Link, Charlotte – fremde Gast, Der

Auch ein Jahr nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Mannes hat Rebecca Brandt den Verlust noch nicht überwunden. Einsam und zurückgezogen lebt die attraktive Frau Anfang vierzig in ihrem Ferienhaus in Südfrankreich. Während sie früher aktiv am Leben teilnahm und mit großem Einsatz eine Kinderschutzorganisation leitete, ergeht sie sich nun in Depressionen. An einem Julimorgen beschließt sie, sich das Leben zu nehmen. Doch genau an dem Tag treffen unerwartete Besucher ein. Maximilian Kemper, der beste Freund ihres verstorbenen Mannes, hat beschlossen, aus Deutschland vorbeizukommen. Dabei hat er zwei Tramper mitgenommen, deren Weg in die gleiche Richtung führte. Inga und Marius sind ein junges Ehepaar auf Abenteuerurlaub. Da Inga sich von den Strapazen erholen muss, gestattet Rebecca den beiden, für ein paar Tage zu bleiben. Auf Maximilians Vorschlag hin überlässt sie ihnen ihr Segelboot für einen Ausflug übers Mittelmeer.

Der Segeltörn endet jedoch in einer Katastrophe. Das Ehepaar gerät in einen Sturm, Marius verliert die Nerven, stößt unklare Drohungen gegen Rebecca aus, bedroht seine Frau und geht über Bord. Nur mit größter Mühe gelingt es der verletzten Inga, das Segelboot zurück in den Hafen zu steuern. Von Marius fehlt jede Spur. Genauso unklar ist, was ihn zu seiner plötzlichen Agressivität veranlasste und was er gegen Rebecca hat. Weder sie noch Inga haben eine Ahnung, warum Marius ihr feinselig gegenübersteht und ob er überhaupt noch lebt. Langsam ahnt Inga, dass das Geheimnis ihres Mannes mit seiner dunklen Vergangenheit zusammenhängen muss …

In Deutschland ereignet sich währenddessen ein brutales Verbrechen. Nachdem die junge Karen sich tagelang darüber wundert, dass ihre Nachbarn überraschend verreist zu sein scheinen, findet sie die beiden in ihrem Haus ermordet auf. Das ältere Ehepaar wurde tagelang gefangen gehalten und zu Tode gefoltert, vom Täter fehlt jede Spur. Parallel dazu erhalten drei junge Frauen anonyme Drohbriefe, die sich auf ihre frühere Arbeit bei Kinderschutzorganisationen beziehen. Irgendjemand fühlt sich offenbar unrecht behandelt. Die Polizei tappt im Dunkeln, während der Täter die Hauptfigur seiner Aktionen ins Visier nimmt: Rebecca …

Bereits die Inhaltsangabe des Romans lässt gewisse Parallelen zu ihren anderen Spannungsromanen, allen voran „Die Täuschung“ erkennen: Ein Ehepaar mit dunklen Geheimnissen, eine verschleierte Vergangenheit, verunsicherte junge Frauen, parallele Handlungen in Deutschland und Frankreich, ein abgelegenes Ferienhaus als Schauplatz. Aus diesen Zutaten würfelt Erfolgsautorin Charlotte Link einen soliden Thriller zusammen, der bis zum Schluss gut zu unterhalten weiß, wenn man von ein paar kleinen Unschönheiten absieht.

|Drei Frauen, drei Handlungsstränge|

Wie so oft in ihren Werken lässt Link auch hier verschiedene Handlungen parallel zueinander ablaufen, deren Wege sich am Ende überschneiden. Der Hauptaugenmerk liegt auf den Erlebnissen von Rebecca Brandt und dem Ehepaar Marius und Inga im südlichen Frankreich. Zunächst deutet nichts auf kriminelle Vorfälle hin; Rebecca ist eine depressive Frau, deren Leben durch das plötzliche Auftauchen des jungen Ehepaares eine unerwartete Wendung erfährt. Erst nach und nach kristallisiert sich heraus, dass es hier um mehr geht als den Aufschub ihres Selbstmordes und dass das Zusammentreffen nicht so zufällig ist, wie es den Anschein hat …

