Wolfgang Jeschke & Karl Michael Armer (Hrsg.) – Die Fußangeln der Zeit. Die schönsten Zeitreise-Geschichten 01

Mittelmäßige Auswahl: etwas Licht, aber viel Schatten

Die beiden bekannten Herausgeber Jeschke und Armer haben zwei Bände der schönsten Zeitreisegeschichten extra für die Heyne SF Bibliothek zusammengetragen. Es ist ein genre von außerordentlich hohem Qualitätsniveau, und so fiel es ihnen nicht schwer, fündig zu werden. Die Auswahl erfolgte unabhängig vom Bekanntheitsgrad des Autors und unabhängig davon, ob die Geschichten bereits einmal in Deutschland veröffentlicht worden waren. Einzige Limits waren eine Seitenbegrenzung auf 70 Seiten und dass die Story nicht kurz zuvor irgendwo publiziert worden war.

Ausdrücklich sei an dieser Stelle auf das einleitende Vorwort Wolfgang Jeschkes und eindringlich auf das Nachwort Armers hingewiesen, die beide nur hier in Band 28 „Die Fußangeln der Zeit“ zu finden sind, nicht aber in Band 2, „Zielzeit“. Besonders Armer zeigt beachtliche Aspekte des Subgenres Zeitreisegeschichte auf, die im Grunde jeder beliebige Leser nachvollziehen kann: Befinden wir uns schließlich nicht alle auf der Zeitreise des Lebens?

Dieser erste Auswahlband mit Zeitreisegeschichten ist Band 28 der Heyne Science Fiction Bibliothek.

Die Herausgeber

1.) Karl Michael Armer

Karl Michael Armer, geboren 1950, ist in der Werbung tätig und veröffentlichte ab 1977 SF-Stories sozialkritischen Inhalts. Dazu gehören „Mit beiden Beinen fest auf der Erde“ (1977), „Es ist kein Erdbeben, Ihnen zittern nur die Knie“ (1981), „Die Eingeborenen des Betondschungels“ (1984) und „Die Endlösung der Arbeitslosenfrage“ (1987). Weitere Stories wie „Durch das Weltall, schubiduwah“ erschienen auch in USA oder wurden wie „Umkreisungen“ mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

2.) Wolfgang Jeschke

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Anthony Burgess: Die Muse (1971)

Wer schrieb William Shakespeares berühmte Schauspiele wirklich? Um diese Frage ein für alle Mal zu klären, begibt sich der Zeitreisende Paley, selbst ein Theatermann, per Zeitraumschiff zur Welt B-303, wo sich die Erde des Jahres 1595 befindet. Kapitän Swenson setzt sein Ein-Mann-Raumboot bei London ab und will ihn in einem Jahr wieder abholen. Doch das Theater „The Globe“ ist morgens um 4 natürlich leer. Deshalb kommt der Nachtwächter gerade recht, um Paley den Weg zu weisen. Er gibt sich als Kaufmann aus Norwich aus, spart auch nicht mit Gold. Sogleich beeilt sich der gute Mann, ihm den Weg nach Bishopsgate zu weisen: in ein Hurenhaus.

Hier erweist sich, dass die Anatomie der hiesigen Zweibeiner in einigen nicht unbedeutenden Punkten von Paleys eigener abweicht. Die Lady hat Augen statt Brustwarzen. Doch Paley wird wenigstens der Weg zu jenem Mann gewiesen, der als Maister Shairkspeyr bekannt ist. Dort erwartet ihn eine weitaus unangenehmere Überraschung: Er wird bereits erwartet – und ebenso willkommen sind die fünf Schriftstücke mit Schauspielen, die Shakespeare erst nach 1595 geschrieben haben soll. Musen sollte man nicht abweisen, lästige Besucher wie diesen Paley allerdings schon…

Mein Eindruck

Die Story ist sehr ironisch und hat einen bitterbösen Schluss. Aber was Burgess wirklich leistet, besteht darin aufzuzeigen, wie relativ doch die Erden sind, die man als Zeitreisender besuchen könnte. Auf einer anderen Erde (G-9) des 14. Jahrhunderts herrschen Ektoplasma-Ungeheuer über die Bauern; auf Paleys B-303 sind es ebenfalls Gestaltwandler. Was aber absolut den historischen Tatsachen entsprechen dürfte, sind die bestialischen Gerüche der Abwasserkanäle von London sowie die Allgegenwart von Pest verbreitenden Ratten.

2) David J. Masson: Reis durch zween Zeiten (The two-timer, 1965)

Der Erzähler ist ein alleinstehender Bürger aus dem England des Jahres 1683. Eines Nachmittags beobachtet er in seinem Städtchen, wie eine seltsam aussehende Sänfte aus dem Nichts erscheint und ihr Insasse sich verstohlen davonmacht, zweifellos ein Zauberer. Neugierig setzt sich unser Chronist in das seltsame Gefährt, um es genau zu beäugen. In der Tat ist es nicht schwer zu verstehen, was da auf der Konsole steht: Arabische Ziffern weisen Weg ins Jahr 1964. Er braucht nur den roten Stumpen zu betätigen, und schon landet er im April jenes Jahres.

Nach Überwindung seiner Verwirrung und etlicher Widrigkeiten gerät unser Zeitreisender an einen Menschenfreund, der ihn zu sich einlädt. Es scheint sich um einen Antiquitätenhändler zu handeln, und der ist immer an alten kostbaren Dingen interessiert. Auch das Eheweib dieses Mannes ist sehr freundlich, und so findet sich unser Freund schon bald mit den Dingen und Umständen der fremden Zeit zurecht. Weil er von zu Hause ein paar Bücher und Silberwaren mitbringt, kann er sie bei einem anderen Antiquitätenhändler gewinnbringend verkaufen. Den Gewinn legt sein Gastgeber auf einem Bankkonto an, auf das unser Freund per Scheck zurückgreifen kann.

Im folgenden fasst der Zeitreisende seine Eindrücke zusammen. Das Ende seines Aufenthalts im Jahr 1964 kommt jedoch, als er sich auf eine Affäre mit seiner hübschen Gastgeberin einlässt und ihn deren Gatte in flagranti delicto erwischt. Die Flucht mittels Zeitmaschine ist schnell bewerkstelligt. Zum Glück hat zu Hause niemand was von seinem monatelangen Ausflug in fremde Zeitgefilde etwas gemerkt. Nur die Zeitmaschine ist auf einmal weg…

Mein Eindruck

Diese rund 40 Seiten lange Erzählung ist in einem alten Deutsch aus dem 17. Jahrhundert verfasst und auch entsprechend übersetzt. Das erscheint konsequent, denn unser Zeitreisender stammt ja aus dieser Zeit – iwe sollte er anders schreiben? Allein dies bringt den Leser in Verlkegenheit, wenn er nicht mit der Geschichte der deutschen Sprache vertraut ist. „Maßen“ beispielsweise bedeutet „weil“. Aber vieles ergibt sich aus dem Kontext.

