Bass, Bill / Jefferson, Jon – Knochenleser, Der

Knoxville im US-Staat Tennessee gehört zu jenen unglücklichen Städten, die nur über eine echte Sehenswürdigkeit verfügen, mit der indessen rein gar kein touristischer Staat zu machen ist: Hier hat die University of Tennessee in den 1970er Jahren die „Body Farm“ eingerichtet. Dr. Bill Bass, ein forensischer Pathologe, der von kriminalistischen Einrichtungen aller Art immer wieder als Berater bei rätselhaften Leichenfunden zu Rate gezogen wurde, war lange Zeit mit der ärgerlichen Tatsache konfrontiert, dass bei der Bestimmung der Zeit, die so ein „Kunde“ in einem Wald, einem Fluss oder unter dem Fundament eines Hauses gelegen hatte, der Zeitpunkt des Todes einfach nicht präzise festgestellt werden konnte: Niemand wusste wirklich, wie der Prozess der Verwesung ablief.

Aus Gründen, die auf der Hand liegen, waren selbst Wissenschaftler vor grundsätzlichen Forschungen auf diesem Gebiet zurückgeschreckt. Es bedarf einer besonderen Sorte Mensch, um sich planmäßig dem Grauen zu stellen, das Zeit, Feuchtigkeit und vor allem Insekten aus einer Leiche modellieren. Bill Bass ist ein solcher Mensch; zwar nicht immun gegen die unerfreulichen Seiten seiner Wissenschaft, aber mit Leidenschaft dabei, das Notwendige anzugehen. Den letzten Anstoß gab ihm die in ihrer grausigen Komik äußerst unterhaltsame Episode mit einer kopflosen Leiche, die er in einer bizarren Verkettung unglücklicher Zufälle um mehr als ein Jahrhundert falsch datierte.

Anschließend richtete Bass jene Institution ein, die von den dankbaren Medien später „Body Farm“ getauft wurde: Auf einem Stück Land wurden (und werden) Leichen auf den Waldboden oder in Pkw-Kofferräume gelegt, in Wasserbecken getaucht, flach oder tief eingegraben – und dann in Ruhe gelassen; in Ruhe der Fäulnis überlassen, um es beim Wort zu nennen, wobei dieser Vorgang detailliert in Wort und Bild festgehalten wird. Damit gewinnt man Vergleichsdaten, die es möglich machen, Leichen zu „entschlüsseln“, um so Todesursachen und –zeitpunkte zu fixieren.

Dass dies nicht nur Voyeure be- und Igittisten entgeistert, sondern von Wert für die kriminalistische Alltagsarbeit ist, weiß Bass an vielen Beispielen anschaulich zu belegen. So manchem Mörder konnte er ins Handwerk pfuschen, bevor dieser allzu sehr in Serie ging. Auch in der Archäologie sowie in allen Wissenschaften, die an den Überresten von Menschen über Menschen forschen, weiß man die Erkenntnisse zu schätzen, die Bass und seine magenstarken Kolleginnen und Kollegen ihren stinkenden Versuchspersonen entlocken.

Mit den Schilderungen berühmter oder „nur“ interessanter Fälle, an denen er forensisch beteiligt war, verknüpft Bass seine Lebensgeschichte. Beide Bereiche erklären einander, so dass Bass es nie nötig hat, in regelmäßigen Abständen einen neuen Gruselkadaver ins Geschehen zu bringen, um den gelangweilten Leser zu fesseln: „Der Knochenleser“ ist eine Biografie mit rotem Faden, keine kunterbunte Sammlung aberwitziger Anekdoten. An denen spart der Verfasser nicht, aber er stellt sie in den Dienst seiner Geschichte. Diese wird dadurch auch zur Historie der (US-)Forensik in den vergangenen fünfzig Jahren.