Sehr viel unheilvoller erscheinen die beiden anderen Handlungsstränge in Deutschland. Die schüchterne Hausfrau Karen ahnt bereits früh, dass ihre Nachbarn nicht einfach heimlich verreist sind. Ihr ansonsten gut erzogener Hund bellt das scheinbar verlassene Haus an, die heruntergezogenen Rollläden bewegen sich ab und zu, der Briefkasten quillt über, die Blumen vertrocknen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Karen die Leichen des Ehepaares findet und die Polizei ihre Ermittlungen aufnimmt. Ähnlich sieht es mit dem dritten Handlungsstrang aus, in dem die ehemaligen Mitarbeiterinnen einer Kinderschutzorganisation wochenlang mit Drohbriefen terrorisiert werden.

Charlotte Link erschafft keine makellosen Heldinnen, dafür aber Fauen, mit denen sich die Leserin leicht zu identifizieren weiß. Da ist zum einen Rebecca, die sympathische Frau, deren Verlust ihres Mannes sie in eine Depression getrieben hat. In kleinen Gesten des Alltags bekommt der Leser vorgeführt, wie diese einstmals so starke und aktive Frau ihr Leben nur noch an der Oberfläche führt und innerlich schon lange gestorben ist. Es braucht nicht vieler Worte, um den Leser die stille Trauer, in die Rebecca versunken ist, spüren zu lassen.

Noch stärker als der vermeintlichen Hauptperson Rebecca fühlt man sich jedoch Karen verbunden. Karen ist eine durchschnittliche Hausfrau mit zwei Kindern und einem berufstätigem Mann, deren Leben hinter der Oberfläche aus einem Scherbenhaufen besteht. Ihre wachsende Unsicherheit verwandelt sie regelmäßig in ein schüchternes Häuflein Elend, das sich vor jedem Konflikt fürchtet und bei einfachsten Anlässen den Tränen nah ist. Der Hauptanlass dafür ist ihr ständig gereizter Ehemann Wolf, der seine Frau als hysterisch bezeichnet und jeder ihrer vorsichtig geäußerten Kritik mit Zynismus begegnet.

Die bodenständigste Figur ist die junge Inga, mit der sich wohl jede Leserin identifizieren kann. Sie ist der ruhende Pol in der Ehe mit dem sprunghaften Marius, dessen spontaner Abenteuerurlaub nach Südfrankreich nur eine von vielen ungeplanten Aktivitäten ist, in die Inga notgedrungen mit hineingerissen wird. Diesmal jedoch muss Inga erkennen, dass die immer wieder aufblitzende Unzuverlässigkeit und Ungeduld ihres Mannes eine weit tiefere Bedeutung besitzt als angenommen. Seine dunkle Vergangenheit holt nicht nur ihn, sondern auch seine Frau ein, die gemeinsam mit Rebcca um ihr Leben kämpfen muss …

|Nicht nur Thriller, sondern auch Drama|

Der Fokus des Romans liegt unzweifelhaft auf seinem Thrillerwesen und der Frage nach dem Mörder und seinen Motiven. Dennoch ist die Wirkung dann am größten, wenn sich Charlotte Link auf die psychodramatischen Elemente konzentriert, was vor allem die Beziehungen zwischen Inga und Marius sowies Karen und Wolf betrifft. In beiden Fällen müssen zwei Ehefrauen realisieren, dass ihre Ehen gescheitert sind. Während für Inga die Vergangenheit ihres Mannes tödliche Gefahr bedeutet, geht es für Karen „nur“ darum, endlich wieder zu einem selbstbewussten Leben zurückzukehren. Sie ist ein Musterbeispiel für die unzähligen Frauen, deren Ehemännern jeden Widerstand im Keim ersticken und jeden berechtigten Vorwurf wie eine haltlose Nörgelei aussehen lassen. Für jede seiner Launen müssen seine Arbeit und sein Stress herhalten, so dass Karen nicht wagt, weiter vorzustoßen. Als Leser fühlt man schmerzlich, wie alles, was sie versucht, im Endeffekt gegen sie verwendet wird, so dass man nur zu gut versteht, dass sie sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurückzieht. Ironischerweise wird gerade der Mord an ihren Nachbarn zu dem notwendigen Schockerlebnis, das sie endlich aus ihrer Lethargie reißt und ihr den Mut gibt, sich ihrem Mann zu widersetzen.

