García-Clairac, Santiago – unsichtbare Buch, Das

_Kein Märchen: das Entstehen des Buches beim Lesen_

Der zehnjährige César ist schlecht gelaunt – schon wieder hat er mit seiner Familie umziehen müssen. Bloß weil sein Vater Kinderbuchautor ist und nicht zwei Bücher in einer Stadt schreiben kann. In der neuen Schule setzt sich ausgerechnet Lucía neben ihn, die selbst Schriftstellerin werden will. Schlimmer hätte es ja wohl nicht kommen können, oder? Doch Lucía entpuppt sich als mutige Helferin, als César vom Schulrowdy Lorenzo getriezt und verprügelt wird.

Zum Dank gibt er Seiten von Papas neuestem Manuskript, das den Titel „Das unsichtbare Buch“ trägt und noch gar nicht gezeigt werden darf – niemandem! Lucía ist davon überaus begeistert. Und im Verlauf dieser verwickelten Diebstahl-und-Lese-Aktion beginnt sich Césars ablehnende Haltung gegen Bücher allmählich zu ändern – mit ungeahnten Folgen …

_Der Autor_

Vom spanischen Autor Santiago García-Clairac erschienen im Baumhaus-Verlag:

1) Die Schwarze Armee: „Das Reich der Träume“
2) Die Schwarze Armee: „Das Reich der Dunkelheit“
3) Die Schwarze Armee: „Das Reich des Lichts“

_Handlung_

Von der neuen Schule erwartet César Durango auch nichts Gutes. Er ist gerade mal eine Woche mit seiner Familie in der Stadt und kennt niemanden – und niemand kennt ihn. Es stinkt ihm inzwischen gewaltig, dass sein Vater, der Kinderbuchautor, sofort in eine andere Stadt umzieht, sobald er ein Buch fertiggestellt und veröffentlicht hat. Das brauche er für seine Inspiration, behauptet Papa. Und keiner in der vierköpfigen Familie wagt dagegen aufzumucken. Nur dass César dabei jedes Mal seine Freunde verliert. Er fühlt sich entwurzelt, wie ein Stück Treibholz. Inzwischen hasst César Bücher und alles, was damit zu tun hat. Aber das soll sich radikal ändern.

Da setzt sich eine neue Mitschülerin neben ihn, und mein Gott, ist die hässlich! Die riesige Brille auf ihrer Nase wirkt wie eine Maske, hinter der sie sich versteckt. Aber sie kriegt den Mund nicht zu, fragt ihm Löcher in den Bauch und stellt sich sogar selbst vor. Sie nennt sich Lucía und will Schriftstellerin werden. Ausgerechnet! Nach einer Weile seines mürrischen Schweigens merkt selbst diese Quasselstrippe, dass sie gefälligst verduften soll.

In der Pause geht César raus auf den Schulhof, um seine Ruhe zu haben. Doch die bleibt ihm verwehrt, denn der Schulrowdy Lorenzo hat es mit seinen Kumpanen auf den Neuen abgesehen. Wird der Neue aufmucken oder sich unterbuttern lassen und ihnen sein Taschengeld überlassen? Aber zu einem Kampf kommt es gar nicht, denn auf einmal stellt sich Lucía vor den friedfertigen César und keift die Rowdies an, bis diese Leine ziehen. Auf ein andermal, drohen sie. Der ältere Javier bringt César nach Hause; auch er hat sich geprügelt.

Um sich erkenntlich zu zeigen, bringt César die ersten Seiten von Papas neuem Manuskript mit und gibt sie Lucía zu lesen. Er hat ihr verraten, dass sein Vater Bücher schreibt. Und als er in einem unbeobachteten Moment den Drucker das Manuskript ausspucken sah, hat er einfach zugegriffen. Lucía ist hingerissen, denn die Geschichte handelt von einer Prinzessin Hanna, die ein unsichtbares Buch findet. Sie will unbedingt herausfinden, was in dem Buch steht und setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um den Ort zu finden, wo das geht: Dieser Ort, so stellt sich heraus, hat sehr viel Ähnlichkeit mit der Hölle …

Lucía will unbedingt erfahren, wie die Geschichte weitergeht. Doch Lorenzo macht ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Sie mögen sich selbst in den Heizungskeller der Schule zurückziehen – was streng verboten ist – er findet sie dennoch und verpetzt sie. Eine ernste Verwarnung vom Direx ist die Folge, der von der Geschichte kein Wort versteht. Was soll sie denn bedeuten, um Himmels willen? Hat man so etwas schon gehört? Ein Buch, das unsichtbar ist – welchen Sinn hat es denn?

