Tandefelt, Henrik – Lauf, Helin, lauf!

„Nicht noch ein skandinavischer Krimiautor!“ möchte man zunächst stöhnen, wenn man den Namen des in Helsinki geborenen Henrik Tandefelt liest. Obwohl in Finnland geboren, spielt sein Krimi „Lauf, Helin, lauf!“ in Schweden, genauer gesagt in Småland. Der Fotograf Josef Friedmann und das Ehepaar Lindström befinden sich gerade dort, weil das Ehepaar ein Ferienhaus gekauft hat, das renoviert werden muss.

Eines Tages findet man im Kanal der Kleinstadt Ekemåla eine stark verweste Leiche in einem Abwasserkanal. Zur gleichen Zeit meldet der Lehrer und Bekannte der Lindströms, Arvid Lönnholm, dass eine seiner Schülerinnen verschwunden ist. Die Kurdin Helin ist seit dem Türkeiurlaub mit ihrer Mutter weder in der Schule noch in ihrer Wohnung gesehen worden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Leiche im Kanal und Helin?

Lindström, der sich für die Renovierungsarbeiten Urlaub genommen hat, wird von seinem Chef gebeten, der örtlichen Polizei zur Seite zu stehen. Bereits kurze Zeit später meldet sich ein Albaner, der behauptet, der Mörder der unidentifizierbaren Toten zu sein. Angeblich handelt es sich dabei um die Jahrmarktswahrsagerin Serafina, die der Albaner in den Kanal geschubst haben möchte, weil sie seinen Heiratsantrag nicht angenommen hat.

Die örtliche Polizei glaubt, dass der Mann der Täter ist, auch wenn er bei einem Unfall stirbt, bevor er ordentlich verhört worden ist. Die Ermittlungen werden eingestellt, doch Lindström, seine Frau Ingbritt und Josef Friedmann wollen das nicht glauben. Auf eigene Faust gehen sie der Sache nach …

Die Handlung an und für sich ist weder wirklich aufregend noch wirklich neu. Doch die Art und Weise, wie die vielen verschiedenen Erzählstränge verflochten sind, ist geradezu faszinierend.

Tandefelt legt der Geschichte eine hohe Erzähldichte zugrunde, die mit detaillierten, aber nicht ausschweifenden Situationsbeschreibungen und Dialogen aufwartet. Der Finne schreibt bildhaft, meist mit wenig Emotionen, dafür aber mit einem guten Auge für kleine Besonderheiten. Der dezent eingesetzte trockene Humor sorgt immer wieder für Glanzpunkte in der sehr authentischen Erzählung mit einer starken Konzentration auf Dialoge beziehungsweise innere Monologe.

Josef Friedmanns ist die einzige Perspektive, die in der ersten Person erzählt. Er gefällt durch seine sehr persönliche Art, seine Selbstironie und die Neigung, sich selbst nicht immer ganz ernst zu nehmen. Die anderen erzählen in der dritten Person. Dass Tandefelt die Perspektiven zumeist ohne Absätze ineinanderfließen lässt, ist anfangs etwas gewöhnungsbedürftig. Gleiches gilt für die verkürzten Sätze, die Josef benutzt und die manchmal etwas holprig klingen. Die Wahl des Präsens als Erzähltempo ist auch nicht immer ganz unkompliziert, doch aufgrund Tandefelts Selbstsicherheit, seiner cleveren Wortwahl und der atmosphärischen Dichte kann man darüber hinwegschauen.

Worüber man keineswegs hinwegsehen sollte, ist die Handlung. Die unterschiedlichen Fälle sind gut miteinander vereinbart und laufen am Ende alle zusammen. Die Zusammenführung funktioniert reibungslos und sorgt für ordentlich Spannung. Der Leser, der die unterschiedlichen Perspektiven kennt, weiß mehr als die Figuren. Er durchblickt dadurch viel schneller das Geflecht aus Zufällen und Geheimnissen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist Helins Perspektive. Sie verläuft gegenläufig zum Rest des Buches und erzeugt durch das abweichende Erzähltempus – die Vergangenheit – starke Spannung. Wieso erzählt Helin im Perfekt? Ist ihr etwas passiert? Tandefelt lässt den Leser lange im Ungewissen über die wahren Umstände, und das gefällt.

Am Schluss bleibt noch eine Frage: Gibt es für Henrik Tandefelt eine Möglichkeit, dem „Nicht noch ein skandinavischer Krimiautor!“-Ausruf zu entkommen? Ja, die gibt es, denn „Lauf, Helin, lauf!“ hat bis auf die Kulisse und die hohe Qualität nicht besonders viel mit dem üblichen Schwedenklischee zu tun. Das, was die |Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln| in einer Kritik als „ironisch-amüsanten Stil“ beschreibt, sorgt für wohltuende Frische. Von der gängigen skandinavischen Schwermut merkt man wenig in Tandefelts Krimi. Stattdessen verlässt er sich auf eine atmosphärische Erzähldichte, die kunstvolle Anordnung der verschiedenen Handlungsstränge und das geschickte Erzeugen von Spannung.

http://www.dtv.de

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