Sinn und Zweck der Chronik dieser Reise ist zweifelsohne die Zusammenfassung über die vorgefundenen Zustände des Jahres 1964. Nur deshalb interessiert die Geschichte den zeitgenössischen Leser des Autors. Und das Urteil fällt natürlich vernichtend aus. Aber es gibt auch angenehme Errungenschaften der Neuzeit, so etwa guten Wein, schnelle Gefährte – und „wollustige unvermählte Weiber“.

3) Robert Sheckley: Trübe Aussichten (Sneak Previews, 1978)

Peter Honorius bekommt im Jahr 2038 einen blauen Brief vom Meldeamt: Er ist ist verpflichtet, schleunigst zu heiraten, will er nicht in eine Strafkolonie auf dem Mond versetzt werden. Mist! Schluss mit dem freien Junggesellendasein! Er fragt seinen verheirateten Freund, wie er auf die Schnelle die Richtige finden soll, und der gibt ihm einen Tip. Er geht zu Mr Fuler, dem Leiter des Clandstine Computer Service. Mr Fuler stellt einen Zugang zum leistungsstärksten Simulationscomputer der Regierung zur Verfügung – unter der Hand, versteht sich. Honorius lässt sich einstellen.

Wenige Tage später erhält er 14 Datenprofile von heiratspflichtigen Frauen und kann sie nun in das Terminal des Sim-Computers einspeisen. Mit Hilfe einer Apparatur kann er die Simulationen wie einen Film erleben: jeweils fünf Jahre des Ehelebens mit den Kandidatinnen. Oje, jede Ehe endet schlimmer als die andere! Schließlich ist er schon bei Nr. 11 angelangt, als er auf eine Goldmine trifft: die Richtige. Doch er hat nur ihre Codenummer, wie lautet ihr richtiger Name? Grebs, findet Fuler heraus.

Grebs? Das Empfangsdame an Fulers Rezeption fühlt sich angesprochen. Fuler und Honorius sind erstaunt. Hat sie etwa die Datenkarten manipuliert? O ja, und noch viel mehr!

Mein Eindruck

Robert Sheckley war schon immer ein Spaßvogel, und in der Regel schrieb er Satiren und Parodien. Diese Story bildet dabei keine Ausnahme. Der Leser darf einen Blick in einer schauderhafte Zukunft werfen: Heiratszwang für alle und die Ehe-Simulation von Kandidatinnen – das verursacht uns ein Schaudern. Aber wer weiß, ob es in 20 oder 40 Jahren nicht schon soweit ist? Die Datenmanipulation war offenbar schon 1978, also vor über 30 Jahren, an der Tagesordnung. Humorvoll warnt der Autor vor einigen Fehlentwicklungen.

4) Richard D. Nolane: Die Zeit der Überraschungen (Le temps des surprises, 1981)

London im Jahr 1876. Ein Reporter vom Piccadilly Clarion besucht William Clayne, der von sich behauptet, er habe eine Zeitmaschine erfunden und wolle die Menschen vor deren Folgen warnen. Die Beispiele, die Clayne zu seiner Beglaubigung anführt, verhärten im Reporter zunehmend den Verdacht, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Clayne schickte Leute erst in die Vergangenheit, dann aber auch einen Freund in Zukunft, ins Wien des Jahres 1960. Da er stets ein Foto von der jeweiligen Ankunft machte und zurückbekam, erhielt er zuletzt ein verwirrendes Bild aus dem Jahr 1960 – das eines Schweins. Der Freund hieß übrigens Sigmund Freud…

Mein Eindruck

Es war ja unausweichlich, dass neben all den Größen wie Charlemagne, Mohammed usw. auch Sigmund Freud in dieser Auswahl vorkommt. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, diese schwache Story auszuwählen. Genau wie der Reporter glauben auch wir Mr. Clayne kein einziges Wort.

5) Alfred Bester: Die Mörder Mohammeds (1967)

Henry Hassel, Professor am Psychotic Center der Unknown University irgendwo im Mittelwesten, ist eifersüchtig: Er hat seine Frau Greta in den Armen eines Fremden entdeckt. Doch statt sie beide über den Haufen zu schießen, fällt ihm als verrücktes Genie etwas viel besseres ein: eine Reise in die Zeit, um Gretas Vorfahrinnen zu töten. Die Zeitmaschine ist rasch erfunden und Großvater sowie Großmutter getötet. Der Effekt? Gleich null. Greta und der Fremde liegen sich weiterhin in den Armen.

Nach einem Anruf bei der Künstlichen Intelligenz Sam ändert Henry seine Methode: Er setzt auf Masseneffekte. Daher erschießt er als nächsten George Washingtomn im Jahr 1775. Die Wirkung? Absolut null. Ebenso auch bei Napoleon, Mohammed, Caesar und Christoph Kolumbus. Woran kann es nur liegen, fragt er sich frustriert.

Ein Anruf bei der Bibliotheks-KI bringt ihn auf die Spur eines weiteren Zeitreise-Genies: Israel Lennox, Astrophysiker, der 1975 verschwand. Zudem erfährt er, dass auch der Liebhaber seiner Frau ein Zeitspezialist ist, William Murphy. Könnte er ihn ausgetrickst haben? Lennox belehrt Henry eines Besseren: Henry Problem liegt nicht an seiner Methode, sondern an der Natur der Zeit: Sie ist stets individuell. Eine Veränderung betrifft stets nur den Zeitreisenden selbst, nicht aber die anderen Zielpersonen. Und weil jeder „Mord“ den Zeitreisenden weiter von seinen Mitmenschen entfernt, ist Henry Hassel jetzt ebenso wie Israel Lennox ein Geist…

Mein Eindruck

Die Story ist zwar völlig verrückt, aber eminent lesbar, wie so häufig bei Alfred Bester. Neu ist hier das Konzept, dass Zeit völlig individuell sein soll. Jedem Menschen ist wie einer Spaghettinudel im Kochtop seine eigene Zeit zugewiesen (von wem, fragt man sich). Das macht die Einwirkung auf andere Zeit-Besitzer, quasi also auf andere Nudeln im Topf, unmöglich. Noch irrsinniger ist die Vorstellung, dass all die Versuche, auf andere einzuwirken, zum Verschwinden des „Mörders“ führen könnten. Aufgrund welcher Gestzmäßigkeit? Hat es etwas mit Entropie zu tun? Der Autor erklärt mal wieder nichts, obwohl er mit Formeln um sich wirft, was den Spaß nur halb so groß werden lässt.

6) R. A. Lafferty: So frustrieren wir Karl den Großen (1967)

An einem geheimnisvollen Institut verfügt ein Rat von neuen Personen über eine außerordentliche Zeitmaschine. Epiktistes, die drachenköpfige Künstliche Intelligenz, vermag Avatare zu erschaffen und in der Zeit zurückzuschicken. Auf diese Weise kann das Institut Fehlentwicklungen der Geschichte korrigieren. Insbesondere um beispielsweise das jämmerliche kulturelle Niveau der eigenen Stadt ein wenig zu heben.

