Klaus Peter Walter – Sherlock Holmes und der Werwolf

Der Meisterdetektiv unter dem Skalpell

Wir schreiben das Jahr 1897. Dr. John Watson liest mit Begeisterung den gerade erschienenen Roman „Dracula“ von Bram Stoker. Als wenig später in London eine blutleere Leiche gefunden wird, glaubt Watson an Vampire. Und dann begegnet ihm im Londoner Nebel ein Werwolf. Gemeinsam mit Sherlock Holmes, dem messerscharf deduzierenden Meisterdetektiv aus der Baker Street, begibt sich Watson auf eine phantastische Irrfahrt, die ihn bis in die finsteren Abwasserkanäle Wiens führen soll … (erweiterte Verlagsinfo)

_Der Autor_

Klaus-Peter Walter wurde 1955 in Michelstadt, Odenwald, geboren. Er lebt heute in Bitburg, Eifel. Nach dem Studium der Slawistik, Philosophie und osteuropäischen Geschichte wurde er freier Publizist. Aufgrund einer schweren Infektion mit dem Holmes-Virus widmet er sich seit dem Gymnasium der Kriminalliteratur. Er gibt seit 1993 das Loseblatt-„Lexikon der Kriminalliteratur“ LKL heraus. Er schrieb 1995 „Das James-Bond-Buch“ und war Ko-Autor an „Reclams Krimi-Lexikon“. Er veröffentlichte zahlreiche Kriminalkurzgeschichten, so etwa „Sherlock Holmes und Old Shatterhand“ (2005) und „Der Tote vom Sewer“ (BLITZ-Verlag, 2006).

_Handlung_

|PROLOG|

Dr. Watson, der Chronist des Meisterdetektiv, ist anno 1929 von der Strahlenkrankheit gezeichnet, die er sich bei seinem letzten Abenteuer „Im Reiche des Cthulhu“ zugezogen hat. Holmes hingegen frönt unbeirrt und kerngesund der Bienenzucht, den von der A-Bombe hat er nichts abbekommen.

Im Tresor seiner Bank hat Watson zahlreiche Fallbeschreibungen weggesperrt, die erst 50 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden sollen. Einen dieser Fälle beschreibt der nun folgende Text aus dem Jahr 1897, bei dem es sich angeblich um eine „Fälschung“ handeln soll …

|Haupthandlung|

Dr. Watson liebt den neuen Roman „Dracula“ von Bram Stoker, was Holmes überhaupt nicht verstehen kann – diese elenden Hirngespinste! Er heftet lieber Zeitungsberichte ab. Aber eine Flut von Klienten bringt die beiden Herren auf eine neue, ziemlich merkwürdige Sache. Erst meldet ein geiziger Apotheker – Holmes hat ihn sofort durchschaut – einen Lykanthropen, also einen Werwolf.

Dann wird die Hand der Mumie von Julia Pastrana gestohlen, der behaartesten Frau aller Zeiten (vgl. das Sherlock-Holmes-Hörspiel „Die Affenfrau“ bei Titania Medien), schließlich verschwindet eine Leiche aus einem walisischen Grab. Hat sich der Verblichene Peter Griffith, der an einer tropischen Hautkrankheit litt, wieder vom Gottesacker gemacht?

Zu guter Letzt erhalten die beiden Herren ein völlig zusammengebackenes Manuskript, das Holmes erst mühselig restaurieren muss, um es lesbar zu machen. Es soll sich als der Schlüssel zu all diesen Vorkommnissen erweisen, doch sie müssen geduldig sein. Im dichten Londoner Nebel macht Watson einen Spaziergang, den der Lieferant des Manuskriptes nutzt, um sich unerkannt an ihn heranzumachen. Man stelle sich Watsons Schrecken vor, als er in ein schwarz bepelztes Gesicht blickt! Der Werwolf sagt, seine Auftraggeberin wolle Mr. Holmes dringend sprechen, doch wo und wann, bleibt unklar, denn der Lykanthrop versteckt sich erneut.

Dass jemand Holmes auf der Spur ist, beweist ein Zwischenfall im Hafen. Aus der Tatsache, dass der Lykanthrop lateinamerikanisches Spanisch sprach, schließt Holmes messerscharf, dass er vielleicht wie Julia Pastrana und ein Brief in der Umgebung des verschwundenen Peter Griffith aus Mexiko kam. Was läge näher, als sich einmal die Schiffe und Lieferungen aus dieser Weltgegend anzusehen?

Doch Holmes kehrt zu Watsons Bestürzung mit blutenden Stellen und einem bunt schimmernden Sammelsurium von Prellungen und Abschürfungen von dieser Expedition zurück. Er wäre im Hafen um ein Haar von zwei kräftigen Seeleuten – eindeutig russischer Herkunft – ins Jenseits befördert worden. Wie sich später zeigt, hatten sie ein buchstäblich „handfestes“ Interesse am Körper des Meisterdetektivs.