Weil Bass dabei das Persönliche nicht scheut, stellt er sich auch der verständlichen Frage, wie ein Mensch nur solche Arbeit tun kann. Unausgesprochen steht sie während der Lektüre immer im Raum. Die Labor- und Feldgeschichten sind spannend, sogar faszinierend, dazu witzig, aber dennoch … Wie schafft der Mann es, Tag für Tag mit faulenden, grässlich anzusehenden Leichen umzugehen, ohne darüber verrückt zu werden?

Die Antwort ist einfach – oder typisch amerikanisch, wenn man so möchte: Es liegt halt ein höheres Ziel und damit ein Sinn in dieser Tätigkeit. Bass sieht sich einerseits als Wissenschaftler, d. h. als Kopf-Mensch, der den Verstand an- und den Bauch (und die Nase) abschaltet, sobald ein „Job“ – die Identifizierung und Untersuchung eines Kadavers – ansteht. Andererseits gibt dies besagter Leiche, die einst ein Mensch war, der unter ungeklärten Umständen das Leben verlor, seine Identität, seine „Stimme“ zurück: Wenn er, Bill Bass, nicht klärt, was zum Zeitpunkt des Todes geschah, kommt ein Mörder davon und kann seine Tat womöglich wiederholen.

Starke Argumente, keine Frage, aber Mr. Bass gehört dennoch eindeutig einem ganz besonderen Menschenschlag an! Möglicherweise ist es ja auch sein Sinn für Humor bzw. die Absurditäten des Lebens & des Todes, die ihn zu seiner Arbeit befähigen. Negativ-Kritiker werden es ihm ankreiden, dass er es manchmal am gebotenen „heiligen“ Ernst mangeln lässt. Sie werden freilich überhaupt wie viele Bürger von Knoxville urteilen: Macht es, wenn es denn sein muss, aber schweigt darüber! Doch Bass ist stolz darauf, was er mit seinem Team geschafft hat. Außerdem will er der Mythenbildung vorbeugen.
Denn die „Body Farm“ ist spätestens seit Anfang der 1990er Jahre in aller Munde, als sie ganz besonderen Besuch bekam: Die ehemalige Forensikerin und spätere Schriftstellerin Patricia Cornwell besuchte Knoxville und ließ sich von Bass in die Geheimnisse der „Farm“ einweihen, die sie anschließend reichlich in einen ihrer enorm erfolgreichen Kay-Scarpetta-Romane („The Body Farm“; dt. „Das geheime ABC der Toten“) einfließen ließ. Seitdem genießt der seltsame Ort fast schon zu viel Publicity; sogar Pfadfindergruppen fragten schon Führungen nach … Faszination und Abscheu liegen beim Thema Tod sehr nahe beieinander!

„Der Knochenleser“ beinhaltet zwei Fotostrecken, die sich glücklicherweise nur in Andeutungen dessen ergehen, was der Verfasser im Text überaus drastisch beim Namen nennt. Der optische Eindruck davon, was den Alltag des Dr. Bass ausmacht, steigert allerdings die Bewunderung für das, was dieser Mann leistet. Seien wir ehrlich: Möchten wir wirklich die Fotos vom Hinterhof jenes pflichtvergessenen Bestatters sehen, der „seine“ Leichen nicht urnengerecht verbrannte, sondern sie zwischen Waldbäumen stapelte, in Schrottautos stopfte oder sonstwie „entsorgte“ – 339 Stück? Da kam es bei der anschließenden Identifizierung zu unerfreulichen Wiedersehensszenen zwischen Familienangehörigen, von denen die Lebenden die Toten längst in der Urne auf dem Kaminsims wähnten … Nein, wir sind Dr. Bass dankbar, dass er uns in klaren Worten, aber nicht gar zu krass über seine Arbeit informiert; darüber hinaus müssen und wollen wir nicht alles wissen! Das überlassen wir den Spezialisten, die es wissen müssen, um es anwenden zu können. Dank Bill Bass (wohltuend unterstützt vom wortgewandten Journalisten Jon Jefferson) ist uns nun klar, dass dieser Job keine Horde ghulischer Frankensteine erfordert, sondern Menschen mit Köpfchen, Herz & stählernen Nasen!