Das erste Zeitziel ist ein entscheidender Vorfall, der im Jahr 778 im Tal von Roncesvalles zutrug. Karl der Große, so die Chronik des Geschichtsschreibers Hilarius, hatte einen Deal mit dem Kalifen von Saragossa abgeschlossen: Christen sollten am Rand der Pyrenäen in Ruhe siedeln und 33 Gelehrte sollten ins Frankenreich reisen dürfen. Leider wurde der Trek von Basken überfallen, woraufhin der erboste Charlemagne den Pass ebenso schloss wie jeden Zugang zum Araberreich. Das führte zu einer Verarmung des Frankenreiches für 400 Jahre.

Die Geschichtskorrektur wird ein voller Erfolg, die eigene Stadt blüht, die Institutsmitglieder sind jetzt 13 und die KIs haben sich um zwei vermehrt. Leider können die Mitglieder des Rates keinerlei Veränderung feststellen. Kein Wunder: Sie haben keine Erinnerung daran, dass jemals anders war als im Jetztzustand.

Und so machen sie ein verhängnisvolles zweites Experiment. Wilhelm von Ockhams ketzterische Thesen des Nihilismus sollen nicht vom Papst verdammt, sondern vielmehr anerkannt werden. Dazu muss lediglich Ockhams Widersacher, ein Oxfordprofessor, sterben, bevor er im 14. Jahrhundert den Papst in Avignon erreicht. Als Ergebnis dieser Korrektur sitzen anschließend vier Ratsmitglieder splitternackt in einer bemalten Höhle vor einem Götzenbild, das Epiktistes darstellen soll…

Mein Eindruck

Ein klassischer Fall von Übereifer, könnte man zunächst meinen. Aber die Aussage geht tiefer: Jede korrigierte Geschichtsversion ist von der vorhergehenden nicht zu unterscheiden, weil sie diese vollständig ersetzt – und somit auch die Erinnerung an jegliche vorher existierende Version: Es ist schon immer so gewesen. Die Ratsmitglieder wirken in ihrer Frustration darüber, dass sich nichts geändert hat, zugleich lächerlich wie bemitleidenswert. Dumm nur, dass sie all ihre Zeitgenossen mit ins Unglück reißen.

Die Story ist ein gutes Beispiel für die ironische Behandlung der altbekannten Zeitparadoxa. Sie besagt: Es nützt gar nichts, die Geschichte korrigieren zu wollen, denn es ist von vornherein ausgeschlosssen, dass irgendjemand den Unterschied zu früher bemerkt!

7) Marion Gross: Die tüchtige Hausfrau (The good provider, 1952)

Minnie Leggety kehrt vom Einkaufen nach Hause zurück. Die Lebensmittelration hat mal wieder nur wenig eingebracht. Da begrüßt ihr Vater Omar sie ganz betrübt: Er hat im Keller eine seiner Maschinen gebastelt – sie funktioniere nicht richtig. Wenigstens hat der alte Mann etwas, womit er sich beschäftigen kann statt den Löffel abzugeben wie Mr. Mason, tröstet sich Minnie. Sie lässt sich seine neue Maschine zeigen.

Das Monstrum soll eigentlich in der Lage sein, in an jeden beliebigen ort und in jede beliebige Zeit zu versetzen, doch das tut es nicht, o nein, mein Herr. Es versetzt ihn immer nur auf die andere Straßenseite vor Purdeys Metzgerladen – aber 20 Jahre in der Vergangenheit! Wozu soll das denn gut sein, Menschenskind?

Minnie schaut ihren Vater mitleidig an. Männer! Wenig später schaut sie bei Purdeys vorbei und kauft eine Riesenladung Fleisch – für poplige zwei Dollar…

Mein Eindruck

Endlich mal eine praktische und vernünftige Anwendung der Zeitmaschine! Dabei wird auch ein ernster Hintergrund sichtbar: Das Fleisch ist in der Vergangenheit nur deshalb so preisgünstig, weil damals, vor 20 Jahren, die große Depression herrschte und viele Menschen arbeitslos waren. Minnie nutzt also ein immenses Preisgefälle aus – kluges Mädchen.

8) Alfred Bester: Die Achterbahn (Roller Coaster, 1953)

Die Zeitreisenden sind Besucher in unserer Zeit, um den Kick zu suchen. Der Ich-Erzähler David ist frustriert: Das Mädchen, das er geschnitten hat, schreit nicht, sondern stammelt immer nur stumpfsinnig den gleichen Satz: „Bitte, David.“ Langweilig! Er ruft seine Kollegin Freyda an, die ihm einen Tipp gibt: Liz, die betrogene Frau des Diebes Eddie Bacon – höchstes emotionales Potential. Adresse leider unbekannt.

Also muss er erst einmal Bacon finden. In einer Bar ertränkt Eddie seinen Frust über Liz in Alkohol, dann erzählt er David von der Sache mit Freyda, seiner verschwundenen Geliebten, wegen der Liz ausgezogen ist. Freyda gabelte Eddie an der Achterbahn auf dem Rummelplatz von Coney Island auf. Sie waren sich schnell einig und gingen in seine Wohnung im zehnten Stock. Alles schien klar zu sein, bis er sie ertappte, wie sie Liz anrief und ihr alles brühwarm erzählte. Natürlich rastete Liz völlig aus und war schon am Packen.

Da wurde es Eddie zu bunt und er wurde selbst wütend, begann Freyda zu würgen. Sie kämpfte wie ein Tiger, bis sie sich ergab. Er schlief ein, und wie er am nächsten Morgen von der Polizei geweckt wurde, war die Lady verschwunden. In Luft aufgelöst. Als Eddie etwas von einer Zeitreisenden schwafelte, wurde er sieben Tage in die Psychiatrie gesteckt. Mordsverdienstausfall. Interessiert alles nicht. Nur die Adresse von Liz will er noch herausbekommen. Sie ist sein nächstes Opfer.

Mein Eindruck

Mich erinnerte die ein wenig verwirrende Story sogleich an eine andere Erzählung über Zeitreisende aus der Zukunft, die in unserer Zeit Aufregung und Unterhaltung suchen: an „Traubenlese“ (Vintage Season) von C.L. Moore und Henry Kuttner (siehe meinen Bericht dazu). Allerdings sind Besters „Besucher“ um einige Nummern egoistischer, rücksichtsloser und geiler als die kunstbeflissenen Traubenleser. Schon die erste Szene, in der David ein Mädchen schneidet, ist nichts für schwache Nerven.

