ ohne Bilder daherkommt. Anlässlich der Weltausstellung schwelgten die zeitgenössischen Fotografen in Motiven. Sie hielten denkwürdige Szenen einer versunkenen Epoche fest, die das im Text Gesagte wirkungsvoll unterstreichen und abrunden.

Autor

Erik Larson (geb. 1954) wuchs in Freeport, Long Island, auf. Er absolvierte die University of Pennsylvania, die er mit einem Abschluss in Russischer Geschichte verließ. Klugerweise ergänzte er dies mit einem Studium an der Columbia Graduate School of Journalism. Im Anschluss arbeitete er viele Jahre für diverse Zeitungen und Magazine.

Inzwischen hat Larson diverse Sachbücher veröffentlicht, von denen „Isaac’s Storm“ (1999, dt. „Isaacs Sturm“) ihm den Durchbruch und Bestseller-Ruhm brachte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Seattle.

Taschenbuch: 447 Seiten
Originaltitel: The Devil in the White City: Murder, Magic, and Madness at the Fair That Changed America (New York : Crown Publishers 2003)
Übersetzung: Bernhard Robben
http://www.fischerverlage.de

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