Doch die nächsten Ereignisse in London zeigen: Dieser Fall zieht weitere Kreise, als sie sich hätten träumen lassen.

_Mein Eindruck_

Die Spur des Drahtziehers führt nach Wien. Die Hauptstadt des k. u. k. Kaiserreichs wirkt wie ein exotischer Planet: andere Sprache, andere Charaktere, neumodische Erfindungen vs. uralte Traditionen. Der Verdacht kommt auf, dass an einem Ort wie diesem, wo sich ganze Völkerschaften begegnen, einfach alles möglich ist. Und so kommt es auch.

In London und Umgebung scheinen mindestens zwei Werwölfe aufzutreten, und das Dynamische Duo Holmes & Watson kommt ihnen schnell auf die Schliche. Doch der Überfall auf das Domizil des Drahtziehers, der diese Kreaturen in die Welt gesetzt hat, gerät statt zu einem Actionhöhepunkt zu einem Fiasko: Fast alle Beweise werden vernichtet.

Dieser bedauerliche Umstand macht das Manuskript einer gewissen Mariloup Antrennewski aus Mexiko, das Watson in deplorablem Zustand zugespielt worden ist, umso aufschlussreicher und wertvoller. Die Absenderin weiß, dass Watson als Mediziner Verständnis für ihre missliche Lage aufbringen kann: Hypertrichose. Diese Blutkrankheit verursacht eine übermäßige Fellbehaarung des Menschen wie bei einem Tier. Kommen noch Deformationen des Mundes hinzu, sieht der Betroffene aus wie ein Wolfsmann, wie ihn etwa Lon Chaney jr. 1941 in dem gleichnamigen Film verkörperte. Die Legende vom Werwolf findet also eine ganz natürliche Erklärung.

Was aber nichts an den Verbrechen Antrennewskis ändert oder an dem Leid des Hypertrichose-Opfers. Deshalb folgen Holmes und Watson dem Verbrecher nach Wien. Dort zieht der Autor eine weitere Monsterlegende als Vorlage heran, um einen haarsträubenden Plot in Szene zu setzen. Nur so viel sei verraten: Antrennewski leidet selbst unter einer schweren Krankheit und baut als Vermächtnis den „idealen Menschen“ aus Einzelteilen zusammen.

Die Krönung dieser Schöpfung wäre aber nun die Einpflanzung des brillantesten Gehirns des ganzen Planeten. Leider ist dessen ahnungsloser Besitzer überzeugt davon, es noch zu benötigen. Doch diesem Irrtum kann man schnell abhelfen, wie Dr. med. John Hamish Watson schon bald feststellen muss: Er soll das Gehirn seines besten Freundes verpflanzen …

Der Showdown, der unvermeidlich auf diesen Konflikt folgen muss, wird vom Autor genüsslich in die Länge gezogen. Auf die Vorbereitungsphase folgt die Krise, die gleich zwei explosive Folgeszenen hat, eine in einem Stadtpalast, die andere in den Abwasserkanälen von Wien. Ich hatte schon eine weitere Schießerei in den Kanälen à la „Der dritte Mann“ erwartet, als die Verfolgungsjagd wg. Gewitter und Überflutung abgebrochen wird.

Eigentlich schade, dachte ich mir, das hätte noch eine Weile weitergehen können. Schließlich lassen andere Autoren wie etwa Graham Greene und Neil Gaiman ihre Romane ebenfalls weitgehend unter Tage spielen. Aber der Autor wollte wohl nicht in die Gefahr geraten, ein weiteres Klischee zu erfüllen. Denn mit den Legenden um den Werwolf und Frankensteins Ungeheuer hat er bereits zwei Steilvorlagen umgesetzt. Ob ihm dies originell genug gelungen ist, muss jeder Leser selbst beurteilen. Ich fand den Eigenanteil des Autors ausreichend hoch, um ihm Eigenständigkeit bescheinigen zu können.

|Schwächen|

Womit ich mehr Probleme hatte, ist das Beiwerk des Romans. Schon der Prolog aus dem Jahr 1929 ist ganz schön depressiv, was Watson und seine Zukunftsaussichten anbelangt. Was dieser Prolog mit der Haupthandlung, dem „Manuskript der Fälschung“, zu tun hat, wird überhaupt nicht erklärt. Diese Geschichte ist eben nur ein weiterer der „lost cases“ des Meisterdetektivs, die Watson in einem Banktresor verschlossen hat. Das ist akzeptabel, wenn auch wenig befriedigend für den Leser. Der kommt sich ein wenig veräppelt vor, eine „Fälschung“ lesen zu sollen.