Man muss ein wenig nachdenken und genau lesen, um alle Fakten richtig auf die Reihe zu bekommen. Doch dann formt sich ein Gesamtbild, das nichts anderes als beunruhigend ist. An der Achterbahn lauert nämlich stets Freyda, die Tigerin…

9) Robert A. Heinlein: Entführung in die Zukunft („All you Zombies…“, 1941)

1980 kommt ein Mann in die Kneipe von „Pop’s Place“, wo unser Zeitagent als Barkeeper arbeitet. In einer Wette um eine Flasche Whisky erzählt der Neuankömmlung, ein Schriftsteller vom Typ „Ledige Mutter“, seine Lebensgeschichte.

Geboren anno 1955 als Mädchen Jane, wurde er im Jahr 1973 in einem Park von seinem / ihrem ersten Mann geschwängert, woraufhin der Vater verschwand. Neun Monate später, also 1974, brachte unser Mädel einen strammen Sohn zur Welt, doch zwei unerwartete Dinge passieren: Die Mutter wird in einen Mann umgewandelt, um die Verletzungen der Geburt überleben zu können; und 2) wird das Baby von einem Unbekannten entführt. Nun würde der Besucher der Bar sonstwas drum geben, um diesen fiesen Kerl erwischen zu können.

1980 rekrutiert der Zeitagent seinen Kunden und erfüllt ihm seinen Wunsch, indem er ihn mit seiner Zeitmaschine ins Jahr 1973 mitnimmt, also in das Jahr, in dem Jane geschwängert wurde. Der Zeitagent jedoch reist in Jahr 1974, um das neugeborene Baby zu rauben. Dann beginnen die Dinge, kompliziert zu werden.

Mein Eindruck

Eines der irrsinnigsten Zeitreisegeschichten, die je geschrieben wurden. Es kommt nur ein Mensch darin vor, aber in drei Version. Der Zeitagent ist die gleiche Person wie sein Kunde, ist sein eigener Vater, seine eigene Mutter und natürlich deren Baby. Davon zeugt beispielsweise die Kaiserschnittnarbe an seinem Bauch. Als wäre er müde von so viel Verwirrung, begibt er sich ins Jahr 2003, um den Job zu wechseln. Aber wie gerne hätte er die anderen bei sich.

10) Ian Watson: Die Sehr Langsame Zeitmaschine

Am 1. Dezember 1985 erscheint im Nationalen Laboratorium für Physik zur Mittagszeit ein sehr sonderbar aussehender Apparat: Es ist die Sehr Langsame Zeitmaschine (SLZM). In den quadratischen Klötzen und Kristallformen, die eine Art Globus bilden, sitzt ein alter, heruntergekommener Mann – der Zeitreisende, isoliert, unzugänglich, Bücher lesend, Bänder hörend. Allmählich wird deutlich, dass er sich in der Zeit rückwärtsbewegt, d.h. von einem Abreisezeitpunkt in der Zukunft reiste er ins Jahr 1985 und hat hier wohl seine Endstation gefunden, von wo aus er wieder in seine subjektive Vergangenheit reist: Er wird jünger. Aber worin besteht seine Absicht?

Um dies herauszufinden, versuchen die Wissenschaftler mit ihm zu kommunizieren. Sein erster Hinweis, geschrieben auf ein Plastikschild, ist rätselhaft: „Bergab kriechen, bergauf gleiten“. Erst etwa 25 Jahre später wird deutlich, was er damit meint, als er eine Reihe von Plastikschildern hochhält, in denen er seine Rolle erklärt. Durch seine Reise zurück in der Zeit hat er Zeitenergie akkumuliert, welche ihn von einem bestimmten Zeit-Punkt aus (2120) weiter in die Zukunft schleudern soll. 35 Jahre später, also 2055, wird er wieder in den allgemeinen Zeitstrom eintauchen.

Im Laufe der vielen Jahre stellt sich heraus, dass es ihm nicht darum geht, im Jahr 2055 etwas herauszufinden, o nein: Seine Mission besteht darin, die Welt zu verändern. Und zur Verwunderung der Physiker beginnen sich schon bald Kulte und Sekten um den einsamen, isolierten Zeitreisenden bilden, und der Campus des Nationalen Physiklabor verwandelt sich in ein Zeltlager à la Woodstock. Die Zeit wird friedlicher. Nicht nur die geistigen Auswirkungen reichen immer weiter, sondern auch die in der Physik. Die Raumfahrt wird aufgegeben zugunsten der Forschung an überlichtschnellen Teilchen, um so die Distanz zu den Sternen überwinden zu können. Doch der Erfolg bleibt aus.

Der einsame Zeitreisende nimmt zunehmend die Eigenschaften eines Messias und Christos an. Als er dann 2019 seine Serie von Botschaften zeigt, wird seine Absicht noch deutlicher…

Mein Eindruck

Dies ist wohl eine ungewöhnlichsten Zeitreisegeschichten überhaupt. Es geht hier weder um Technik noch Sensationen, sondern um die metaphysischen und kulturellen Auswirkungen der Ankunft eines sehr langsam in der Zeit Reisenden. Woher kommt er, was hat er vor, warum ist er so isoliert – unzählige Fragen und Sorgen lenken die Menschheit von ihren kriegerischen Plänen ab und hin zu konstruktiven Tätigkeiten.

Die Metaphysik lässt sich allerdings auch steigern. Von der Jesus-Gestalt bis zum Gott ist es nur ein kleiner Schritt. Dieser Gott, dessen Position der Zeitreisende für sich selbst reklamiert, verheißt nicht nur unnennbare Geheimnisse, sondern auch eine leibhaftige Rückkehr auf die Erde im Jahr 2055. Bis dahin sollten seine Anhänger sich auf sein Kommen vorbereiten, und zwar durch Meditationen.

Doch unseren Chronisten beschleicht ein ungutes Gefühl. Wer sagt denn, dass der Zeitreisende nicht wahnsinnig ist? Und was ist, wenn er nach 35 Jahren nicht nur wahnsinnig, sondern auch noch abgrundtief böse ist?

Die Erzählung beschreibt ein Second Coming, die Wiederkunft Jesu, und ist unentschieden, ob dies die Tage des Heils bedeutet oder das Kommen des Antichristen. So oder so: Glaube ist Wahnsinn, wenn ein Physiker seine Weltanschauung aufgeben muss.

11) Henry Slesar: Der Stoff

Andy Hills hat einen schweren Autounfall erlitten und liegt mit mehrfach gebrochenem Rückgrat im Krankenhaus. Der Arzt Dr. Bernstein will ihm ein spezielles Mittel verabreichen, Senopolin, doch dafür braucht er die Einwilligung von Paula, Andys Frau. Während Dr. bernstein ihr die Wirkungsweise erklärt, erlebt Andy einen lebhaften Traum.

Er ist wieder vollständig genesen, wird zum besten Tennisspieler der Welt, ein gefeierter und geehrter Maler, bekommt zwei Söhne, wird daheim Senator und schließlich im Krieg General. Als Verdienter Held wählt man ihn ins Amt des US-Präsidenten und schließlich zum Weltpräsidenten. Was mehr kann sich ein Mann wünschen?

