Thompson, Carlene – Frag nicht nach ihr

Eines Nachts verschwindet die neunzehnjährige Dara Prince aus ihrem Elternhaus. Alle paar Monate erhält ihr Vater Ames eine Postkarte mit spärlichen Informationen und klammert sich an die Hoffnung, dass seine Tochter noch lebt.

Drei Jahre später spült der Fluss nach Überschwemmungen eine in einen Plastiksack gehüllte Frauenleiche ans Land. Alles deutet darauf hin, dass es sich um Dara handelt und dass sie bereits in der Nacht ihres Verschwindens ermordet wurde. Der junge Deputy Michael Winter stößt bei seinen Ermittlungen in ein Wespennest:

Zur Familie gehören auch die Geschwister Christine und Jeremy, die nach dem Tod ihrer Eltern von Ames Prince als Mündel aufgenommen wurden. Der gut aussehende Jeremy ist zwar bereits einundzwanzig Jahre alt, steht geistig jedoch auf dem Stand eines zwölfjährigen Kindes. Während er Dara vergötterte, kam die vernünftige Christine nur schwer mit ihr aus. Auch Daras Stiefmutter Patricia, die Ames nach dem Tod seiner ersten Frau Eve heiratete, stand mit Dara auf Kriegsfuß. Ganz zu schweigen von all den Dorfbewohnern, die Dara hinter ihrem Rücken als Flittchen bezeichneten.

Im Gegensatz zu Ames war Christine schon lange von Daras Tod überzeugt. Als sie durch Zufall ihr Tagebuch findet, stellt sich heraus, dass sich Dara offenbar mehrere Liebhaber gleichzeitig hielt. War einer von ihnen der Täter? Gemeinsam mit Deputy Winter versucht Christine herauszufinden, welche Männer aus Daras Umfeld sich hinter den Codenamen ihrer Liebhaber verbergen könnten:

Da ist zum Beispiel der Außenseiter Streak, der seit seinem Vietnam-Trauma zurückgezogen lebt und Dara manchmal auf seinen nächtlichen Joggingtouren begegnete. Da ist Christines Ex-Verlobter Sloane, mit dem Dara kurz vor ihrem Tod heftig flirtete. Und da ist Daras Exfreund Rey, der immer noch an ihr zu hängen scheint. Aber es gibt auch eifersüchtige Frauen, die ein Motiv gehabt hätten, Dara aus dem Weg zu räumen. Als der Sheriff schließlich Jeremy verdächtigt, stellt Christine eigene Nachforschungen an, um ihren Bruder zu entlasten. Dabei bringt sie sich selber in höchste Gefahr …

Es sind bewährte Zutaten, auf die Carlene Thompson in ihrem Thriller zurückgreift: Eine verschwundene Frau, eine Leiche, eine Schar Verdächtiger im engsten Umfeld, Ermittlungen eines Außenstehenden, der sein Leben damit in Gefahr bringt. Der Plot ist weder neu noch sonderlich spektakulär, doch die Präsentation dieser Elemente ergibt einen spannenden Thriller, der ordentliche Unterhaltung von der ersten bis zur letzten Seite bietet.

|Auftakt nach Maß|

Bereits der Prolog zieht den Leser durch seine geschickte Aufbereitung in den Bann. Er erzählt von Daras Begegnung mit ihrem Mörder, ohne einen Hinweis darauf zu geben, um wen es sich dabei handeln könnte. Offensichtlich ist lediglich, dass es eine vertraute Person aus ihrem Umfeld ist – und damit fällt der Startschuss zum munteren Spekulieren, denn eine ganze Reihe von Leuten besitzt ein Motiv.

|Anschauliche Charaktere|

Im Zentrum des Geschehens steht eindeutig Christine, die von Beginn an als Sympathie- und Identifikationsfigur fungiert. Der frühe Tod ihrer Eltern und die Verantwortung für ihren leicht zurückgebliebenen Bruder Jeremy lassen sie zunächst als gefestigten und vertrauenswürdigen Charakter erscheinen. Im Laufe der Ereignisse offenbart sich nach und nach auch ihre sensible Seite. Christine ist ehrlich genug, sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen, dass sie Dara nicht leiden mochte. Angesichts ihres schrecklichen Todes ist sie jedoch zu fast allem bereit, um den Mörder ihrer Stiefschwester zu entlarven und gleichzeitig ihren Bruder zu entlasten.