Noch dazu nimmt sich diese Fälschung selbst gar nicht ernst. Das heißt, der Autor pfeift auf die Fiktion einer Fälschung – er hat sie ja selbst vorgenommen – und setzt fröhlich eine Fußnote nach der anderen, in denen er seine Mitwirkung mehr oder weniger stolz zugibt, rechtfertigt und belegt. Wäre es bei Belegen für die Realia geblieben, wie etwa Namen, Werke oder Erfindungen, so hätte die Fiktion des Manuskripts funktioniert. Doch der Autor verweist wiederholt auf eigene Werke wie etwa „Sherlock Holmes und das Reich des Cthulhu“.

|Postmodern|

Dass gegen Ende auch noch die Fiktion des James-Bond-Universums – Mycrofts Nachkomme wird einfach zu „M“ hochstilisiert – kreiert wird, setzt der postmodernen Konstruktion die Krone auf. Offensichtlich lässt sich im Holmes-Universum grenzenlos weiterfabulieren, und pfeif auf die Plausibilität!

Andere Autoren machen sich wenigstens die Mühe, ihre Geschichte in die wohlbekannte Biografie des Helden einzubauen (z. B. in „Sh. Holmes und die geheimnisvolle Wand“), doch Walters Watson braucht einfach nur in seinen Tresor zu greifen, um einen weiteren „lost case“ hervorzuzaubern. Das Karnickel aus dem Zylinder lässt schön grüßen.

|Watson|

Ich mag die Figur des Dr. John Hamish Watson sehr, denn sie verleiht der Holmes-Figur durch ihre Genussfreundlichkeit, ihren medizinischen Sachverstand und ihre Kriegserfahrungen aus Afghanistan (heute wieder sehr aktuell) eine Erdenschwere, die dem Freigeist Holmes völlig abgeht. Diesmal aber übertreibt es der Autor Walter mit dem Genuss. Watsons Völlerei (eine der sieben Todsünden der Bibel) ist geradezu abstoßend, gerade in der Caféhausszene vor seiner Entführung.

Man kann aus Höflichkeit zweimal zu Abend essen, okay, aber man muss sich nicht schon wieder am nächsten Tag den Bauch vollschlagen. Über den Umfang selbigen Bauches erfahren wir nichts, aber er dürfte beträchtlich sein und Watson in seinen Aktionen eher behindern als fördern. Das wiederum rückt Watson in die Nähe jener klischeehaften Verfilmungen mit Basil Rathbone und Peter Cushing, in denen er als tumber Hedonist auftritt. Ich finde, dass der Autor Walter seinem Co-Helden damit keinen Gefallen tut.

Auf dem Buchrücken ist übrigens J. J. Preyer als Autor dieses Buches genannt! Ist es also von A bis Z eine Fälschung?

_Unterm Strich_

Und deshalb habe ich den Roman mit gemischten Gefühlen gelesen. Die Ermittlungen gehen flott voran und erhalten durch Mariloups Manuskript eine tiefe, anrührend menschliche Dimension. Auch die Action kommt regelmäßig zu ihrem Recht, besonders in dem lang hinausgezogenen Wiener Finale. Zahlreiche neue Erfindungen jener Zeit um 1900 wie etwa industrielle Kühlung untermauern die historische Erdung des Geschehens.

Dass der Fall zur Entdeckung der vier Blutgruppen beiträgt, ist eine feine Konsequenz (an der Watson maßgeblichen Anteil hat). Blut, soviel wird klar, „ist ein ganz besond’rer Saft“, um mit Goethe zu sprechen. Schon die Lektüre von Bram Stokers Roman „Dracula“, erschienen 1897, schlägt das Generalthema an: Blut kann Segen, aber auch Fluch sein.

Es war die Aufgabe des Autors, die Klischees der Legenden „Dracula“, „Wolfsmann“ und „Frankensteins Ungeheuer“, die er zitiert, mit Leben zu erfüllen. Dieser Aufgabe entledigt er sich recht plausibel und glaubwürdig, auch wenn so mancher Leser schon ahnen dürfte, was als Nächstes kommt. Ich kam mir jedenfalls stellenweise in eine Wundertüte voller UNIVERSAL-Monsterfilme versetzt vor, wie sie zwischen 1931 und 1941 produziert wurden.

Dass der Autor ständig mit Holmes und anderen Klassikern der Kriminalliteratur (s. seine Biografie) zu tun hat, muss kein Nachteil sein, wie die detailreiche Handlung belegt. Doch diese Referenzen ständig in Fußnoten, die auf fast jeder Seite auftauchen, zu erwähnen, wirkt nach einer Weile nicht hilfreich, sondern selbstverliebt. Diese Fußnoten rufen laut: „Schaut her, wie viel ich weiß und was ich alles gelesen habe! Ist das nicht toll?!“ Nein, das ist nicht toll, sondern lenkt den Leser nur von der eigentlichen Geschichte ab. Und es gibt keine effektivere Methode, die eigene Fiktion zu zerstören, als alles darin zu erklären, als handle es sich um ein Lexikon.

Taschenbuch: 272 Seiten inkl. Leseprobe
ISBN-13: 978-3898403382
Blitz