Dr. Bernstein erklärt Paula, dass Senopolin im Patienten einen Traum erzeugt, um die Schmerzen zu unterdrücken…

Mein Eindruck

Die Traumreise Andy Hills’ ist eine völlig andere Kategorie von Zeitreise. Nicht Maschinen ermöglichen sie, sondern eine Droge. Dass Andys Erleben nicht auf der gleichen Realitätsebene wie Paulas Gespräch mit Dr. Bernstein, macht die Kursivschrift deutlich. Obwohl Andys Leben ein Traum ist, ist es nicht lächerlich. Vielmehr ist es tragisch, dass er zwar glaubt, ein erfülltes Leben gehabt zu haben, aber eine junge Frau ohne Kinder zurücklässt. Wer ist besser dran?

12) James Tiptree jr.: Ein Leben für eine Decke der Hudson Bay Company (1972)

Im 21. Jahrhundert lebt Dov Rapelle in Calgary, Kanada, und bevorzugt das ruhige Leben in den Bergen. Auf seinem nächsten Bergausflug in die Schneeberge wird seine Ruhe in der Berghütte jedoch jäh beendet, als ein Helikopter ein halbnacktes 16-jähriges Mädchen absetzt, das sich ihm in die Arme wirft. Er wickelt es erst einmal in eine Decke der Hudson Bay Company, um es warmzuhalten, aber davon will Loolie, wie es sich nennt, gar nichts wissen.

Die Dinge nehmen zwangsläufig ihren natürlichen Lauf und nachdem er sie entjungfert hat, verrät sie ihm, dass sie schon 73 Jahre alt ist und einen Zeitsprung gemacht hat. Sie heiße auch nicht Loolie, sondern Eulalia Avrolupa-Rapelle und ist die Tochter eines peruanischen Magnaten, der seine Schergen ausgesandt hat, um Loolie wieder einzufangen. Und um den Kerl, der ihr möglicherweise etwas angetan hat, ins Jenseits zu befördern.

Zum Glück kennt sich Dov in seiner Berghütte und deren Umgebung wesentlich besser aus als diese Peruaner und kann unbehelligt entkommen. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte von Dovy und Loolie. Noch längst nicht. Denn irgendwo muss Loolies Zeitsprung ja angefangen haben…

Mein Eindruck

Es gibt nicht viele gelungene Zeitparadoxgeschichten. Die besten und bekanntesten stammen von Robert Heinlein, und er schrieb sie bereits im goldenen Zeitalter: „All you zombies“ (1959) und „By his bootstraps“ (1941). Ihr Handlungsverlauf ist derart kompliziert, dass ihn sich niemand merken kann. Einer der Gründe, warum sie so selten abgedruckt werden. Da ist „A sound of thunder“ von Ray Bradbury schon wesentlich simpler. Die Zeitreise selbst wird gar nicht erklärt, sondern nur der Verlauf und die (politischen) Folgen einer Dinosaurierjagd.

Die Zeitschleifenstory, in der ein Ereignis zu seiner eigenen Ursache wird und somit zu einem Paradox, ist wohl die anspruchsvollste Untergattung. Die beste Story, die mir hier je untergekommen ist, heißt „Time wants a skeleton“ und stammt von Ross Rocklynne (1941). In „By his bootstraps“ wird aus der Schleife ein Knoten, und in „All you zombies“ (s.o.) wechselt der Protagonist sogar sein Geschlecht, um sowohl sein Vater als auch seine Mutter zu werden.

Natürlich ist auch „Hudson Bay Company“ eine Zeitparadoxstory, und eine ziemlich erotische dazu. Zwei junge Menschen in eine Berghütte zu stecken und dort alle möglichen erotischen Phantasien umzusetzen, das ist genau das, was Dov in der Story schon mehrmals getan hat (er hat sich dabei ebenso erkältet wie seine Freundin). Die Ursache für Loolies Erscheinen in einer Zeitschleife hat jedoch eine eher tragische Ursache. Kaum je fehlt in einer Tiptree-Geschichte ein Todesfall.

Oberflächlich gesehen werden alle Klischees erfüllt: Reiches nettes Mädchen ist seines Vater Obhut entschlüpft und hat ihren Traumlover gefunden, allerdings nur bis die Männer des Vaters auftauchen. Natürlich hat die Sache ein Nachspiel. Im Grunde könnte die Story eine spannende, erotische Ausarbeitung gut vertragen. Und der tragische Todesfall würde einen soliden Ausgleich zur Frivolität des Anfangs bieten.

13) F. Scott Fitzgerald: Der seltsame Fall des Benjamin Button

Im Jahre 1860 wird dem Eisenwarengroßhändler Roger Button im Krankenhaus von Baltimore ein Sohn geboren. Der behandelnde Arzt lehnt jede Verantwortung für das Malheur ab, und die Krankenschwester vom Empfang verdrückt sich voll Entsetzen. Roger schwant Übles. Doch mannhaft – und wütend über die Behandlung – kämpft er sich zum ersten Stock durch, wo ihn die Stationsschwester zum „Brüllzimmer“ führt: Dort liegen die Neugeborenen. Nun ja, was heißt schon „neugeboren“? Sie versichert ihm, dies sei sein Sohn: der siebzigjährige Greis da, mit dem weißen Haar und dem langen Kinnbart.

Roger fühlt sich gefoppt, fällt aber keineswegs in Ohnmacht. Vielmehr geht er hin, um Knabenkleider zu kaufen. In der Größe verhaut er sich ein bisschen, aber schließlich können er und sein Sohnemann doch erhobenen Hauptes nach Hause fahren. (Von der betroffenen Mutter ist an keiner Stelle die Rede.) Statt seiner Spielsachen nimmt Benjamin lieber die „Encyclopaedia Britannica“ zur Hand und versteht sich mit seinem Großvater bestens. Kindergarten, Vorschule und Schule müssen leider ausfallen, weil ihm keine Lehrerin glaubt, er sei im passenden Alter. Und als er sich in Yale immatrikulieren will, wirft man dort hochkant hinaus.

So bleibt ihm nichts anderes übrig, als in der Firma seines Vaters zu arbeiten. Dort bleibt er 25 Jahre lang. Doch auch Amors Pfeil verfehlt ihn nicht: Hildegart Moncrief, blonde Tochter eines Generals, steht auf Männer um die Fünfzig – nicht zu jung und nicht zu tatterig. Benjamin begeht nicht den gleichen Fehler, den er in Yale machte, zweimal und lässt Hildegart in dem Glauben, er sei der Bruder von Roger Button. Nach sechs Monaten sickert es durch, dass sie miteinander verlobt sind.

