Haubold, Frank – Kinder der Schattenstadt, Die

_Das Erbe des Bösen_

In einem verlassenen Schacht begegnet der zwölfjährige Fabian zum ersten Mal dem dunklen Vogel, einem geheimnisvollen Wesen aus dem Grenzland zwischen Leben und Tod. Entsetzt ergreift er die Flucht, doch das unheimliche Geschöpf verliert nie seine Spur. Unerbittlich konfrontiert es Fabian mit den Schattenseiten einer Welt, die mehr und mehr aus den Fugen gerät. Erst vierzig Jahre später offenbart ihm der dunkle Vogel sein grausames Geheimnis … (Info des Verlags)

Zur Leseprobe: http://www.frank-haubold.de/docs/leseprobe.pdf

Zum Video auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=YDaPHrjN-fw&feature=share (Achtung: sehr gruselig!)

_Der Autor_

Eigene Angaben: „Ich bin 56 Jahre alt und schreibe seit rund 20 Jahren überwiegend Kurzgeschichten und Erzählungen. Nach dem Abitur habe ich Informatik an der TU Dresden studiert und nach ein paar Jahren Berufspraxis an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert. Ich bin verheiratet und lebe mit meiner Frau in einem Dorf namens Waldsachsen nahe der Stadt Meerane auf halber Strecke zwischen Gera und Chemnitz.“

Über sein erstes Buch: „Mein erstes Buch „Am Ufer der Nacht“ handelt von einem jungen Mann namens Robert, der von unheimlichen Träumen heimgesucht wird. Erst nach und nach findet er heraus, daß sie einem bestimmten Muster folgen und ihn letztlich in die Lage versetzen, sich gemeinsam mit seinen Freunden einer drohenden Katastrophe entgegenzustellen.“ Dies war der Ausgangspunkt für „Die Kinder der Schattenstadt“.

Seinen Erzählband „Die Sternentänzerin“ habe ich rezensiert, und die Berichte finden sich im Netz.

_Handlung_

In den letzten Tagen des 2. Weltkriegs vereiteln ehrbewusste Wehrmachtssoldaten, dass eine Vernichtungswaffe Hitlers zum Einsatz kommt: „Thors Hammer“ soll per Rakete einen tödlichen Kampfstoff über deutschem Boden freisetzen und so Freund wie Feind töten. Das Tunnelsystem, in dem sich die Startanlage befindet, wird durch eine Explosion verschüttet. Doch etwas hat überlebt.

Ende der 60er Jahre tut sich in einer sächsischen Kleinstadt die Talstraßenbande zusammen: Fabian, der lange Henry, Damian Martens und andere suchen Abenteuer, im Wald und anderswo. Im Wald stoßen sie auf einen abgeschlossenen Schacht, in dessen Grund ein unheimliches Licht leuchtet.

Weil sie ihn einen fetten Feigling genannt haben, gibt Damian vor, allein in das Tunnelsystem einsteigen zu wollen. Als der „Dicke“ tagelang der Schule fernbleibt, entschließen sich die anderen, ihn zu suchen und Fabian steigt in den Schacht ein. Im Tunnelsystem trifft er auf einen riesigen Raubvogel und entkommt ihm mit knapper Not. Er ahnt nicht, dass ihn der Vogel vor etwas Schlimmem bewahrt hat. Weil Damian sie in die Irre geführt hat, verprügeln sie ihn, was er ihnen niemals verzeiht. Wenig später stirbt seine Großmutter unter mysteriösen Umständen…

Die Jahre gehen ins Land. Fabian verliebt sich in Lena, doch gerade als er am Ufer eines Waldsees mit ihr schlafen will, stürzt ein Raubvogel herab, um ein Kaninchen zu schlagen. Aus ist’s mit der trauten Zweisamkeit, und ihrer beider Lebenswege trennen sich. Fabian muss für 18 Monate zum Militär. Dort bekommt er es mit Typen wie Gronau zu tun, die Spaß daran haben, Schwule wie Conrad Weissenberg fertigzumachen. Am Tag nach einer Alkoholbeschaffungsaktion an Heiligabend wird Weissenbergs Leiche entdeckt. Selbstmord, heißt es, doch Jahre später wird Fabian eines Besseren belehrt.

Während sich Damian Martens mit Hilfe eines dunklen Wesens, seines „Schattenbruders“ Rico seiner Mutter und seines Stiefvaters entledigt und sich anschließend unrechtmäßig ein Vermögen aneignet, findet Fabian seine Bestimmung im Schreiben von Romanen – eine brotlose Kunst. Als nach der Wiedervereinigung ein westdeutscher Luftfahrtkonzern namens Aerotron, der Damian Martens gehört, auf dem ehemaligen russischen Flugplatz eine Fabrik errichtet, die ungewöhnlich scharf bewacht wird, beginnt sich Fabian für die Vorgänge zu interessieren. Er sieht den langen Henry wieder, der wenig später Fotos vom Inneren der Fabrik macht: Hier wird ein Tarnkappenbomber gefertigt!