Gleichzeitig wirft der Roman die Frage auf, wie viel Zivilcourage man in der heutigen Zeit aufbringen sollte. Mehrere Personen müssen sich im Verlauf der Handlung den bitteren Vorwurf machen, dass sie durch ihre Passivität einen Menschen ins Unglück getrieben haben. Handeln statt wegsehen, engagieren statt zurücklehnen, lautet die sanfte Mahnung zwischen den Zeilen, der sich wegen ihres Wahrheitscharakters weder die Romanfiguren noch der Leser ganz zu entziehen vermögen.

|Übertrieben konstruierter Schluss|

Die überraschenden Wendungen halten den Leser bis zum Schluss in Atem, doch leider sorgen übertriebene Zufälle dafür, dass dieser Spannungsgenuss geschmälert wird. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, ist es vor allem ärgerlich, wie leicht es einem designierten Opfer gelingt, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Ein anderes Mal sorgt ein gefundenes Handy dafür, dass in letzter Minute Rettung verständigt werden kann. Zu guter Letzt begeht der Mörder einen der klischeehaftesten Fehler überhaupt, indem er sein Opfer nicht direkt tötet, sondern sich erst noch reichlich Zeit für Erklärungen und Ausführungen nimmt. Da all diese Zufälle zusammengenommen sehr entscheidend für den Ausgang des Romans sind, bleibt am Ende ein fader Beigeschmack, dass es der Autorin nicht gelungen ist, einen realistischeren Ausgang zu kreieren, der nicht von Konstrukten, sondern von den Handlungen der Figuren lebt.

|Flüssiger Stil|

Umso erfreulicher präsentiert sich die einfache und ungekünstelte Sprache, die keine weiteren Anforderungen an den Leser stellt. Charlotte Link verwendet einen sehr flüssigen Stil, der es möglich macht, das Buch innerhalb weniger Tage herunterzulesen. Da keine großartige Konzentration gefordert ist und auch die Handlung keine weiteres Nachdenken braucht, eignet sich dieser Thriller wunderbar zum Nebenherschmökern im Urlaub, auf Zugfahrten oder in Wartezimmern. Es gelingt der Autorin mühelos, die drei Handlungsebenen so übersichtlich zu gestalten, dass der Leser trotz der verschiedenen Schauplätze nie durcheinander gerät. Bei einer etwaigen Lesepause findet man sofort wieder den Anschluss, obwohl das Buch eher dazu reizt, in einem Rutsch gelesen zu werden. Trotz der fast 500 Seiten Umfang lässt sich der Roman aufgrund seiner zügigen Schreibweise und der durchgehenden Spannung locker in zwei bis drei Tagen verschlingen.

_Insgesamt_ erwartet den Leser ein solider Psychothriller, der sich trotz seines Umfangs sehr rasch durchlesen lässt und keine besondere Konzentration erfordert. Während die Thrillerhandlung durch ein paar konstruierte Unglaubwürdigkeiten, vor allem gegen Ende, geschmälert wird, überzeugt vor allem der psychodramatische Teil, der sich mit der Frage nach der Unterlassungsschuld befasst. Kein herausragender, aber dennoch empfehlenswerter Unterhaltungsroman für alle Freunde der Spannungsliteratur.

_Charlotte Link_, Jahrgang 1963, gehört zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen der Gegenwart. Fast alle ihre Bücher wurden zu Bestsellern. Ihre Spezialgebiete sind historische Romane sowie Psychothriller. Zu ihren bekanntesten Werken zählen: „Das Haus der Schwestern“, „Verbotene Wege“, „Die Sünde der Engel“ und die Sturmzeit-Trilogie („Sturmzeit“, „Wilde Lupinen“, „Die Stunde der Erben“). Mehrere ihrer Bücher wurden fürs Fernsehen verfilmt.

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