Doch Benjamin stellt im Spiegel immer wieder fest, dass sein Aussehen sich verjüngt: erst von weißem, dann zu grauem und schließlich zu braunem Jahr. Das Ende dieser Entwicklung dürfte unausweichlich sein – aber keineswegs unerfreulich! Wie ein junger Springsinsfeld wendet er sich von der alternden Hildegart ab und stürzt sich ins Partyleben von Baltimore. Doch er hätte nie mit der schäbigen Behandlung durch seinen Stiefsohn Roscoe gerechnet, als er ins Alter eines Jugendlichen kommt…

Mein Eindruck

Der regisseur David Fincher hat diese Steilvorlage von Fitzgerald gründlich modernisiert und umgekrempelt zu einer bittersüßen Romanze, mit Brad Pitt in der Titelrolle. Nun, die Vorlage ist alles andere als tragisch, sondern eher grotesk. Das Hauptaugenmerk des Autors liegt weniger auf der Psychologie des Betroffenen, der sich wie Felix Krull aus allen Kalamitäten windet, als vielmehr auf den Reaktionen der menschlichen Umgebung. Vor allem an den braven Bürgern von Baltimore wird kein gutes Haar gelassen, aber auch Yale und Harvard bekommen ihr Fett weg. Das macht aus der Erzählung mehr eine Gesellschaftssatire als eine Zeitreisegeschichte.

14) J.G. Ballard: Chronopolis (1960)

Conrad Newman sitzt seinem einem Jahr in U-Haft, heute soll das Urteil über ihn fallen: wegen Mordes an einem Zeitpolizisten. Da es im Knast keine Uhr außer seiner Sonnenuhr gibt, dauert es noch eine Weile, bis man ihn endlich holt. Er erinnert sich…

Es fing damit an, dass sich der Junge darüber wunderte, dass hier und da merkwürdige Geräte mit zwölf Ziffern darauf zu finden und zu sehen waren. Weder seine Mutter noch seine Vater geben ihm Auskunft darüber, ganz im Gegenteil: Sie geben Conrad den Eindruck, als handle es sich dabei um etwas Verbotenes: Uhren. Doch durch seinen Einfallsreichtum und die positive Rückkoplung durch Zeiteinteilung gelingt es ihm, eigene Zeitmesser zu konstruieren: Je genauer er sich die Zeit einteilen, desto schneller hat er seine Hausaufgaben erledigt.

Das ist natürlich noch nicht das Wahre, weiß er. Eine echte Armbanduhr, wie man sie früher trug, entdeckt er erst bei einem Kinozuschauer, der einen Herzanfall erlitten hat. Dieses kostbare Stück trägt er nun ständig mit sich und verblüfft Schüler wie Lehrer durch seine hellseherische Fähigkeit, den Alarm der Schule vorauszusehen, die das Ende der Schulstunde anzeigt.

Bis ihm der Lehrer Stacey auf die Schliche kommt und ihn mit in die Stadt nimmt. Diese ist seit der Revolte von 37 Jahren verlassen: 500 Quadratkilometer Steinwüste, oder? Mitnichten, findet Conrad heraus: Alles ist noch so wie damals, inklusive der Uhren – es müssen Millionen davon vorhanden sein. In Chronopolis, so der Lehrer, lebten alle Menschen nach einem genau ausgetüftelten Stundenplan, der jede Aktivität regelte, egal ob es Telefonieren, Einkaufen oder Arbeiten war.

Gesteuert wurden alle Uhren von der großen Zentraluhr auf dem 60 Meter hohen Glockenturm des Parlaments. Sie ist bei 12:01 stehengeblieben. Da entdeckt Conrad eine Uhr, die noch geht: Sie zeigt die Zeit seiner Armbanduhr an. Er büchst aus und sucht denjenigen, der die Uhr audfgezogen hat. Es ist ein alter Uhrenmacher und er hat es geschafft, 278 Uhren wieder zum Laufen zu bringen. Wenig später ereignet sich der Mord an Stacey…

Mein Eindruck

Der Autor stand noch am Anfang seiner steilen Karriere als Chronist des Raumfahrt- und Drogenzeitalters, als er diese Satire schrieb. Uhren sind überall verboten, weil jeder sich seine Zeit selbst einteilen will. Das kann man heute, da sich das Leben ungeheuer beschleunigt hat, sehr gut verstehen kann. Natürlich erfolgt auf diese Revolution eine Konterrevolution, ausgeführt von Conrad und seinem alten Helfer. Aber auch Conrad wird am Schluss erfahren, was unter dem Terror der Uhr zu verstehen ist.

Es ist auffällig, dass in dieser Geschichte keine Zeitreise vorkommt. Wie in der folgenden Erzählung liegt das Augenmerk darauf, die Erfahrung der Zeit zu relativieren. Der Verdienst von Ballards Story liegt in dem warnenden Ausmalen einer Epoche, in der jede Handlung eines Menschen gemäß dem Diktat der Verfügbarkeit von Zeit diktiert wird – ein schauerlicher Gedanke. Aber vielleicht gar nicht so weit entfernt…

15) Brian W. Aldiss: Als die Zeit ausbrach (1967)

Fifi und ihr Mann Tracey Fevertrees sind happy, dass sie jetzt ihre eigene Zeitleitung im Haus haben. Das Gas ist in Rohren und Kabeln von Handwerkern des Zeitkraftwerks hierherverlegt worden, und nun können sie in jedem ihrer Zimmer die angenehmsten Momente, die ihnen einfallen, genießen. Doch weh, der Hummer schmeckt auf einmal seltsam! Als sie den Handwerker Mr Smith anrufen, meldet er, dass es im Kraftwerk ein Zeitleck gebe – die ganze gegend sei überschwemmt von Zeitgas!

Mit ihrem Haus-Hovercraft düsen sie zusammen zur Gasverteilerstation. Dort ist bereits Alarm gegeben worden. Leider ist Tracey jetzt ein kleiner Junge und fährt den Wagen in die nächste Hecke. Als sie endlich eintreffen, merken sie, wie sich die Situation zuspitzt. Ein Manager trifft ein, ein Fernsehreporter plappert seinen Senf zu den Geschehnissen. Sie fühlen sch mal im 17. Jahrhundert als Pilgerväter bzw. –mutter, dann wieder wie ein Normanne.

Endlich trifft die Feuerwehr ein und man kann darangehen, die Terranauten aus dem Förderschacht für das Zeitgas herauszuholen. Einer der Terranauten berichtet von einem Dinosauriernest, das er dort unten entdeckt habe. Erschreckt nehmen Tracey und Fifi Reißaus, bevor noch Schlimmeres aus der Tiefe ans Licht kommt. Während sie das Weite suchen, sehen sie andere Landbewohner den Hügeln zustreben. Sie sprechen eine Steinzeitsprache…

Mein Eindruck

Brian Aldiss war in seiner Anfangszeit als Autor ein rechter Spaßvogel, der vor allem durch seine ausgefallenen Einfälle brillierte, während sein Stil recht durchschnittlich war. (Das hat sich inzwischen sehr geändert.) Aber stets zeigt er wie ein Hofnarr auf gewisse Kulturerscheinungen und Geisteshaltungen, die vielleicht nicht ganz rational sind. So etwa die Auffassung seiner Landsleute von dem, was als „zivilisiert“ zu gelten habe.