Auch César war bisher der Meinung, dass nur Dinge, die man sehen kann, existieren. Aber Javier und Lucía belehren ihn eines Besseren. Denn Luciás Mut und ihre Neugier sind unübersehbar. Und deshalb will auch er jetzt den Rest der Geschichte erfahren. Bis sein Vater sie beide vor seinem Computer ertappt, wie sie sein Manuskript lesen …

_Mein Eindruck_

Der junge Leser mag sich fragen, ob Senor Durango wirklich Märchen erzählt. Unsichtbare Bücher – wie kann es die denn geben? Doch der Leser wird unerwartet mit einer tiefen Einsicht überrascht: Unsichtbare Bücher gibt es wirklich – überall! Und warum? Ganz einfach, weil ihr Inhalt erst dann sichtbar wird, wenn sie gelesen werden. Erst dann erwacht ein Buch quasi zum Leben: im Geist des Lesers.

Das sieht sogar ein Materialist wie César ein. Bis er zu dieser Erkenntnis gelangt, muss er allerdings einen weiten Weg der inneren Reifung zurücklegen. Denn am Anfang seines Weges sind Bücher ja seine Feinde, und er tut alles, um ihnen fernzubleiben. Als Lucía sagt, sie wolle Bücher schreiben, ist sie deshalb sofort bei ihm unten durch.

Doch Lucías Begeisterung wendet das Blatt ebenso wie ihr Mut im Kampf gegen Lorenzo. Nach einigem hin und her nimmt sie ihn mit auf das Abenteuer, das jedes Buch bereithält: die Entdeckungsreise. Und da Vaters Buch erst im Entstehen ist, gestaltet sich die Entdeckung mindestens so abenteuerlich und spannend wie jene Reise, auf die sich Prinzessin Hanna mit ihrem getreuen Sigfrido begibt. Wie Hanna wollen auch César und Lucía ein Geheimnis entdecken. Und dass das Spicken in ein Buch, das erst geschrieben wird, streng VERBOTEN ist, macht die ganze Sache des Entdeckens umso reizvoller.

Lucías Auftauchen in Césars Familie ändert vieles. Nicht nur César erscheint nicht mehr als Störenfried, sondern sie hat auch einen Draht zu seinem Vater – Schriftsteller quasi unter sich. Deshalb ist sie diejenige, die die Haltung von Senor Durango ändert, als er ihre „Untat“ entdeckt. Wie kann er ihnen böse sein, wenn sie neugierig auf den Schluss seines Buches sein? Na, bitte. Und (ganz) vielleicht wird Senor Durango fortan nicht mehr wegziehen, wenn er ein neues Buch schreiben will. Hoffen darf man ja. Aber dann ist da ja noch Lorenzo …

|Die Illustrationen|

Die Schrift ist so groß gedruckt (etwa 12 Punkt), dass sie sich selbst für Omas bestens zum Vorlesen eignet. Auch die Illustrationen, die Katherina Lindenblatt beigesteuert hat, sind kindgerecht: sehr einfache Motive, stets mit einem Kind oder zweien darauf. So ist die Zeichnung auf das Wesentliche reduziert, und es kann zu keinen Missverständnissen kommen. Das Niveau ist insgesamt selbst für Acht- oder Neunjährige kein Problem.

_Unterm Strich_

Das schmale Büchlein mit der großen Schrift nimmt den jungen Leser ab neun oder zehn Jahren mit auf das, was man beim Lesen am liebsten unternimmt: auf eine Entdeckungsreise. Die Reise setzt sowohl für die Figuren der Binnengeschichte als auch für die beiden Leser und Entdecker César und Lucía eine Entwicklung in Gang, die zur Reifung führt – und zu einer wichtigen Einsicht über die wahre Natur eines Buches: Es ist solange unsichtbar, wie es sich nicht im Geist eines Lesers befindet.

Das leuchtet mir völlig ein. Denn man kann nicht aufrichtig über ein Buch sprechen, solange man es nicht gelesen und erlebt hat. Erst dann erwacht es zum Leben. Ganz nebenbei erzählt der Autor eine Geschichte über das Verhältnis des Unsichtbaren zum Sichtbaren in der Welt und unserem Leben – und was für uns eigentlich wichtiger ist.

Solch ein lehrreiches Büchlein sollte man auch mehr Menschen in die Hand drücken. Oder es einfach zu Weihnachten an die Lieben verschenken. Oder solche, die es noch werden sollen.

|Taschenbuch: 143 Seiten
Originaltitel: El libro invisibile (1999)
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein
Iillustriert von Katherina Lindenblatt
ISBN-13: 978-3833935985|
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