Wenn Christine schon eine Sympathiefigur ist, wird man Jeremy sofort ins Herz schließen. Der junge Mann mit dem kindlichen Gemüt und der typischen Begeisterungsfähigkeit eines Halbwüchsigen versteht es, nicht nur sein Umfeld, sondern auch den Leser mit seiner erfrischend offenen Art für sich einzunehmen. Immer wieder lockert er angespannte Situationen durch seine kindlichen Bemerkungen auf, bringt seine Schwester aber durch seine Offenherzigkeit auch ein ums andere Mal in Verlegenheit.

|Die üblichen Verdächtigen|

An Verdächtigen mangelt es in diesem Roman wahrlich nicht. Die leichtlebige Dara vergnügte sich gerne mit mehreren Männern gleichzeitig und für den Leser wie auch für für Christine und Michael Winter beginnt ein Rätselraten, wer sich hinter den mysteriösen Pseudonymen aus dem Tagebuch verbergen könnte. Alte Bekannte aus Christines Umfeld werden plötzlich zu Mordverdächtigen, fast jeder scheint ein Geheimnis zu verbergen. Außer Christine und dem ermittelnden Deputy steht so gut wie jede Figur zu einem Zeitpunkt der Handlung unter Verdacht. Sie alle besitzen ihre dunklen Seiten, doch einen Mord traut man wiederum keinem von ihm zu. Die Autorin versteht es, ein verzwicktes Geflecht aus Beziehungsdramen und Eifersüchteleien zu entwerfen, das sich unter einer glatten Oberfläche zu einem brodelnden Vulkan entwickelt.

|Vorhersehbare Lovestory|

Leichte Abzüge gibt es für die scheinbar unvermeidliche und von Beginn an sehr offensichtliche Lovestory, die sich zwischen Christine und dem Polizisten Michael entwickelt. Wie in so vielen Thrillern, ergibt sich auch hier wieder einmal die Kombination aus einer mutigen Frau, die auf eigene Faust Nachforschungen betreibt, und dem Ermittler mit dem Beschützerinstinkt. Dabei stört nicht die Tatsache an sich, dass es tatsächlich so kommt, sondern die sehr vorhersehbare Aufbereitung – denn bereits bei der ersten Begegnung der beiden ahnt der Leser, dass sich hier eine Liebesgeschichte anbahnen wird.

Ein bisschen mehr Innovation hätte auch dem Schluss nicht geschadet, der allzu konventionell daherkommt. An dieser Stelle wird das alte Klischee vom kaltblütigen Killer, der seinem letzten Opfer seine Motive und Vorgehensweisen in aller Ausführlichkeit erläutert, leider bis zum Letzten ausgereizt und überstrapaziert. Der Showdown ist angenehm realistisch gehalten und verzichtet auf den Versuch, sich unnötig spektakulär zu präsentieren. Dafür fällt das Ende insgesamt sehr knapp aus und kommt für meinen Geschmack etwas zu abrupt.

Davon abgesehen, versteht es der Roman, den Leser zu packen und ihm ein paar Tage fesselndes Vergnügen zu bereiten. Die flüssige Sprache stellt keine hohen Anforderungen, sondern macht das Buch zu einem idealen Schmöker für lange Ferientage am Strand oder auf dem Balkon. Es mangelt weder an falschen Fährten noch an weiteren Morden. Für Schockmomente ist ebenso gesorgt wie für einige rührende und gefühlvolle Augenblicke sowie auch – vor allem Dank Jeremy – amüsante Stellen, die die Spannung auflockern und dem Leser ein Grinsen bescheren.

_Unterm Strich_ ergibt sich ein konventioneller, aber durchgehend spannender Thriller mit einer sympathischen Protagonistin, die ins Visier eines kaltblütigen Mörders gerät. Wechselnde Hauptverdächtige, eiskalte Morde und falsche Fährten rufen ein Wechselbad der Gefühle hervor. Kein unbedingt atemberaubender, aber sehr solider Roman für alle Krimifreunde.

_Carlene Thompson_ wurde 1952 in West Virginia geboren. Sie arbeitete zunächst als Dozentin für englische Literatur an der Universität in Ohio. 1990 erschien ihr erster Roman „Schwarz zur Erinnerung“. Weitere Werke von ihr sind unter anderem: „Kalt ist die Nacht“, „Sieh mich nicht an“, „Im Falle meines Todes“ und „Glaub nicht, es sei vorbei“.

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