Früher war es Gaslicht in der Stadt, dann Elektrizität, schließlich Telefon und Autobahnen und Waschmaschinen und vieles mehr. Stets gab es einen Zeitunterschied zwischen der hochentwickelten Stadt und dem flachen Land, wo die „Zivilisation“ auf sich warten ließ. Deshalb sind die Fevertrees ja auch so glücklich, endlich den zivilisatorischen Stand der Stadt erreicht zu haben: ihre eigene Zeitleitung, hurra!

Doch die Errungenschaft muss auch mit dem Menschen mithalten können, d.h. ihm gerecht werden. Und das ist bei einer Zeitgasleitung offensichtlich nicht der Fall. Mit fatalen Folgen.

16) David J. Masson: Ablösung (Traveler’s Rest, 1965)

Der Soldat H kämpft in vorderster Front einen Grenzkrieg, von dem er nicht weiß, wer der Feind ist und wer ihn angefangen hat. Endlich wird er abgelöst und darf zurück in die Heimat. Erst den Berg hinab, weiter unter Beschuss, dann ins Teil, wo er seinen Kampfschutzanzug loswird und Zivilkleidung bekommt. Er kann sich jetzt an seinen Namen erinnern: Hadol oder Hadolaris, richtig? Der Zeitgradient scheint auch seine Erinnerung zu beeinflussen.

Ganz oben an der Bergfront ist die Zeit aufgrund der Konzeleration am dichtesten: Sie vergeht kaum. Je weiter er ins Tal und dann in die Ebene gelangt, desto mehr Zeit vergeht für ihn subjektiv. Deshalb versucht er auch, so weit wie möglich von der Front wegzukommen, um eben mehr Zeit für sein Leben zu haben. Nicht jeder wird abgelöst, das muss er ausnutzen. An der Südostküste findet er einen Job in einer Firma und steigt dort im Laufe der Jahre auf, die nun vergehen. Er gründet eine Familie und zieht drei Kinder groß, für deren Zukunft er mit seiner Frau Mihanya schon Pläne schmiedet.

Doch nach 20 Jahren holen sie ihn wieder: drei Soldaten, die ihm seinen Einberufungsbefehl zeigen. Er muss sofort mitkommen, ohne seine Familie zu benachrichtigen. Alles verläuft wieder umgekehrt. Die Konzeleration schlägt wieder zu: Im Bunker an der Front sind seit seiner Ablösung lediglich 22 Minuten vergangen, rechnet er nach. Jetzt ist er nur noch Had, dann bloß noch H, als er lossprintet, um seine Stellung zu erreichen.

Mein Eindruck

Die Parallelwelt, in der Hadolarison lebt, hat einige Ähnlichkeit mit den Vereinigten Staaten, doch es gibt einen gravierenden Unterschied: die Zeitgradienten zwischen der Grenze in den Bergen und dem Hinterland. Dadurch vergeht die Zeit unterschiedlich schnell und sehr relativ. Das betrifft sogar den Aufenthalt im Nordosten im Gegensatz zum Südosten.

Merkwürdig kommt es Hadolaris vor, dass an der Grenze der Gradient praktisch gegen unendlich geht, so dass dort fast keine Zeit vergeht. Es ist, als wäre die Grenze ein Spiegel. Und wenn das stimmt, dann wären die Geschosse, die der Feind abfeuert, im Grunde die eigenen. Als er diesen ketzerischen Gedanken äußert, wird ihm gesagt, er solle sich nicht lächerlich machen.

Besonders interessant fand ich, dass zusammen mit der Zeitdehnung auch der Name des Soldaten immer länger wird: von H zu Had zu Hadol zu Hadolaris zu Hadolarisón und so weiter. In umgekehrter Richtung verkürzt sich der Name bis hin zum Einzelbuchstaben H. Hadols Bezeichnung allerdings lautet XN2. Die Entpersönlichung, die hier angedeutet wird, ist ein typisches Merkmal militärischer Strukturen, wie sie etwa in Kubricks „Full Metal Jacket“ erschreckend dargestellt wurden. Der Mensch darf nicht als Individuum existieren, sondern muss als Rädchen im Getriebe funktionieren, und das geht nur, wenn er austauschbar ist: eine Nummer.

17) Harlan Ellison: Zähl ich den Glockenschlag, der Stunden misst (1978)

Ian Ross hat den Trott in seiner Firma satt und macht Urlaub in Schottland, dem Land seiner Vorväter. Dort widerfährt ihm etwas sehr Sonderbares. Er setzt sich auf den Hang eines Hochlandtales und betrachtet das Kommen und Gehen von Wind, Licht und Sonne. Er, der gerade noch 34 war, ist unversehens 37 Jahre alt. Dann geht die Sonne unter, es wird Nacht, aber nicht richtig: Diese Dunkelheit ist eher ein dunkles Grau, in dem ihm schwankende Schatten begegnen.

Zuerst begegnet er hier einer verkrüppelten alten Frau, die ihm aber auch nicht sagen, welcher Ort dies hier ist. Nur eines weiß sie: Hunderte, ja Tausende sind hier, und nur wenige gelangen wieder hinaus. Sie jedenfalls suche den Ausweg. Nachdem sie verschwunden ist, begegnet Ian einem fröhlichen Mann mittleren Alters, der sich als Sir Julian Cowper, Alchimist und Metaphysiker, vorstellt. Der ist der erste Mensch, der ihm die Sache mit Ians Existenzwandel erklären kann. Aber was Julian von Chrononen von vergeudeter, ungenutzter Lebenszeit erzählt, ist barer Unsinn, findet Ian und geht weiter.

Deshalb stößt er schließlich auf Catherine. Sie stammt aus Wisconsin, hat aber mit 32 weder Mann noch Kinder, sondern bloß einen Buchhalterjob in einer Spedition. Auch sie ist ein Opfer vergeudeter Lebenszeit, erkennt Ian. Nachdem sie sich zusammengerauft und miteinander geschlafen haben – es ist ihr erstes Mal – verlieben sie sich ineinander. Plötzlich stellen sie fest, dass sich ihre Körper in diesem Schattenreich auflösen…

Mein Eindruck

Der Titel ist ein Zitat der ersten Zeile aus dem 12. Sonett von William Shakespeare in der Übersetzung von Otto Gildemeister aus dem Jahr 1871. Darin beklagt der Dichter die Vergänglichkeit des Lebens, die lediglich durch die „Saat“, die man hinterlässt, aufgewogen werde. Dieser gedanke spiegelt sich in der Geschichte. Ian und Catherine sind Schatten geworden, an denen das Geschehen in der Schatten-Welt spurlos vorübergeht. Erst als sie einenander etwas bedeuten und also ihre Zeit nicht mehr vergeuden, kehren sie zurück in die reale Welt.