Bei einem Klassentreffen entkommen Fabian und Lena um Haaresbreite einem Anschlag, weil sich wiederum ein Raubvogel einmischt. Doch Henry hat nicht soviel Glück: Er wird von Martens‘ Handlangern ermordet und auf einem Schrottplatz „entsorgt“, Martens bereitet indes den entscheidenden Einsatz seines Tarnkappenbombers vor.

Unterdessen erhält Fabian eine aufregende E-Mail aus den USA: Der Bruder des toten Conrad Weissenberg, David, bestreitet kategorisch, dass Conrad Selbstmord begangen habe; ihre Religionsgemeinschaft verbiete dies strengstens. Vielmehr verhalte es sich so, dass sich das Böse immer weiter ausbreite, und nur drei Auserwählte könnten ihm Einhalt gebieten: der Falke, der Träumer und die Löwin. Diese würden von den Hütern beschützt, Geistwesen in Raubvogelgestalt. Jetzt endlich ahnt Fabian, um was es geht: Ist er vielleicht der Träumer aus dieser Legende (oder was immer es ist)?

Wenige Tage später ist auch David Weissenberg tot, genau wie er es vorhergesehen hat. Gemäß seinen Anweisungen speichert Fabian den Mail-Anhang und löscht die Mail. Doch er rätselt, wie er den „Sendboten der Finsternis“ entgegentreten soll, sollte er wirklich einer der drei Auserwählten sein?

_Mein Eindruck_

Vierzehn Jahre hat der Autor an diesem Roman gearbeitet, will man seinen Angaben im Nachwort glauben. Ursprünglich 1997 unter dem Titel „Das Ufer der Nacht“ veröffentlicht, war das Buch ein Episodenroman. Und so mutet uns auch das Buch in seiner heutigen Form an. Immer wieder hat der Autor daran Szenen verändert, musste aber – zu unserem Glück einsehen – dass damit kein Erfolg zu erreichen war. Und so schrieb er wohl ganze Kapitel neu.

Das Endergebnis von 14 Jahren Arbeit kann sich durchaus sehen lassen, ist solide gebaut und erzählt, doch würde man ihm noch ein weiteres Jahrzehnt der Genese wünschen. So wechselt in einem frühen Kapitel eine der Figuren plötzlich ihren Namen von Lothar zu Roman und wieder zu Lothar. Auch die Geographie würde man sich deutlicher wünschen, denn eine Landkarte fehlt. Nur wenn vom „Totenwald“ oder „Hammerholz“ die Rede ist, ahnen wir, dass hier die Nazis ihre Tunnel gebaut – und gesprengt – haben.

|Aufstieg des Bösen|

So etwa wird der Aufstieg des „Dicken“ Damian Martens nur im Ansatz erzählt, sein restlicher Aufstieg zum unumschränkten Herrscher des Bösen in Europa wird lediglich im Spiegel der Begegnungen mit ihm sichtbar. Er ist ein Besessener, und wir müssen wohl annehmen, dass der böse Geist „Riccardo“, der ihn lenkt wie ein zweites Bewusstsein, die Zerstörung der Welt im Sinn hat. Der Bürgerkrieg in Russland und der Krieg im Nahen Osten sind nur ein Anfang, die Schutzkuppel über Europa erweist sich als zweischneidiges Schwert – als Gefängnis nämlich.

|Das Team der Guten|

Der böse Geist, der in Damian gefahren ist, hat jedoch einen Widersacher, einen Hüter, der den Werdegang seiner Schützlinge lenkt und behütet. Seine Gestalt ist die eines Raubvogels, und Fabian begegnet ihm ebenfalls in dem unterirdischen Tunnelsystem. Gut gegen Böse – diese Konstellation tritt uns in jedem besseren Horror-Roman, der nicht auf Splattereffekte aus ist, entgegen.

Merkwürdig ist lediglich, dass Fabian, Lena und Martin, die den Inkarnationen „Falke, Löwin und Träumer“ entsprechen, weder selbst über ihre Rolle reflektieren, noch sich, wie jeder vernünftige Mensch es täte, untereinander darüber unterhalten. Bevor sie sich zum Showdown mit Damian begeben, scheinen daher die Figuren mehr dem Willen ihres Schöpfers zu gehorchen als einem inneren Drang. Wollen sie Europa befreien? Nein. Wollen sie dem Guten zum Sieg verhelfen, dem drohenden Grauen Einhalt gebieten? Auch nicht, denn nun, nachdem sie alles verloren haben, wollen sie lediglich dem Spuk ein Ende bereiten; dem Spuk, den Damians Aerotron AG über sie und ihre Heimat gebracht hat. Dafür sind sie bereit, ihr Leben zu geben. Ein Himmelfahrtskommando also.

|Geschichte und Generation|

Wer nun an Stephen Kings Horror-Klassiker „Es“ denkt, liegt nicht verkehrt. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte, zwischen den beiden Generationen liegen vierzig Jahre (wie der Klappentext suggeriert). Es könnte Zufall sein, aber genauso lange hatte auch die Deutsche Demokratische Republik Bestand. Wir haben es also nicht nur mit einem Horror-Roman zu tun, sondern auch mit einem alternativen Geschichtsverlauf.