Die Geschichte ist eine Metapher auf eine mögliche Zivilisationskrankheit: Unterhaltung, Zerstreuung, hirnlose Jobs – nichts davon berührt den Strom des Lebens und der Zeit. Erst die Liebe kann diesen Zustand aufheben und dem Leben Bedeutung verleihen.

18) J.G. Ballard: Der Garten der Zeit (1962)

Graf Axel lebt mit seiner klavierspielenden Frau in einer prächtigen Villa, zu der ein See und ein bemerkenswerter Garten gehören: In diesem Garten wachsen die Zeitblumen. Eine Zeitblume speichert in ihrer kristallinen Struktur Zeit und wenn Graf Axel eine Blüte bricht, so dreht er die Zeit ein wenig zurück, mal eine Stunde, mal nur wenige Minuten, je nach der Größe und Reife der Blume.

Diesmal bricht er wieder eine, denn über die Anhöhe des Horizonts drängt eine Lumpenarmee auf die Villa zu, die alles in ihrem Weg zu zertrampeln und zu zerstören droht. Schwupps, ist die Armee wieder auf den Horizont zurückgeschlagen. Aber das nicht ewig so weitergehen. Leider sind nur noch ein halbes Dutzend Zeitblumen im Garten der Zeit verblieben. Seine Frau bittet ihn, die letzte Blüte für sie übrigzulassen…

Als die Lumpenarmee den Garten erobert und die Villa plündert, findet sie nur noch eine Ruine vor, der Garten ist verlassen und verwildert. Nur mit größter Vorsicht umgehen die namenlosen Plünderer ein Dornendickicht, das zwei Steinstatuen umschließt: einen Mann und eine edel gekleidete Frau, die eine Rose in der Hand hält…

Mein Eindruck

Das Szenario des Grafen und seiner Gräfin in ihrem Garten aus konservierter Zeit sind eine elegische Metapher auf die gesellschaftliche Überholtheit der adeligen Klasse. Sie huldigt Idealen von Schönheit, die dem „Lumpenproletariat“ – ein begriff von Marx & Engels – völlig fremd sind. Dieses sucht lediglich materielle Werte, zerstört Bilder und Musikinstrumente ebenso wie Bücher, um Heizmaterial zu erhalten. Der Gegensatz ist klar: Bei den Adeligen bestimmt das Bewusstsein das Sein, bei den Proleten ist es umgekehrt: der Materialismus triumphiert. Die hinfortgespülte Klasse existiert nur noch als Statuen, genau wie heutzutage.

Ein SF-Autor also, der der Revolution das Wort redet? Wohl kaum, denn sonst würde er den zerbrechlichen zeitblumen solche schönen Worte widmen, die an Poesie nichts zu wünschen übriglassen. Er trauert den vergangenen Idealen nach, doch der Garten macht seine eigene Aussage: Sobald die letzte Blume vergangen ist, bricht die aufgeschobene Zeit mit aller Macht über die Adeligen ehrein und lässt sie zu Stein erstarren. Wie immer bei Ballard ist dieser abrupte Übergang überhaupt nicht kommentiert oder gar einer Erwähnung wert. Der Leser muss ihn sich dazudenken.

Die Übersetzungen

In den Texten finden sich die üblichen Flüchtigkeitsfehler, die in zahlreichen unterbezahlten Taschenbuchübersetzungen zu finden sind: falsche Wortendungen und dergleichen. Also nichts Ernstes. Auch Stil- und Sprachfehler konnte ich nicht finden – sofern die Übersetzung des Englischen aus dem 17. Jahrhundert linguistisch korrekt ist. Leider kann ich das nicht beurteilen.

Unterm Strich

Karl Michael Armer hat in seinem erhellenden Nachwort zum vorliegenden ersten Band die Vorbemerkung von Wolfgang Jeschke untermauert und präzisiert. Die Erzählungen der beiden Bände sind nach einer willkürlichen Einteilung sortiert: „In der ersten Gruppe von Erzählungen ist der Zeitreisende ein staunender Erlebender, in der zweiten manipuliert er die Zeit, in der dritten ist er ihr Opfer. In der vierten Gruppe schließlich gewinnt die Zeit eine mythische, surreale, märchenhafte Dimensionen. Sie erweist sich als rätselhaftes, unnahbares Element, dem wir ausgeliefert sind…“, erklärt Jeschke in seinem Vorwort zu dem Doppelband.

Was nun die Gruppierung anlangt, so konnte ich zwar Vertreter aller dieser vier Gruppen in den zwei Bänden vorfinden, jedoch keine seitenmäßig strenge Abfolge dieser Gruppen. Ich wüsste also nicht zu sagen, wo Gruppe 1 aufhört und Gruppe 2 beginnt, weil diese Grenze verwischt wurde und somit unkenntlich ist. Aber die Einteilung ist hilfreich, um die eine Erzählung von der nächsten zu unterscheiden.

Insgesamt gesehen, hat mich dieser erste Band – im Gegensatz zum zweiten – etwas enttäuscht. Das liegt daran, dass die lustigen Pionier-Stories aus den fünfziger Jahren heute völlig unlogisch und überkandidelt wirken, bei Bester sogar reichlich gewalttätig. Zum anderen wirken sie heute im (unfairen) Vergleich mit dem, was das Kino zu zeigen weiß, reichlich. Und drittens ist das letzte Drittel dieses Bandes getaucht in Melancholie und einen sehr speziellen Humor, den man wohl als Groteske oder Farce bezeichnen könnte.

Meine eigenen Favoriten dieser Auswahl sind ohne Zweifel Ballards „Chronopolis“ (Rebellion gegen die Zeitpolizei) und Watsons „Sehr langsame Zeitmaschine“, in der der Zeitreisende christus- und gottähnliche Züge annimmt. Höchst ungewöhnlich ist sicherlich Massons „Reis durch zween Zeiten“, in der der Zeitreisende von seiner Reise aus dem Jahr 1683 ins Jahr 1964 und zurück berichtet. Der Witz bei der – im Grunde recht banalen – Geschichte ist neben der Sprache des 17. Jahrhundert vor allem die Kritik an der modernen Zivilisation. Da kommt bei Ökofreunden richtig Freude auf.

Fazit

Für jeden Freund qualitätsvoller und einfallsreicher Zeitreisegeschichten sind diese beiden Bände einfach unverzichtbar. Es ist ein Jammer, dass ich sie erst jetzt entdecke, rund 25 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung. Aber es ist nie zu spät, und zum Glück ist das SF-Genre eines der Liebhaber und Sammler, die alles getreulich bewahren.

Taschenbuch: 346 Seiten,
ISBN-13: 9783453310193
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.

www.heyne.de

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