Thema ist europäische und spezifisch deutsche Geschichte aus dem Blickwinkel der DDR-Bevölkerung, was bei einem Autor aus Ostdeutschland sicherlich nicht verwundert. Damit kennt er sich aus. Genau berichtet er von den Zuständen in der Nationalen Volksarmee, lässt aber das Spitzelwesen der Stasi ziemlich außer Acht. Dass Republikflucht jedoch in Sippenbestrafung resultierte, ist nur ein Aspekt des Stasi-Staats, der erwähnt wird. Damian wächst in Westdeutschland auf – und begeht doch seine erste (?) Mordtat.

|Nazi-Erbe|

Das giftige Erbe der Nazis bildet den Anfang und das Finale des Romans. Damian hat die kampfstoffbeladenen Raketen von „Thors Hammer“ reaktiviert und will die tödliche Waffe endlich auf Europa loslassen. So schließt sich der Kreis. Die symbolische Bedeutung kann dem Leser nicht verborgen bleiben: Das Nazi-Erbe wurde in der DDR offensichtlich nur begraben statt aufgearbeitet.

|Epilog|

Das Finale ist noch nicht der Schluss des Romans. Der Epilog spielt in einer Post-Holocaust-Epoche etliche Jahre danach. Doch die Raketen der Vorzeit sind immer noch aktiv. Und wer weiß, was noch über kommende Generationen kommen kann. Eine Nachfahrin Lena Kronbergs, der „Löwin“, hat keinen wissenschaftlichen Begriff mehr für die „bösen Geister und Dämonen“ der Vergangenheit, die allenthalben im Boden zu finden sind – eine Reflexion der Urszene, die Fabian und Damian in den Nazitunneln erleben.

_Unterm Strich_

Der Roman erzählt den 40 Jahre dauernden Kampf von Menschen, die einst einer Kinderbande in Sachsen angehörten, gegen den Abtrünnigen, den sie zu Beginn, in den sechziger Jahren, verprügelten und aus ihrem Kreis ausstießen. Er rächt sich furchtbar, indem er einen von ihnen nach dem anderen umbringen lässt. Doch sein besessener Racheplan reicht viel weiter: Er hat die Vernichtung des Abendlandes und der Welt mit Hilfe arabischer Terroristen im Sinn. Wissentlich oder nicht, erfüllt er damit den letzten Willen der Nazis aus den letzten Tages des Zweiten Weltkriegs. Es ist kein Zufall, dass sich Damian, der Rächer, mit islamistischen Terroristen und Killern zusammengetan hat.

„Kinder der Schattenstadt“ ist sowohl Horrorroman als auch alternativer Geschichtsverlauf, ein Generationenroman wie auch eine pazifistische Warnung vor dem Holocaust, zu dem die Menschheit in der Lage ist. Der Autor hat auf viel Realismus geachtet, deshalb findet man wenig Mystik darin. Das wiederum macht Fabians Visionen vom Wächter, der ihn warnt, umso auffälliger.

Der Haken ist, dass Fabian diese Ebene verdrängt als sie in sein Leben zu integrieren. Er wird keineswegs ein kauziger Seher, sondern bleibt einer der „Stillen im Lande“, ein Beobachter, wenn auch ein Erzählender. Schön ist, dass er in der Thai-Boxerin Sirien eine liebende Beschützerin findet. So können ihn Damians Schergen nicht erreichen. Aber warum spricht er nicht mit ihr über den Wächter und die Rolle, die ihm dadurch zugewiesen worden ist?

Fabians verhinderte Liebesgeschichte mit Lena Kronberg lässt sich gut an, wird aber spektakulär abgebrochen. Erst kurz vorm Finale gönnt ihnen ihr Schöpfer eine Liebesnacht im Biwak, um vor dem Showdown Abschied zu nehmen. Das ist alles andere als romantisch. Und Lenas Abgang ist alles andere als heroisch, sondern eher banal.

Die Wünsche des Lesers, die Hauptfiguren zu Helden zu stilisieren, werden also alle abgeblockt. Das mag gut für die Glaubwürdigkeit sein, mindert aber den Unterhaltungswert beträchtlich. Die Action im Showdown ist klasse geschildert und führt auch zum verdienten Erfolg, aber man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass sie lediglich dazu dient, dem Ganzen endlich den ersehnten Abschluss zu verleihen.

Noch ein wenig mehr Arbeit, und aus diesem Roman wäre eine homogenere Geschichte geworden, die durch mehr Tiefgang größeren Eindruck hinterlassen würde. Aber nach 14 Jahren musste ja wohl mal Schluss sein.

|Taschenbuch: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3898400121|
[www.blitz-verlag.de]http://www.blitz-verlag.de

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