Rudyard Kipling – Das Zeichen der Bestie (Gruselkabinett Folge 142)

Unheimliches Indien: Bestrafung und Erlösung eines Frevlers

Indien, Jahreswechsel 1889/1890: Fleete, der sich wenig um Indien und die Inder schert, betrinkt sich in Begleitung seiner beiden Freunde am Silvester-Abend und schändet in einem Tempel das Standbild des Affengottes Hanuman. ((https://de.wikipedia.org/wiki/Hanuman)) Das hätte er besser nicht getan… (Verlagsinfo).

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Rudyard Kipling (1865-1936) war 1907 der erste Brite, der den Literaturnobelpreis erhielt. Kipling wurde als inoffizieller Hofdichter angesehen. 1901 veröffentlichte er mit dem Roman „Kim“ sein Meisterwerk. Am bekanntesten wurde er jedoch mit seinen „Dschungelbüchern“. Sein ganzes Werk ist durchzogen von Geschichten mit fantastischen, übernatürlichen und sogar Science-Fiction-Elementen und –Motiven.
Mehr Info: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudyard_Kipling

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Thomas Balou Martin: Kipling, der Erzähler
Rolf Berg: Polizist Strickland
Claus Thull-Emden: Fleete
Sascha von Zambelly: Dr. Dumoise
Peter Weis: Aussätziger
Horst Naumann: indischer Priester

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden im Titania Medien Studio statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

An Silvester 1899 wollen drei in Indien weilende Briten feiern. Der Farmer Kipling erzählt, dass der Polizist Strickland einen im Himalaja stationierten Jugendfreund namens Fleete eingeladen hat, mit ihnen ordentlich einen draufzumachen. Es wird ein feuchtfröhlicher Abend, der jedoch auf unerwartete Weise endet.

Frevel

Nach durchzechter Nacht führen Kipling und Strickland den Soldaten heim, doch als sie an einem Tempel vorbeikommen, der Hanuman geweiht ist, besteht Fleete darauf, dem Affengott seine Reverenz zu erweisen, indem hier seine volle Blase erleichtert. Weil es so aussieht, als wäre niemand in der Nähe, erheben seine Kameraden keine Einwände. Aber sie können nicht verhindern, was Fleete als nächstes wagt: Er besteigt die Statue des Affengottes und beschert ihr ein Brandmal als drittes Augen. „Voilà, das Zeichen der Bestie“, grölt Fleete.

Kipling ahnt Schlimmes, doch es ist zu spät: Ein Priester ruft die Gläubigen zusammen, um gegen den Frevler vorzugehen. Unter diesen befindet sich ein leprakranker Aussätziger, dem es gelingt, den herabgestiegenen Frevler zu berühren. Unter den Drohungen des Priesters machen sich die Briten vom Acker. Auf dem weiteren Weg hat Fleete einen Hustenanfall und faselt etwas von Blut, doch gleich darauf wirft er sich ins Bett.

Transformation

Kipling erwacht aus seinem Rausch erst um 13 Uhr, nämlich durch Strickland, der ihn rüttelt. „Fleete hat sich verändert!“, ruft er aufgeregt. Tatsächlich: Der Zechbruder verlangt ständig nach blutigem Fleisch, je blutiger, desto besser, und er schlingt es nur so hinunter. Auf seiner Brust prangt ein roter Fleck, der aussieht wie ein Brandmal. Vor dem geplanten Ausritt scheuen die Pferde im Stall. Zuerst denkt Strickland an den Aussätzigen, aber nein: Die Pferde haben Angst vor Fleete.

Verflucht

Wenige Stunden begrüßt Fleete die beiden Reiter mit Knurren und Schnuppern, wobei er sich auf allen Vieren bewegt. „Ah, der Duft der Erde!“, jubiliert er. Vor Licht jeder Art hat er jedoch Scheu und vermeidet es um jeden Preis. Mehr Koteletts werden verschlungen, und als schließlich Fleete zu jaulen und heulen beginnt, ist der Fall klar wie Kloßbrühe: Fleete hat die Tollwut.

Kipling gerät in Panik und ist bereit, Fleete zu erschießen. Strickland besteht darauf, Doktor Dumoise zu holen. Doch als dieser endlich eintrifft und ebenfalls Tollwut diagnostiziert, sieht Strickland nur noch einen Ausweg: Sie müssen den Aussätzigen finden und dazu bringen, den Fluch, der offenkundig auf Fleete liegt, aufzuheben. Klappt auch das nicht, müssen sie Fleete wohl erschießen…

Mein Eindruck

Fleete, der Neuling in Indien, hat gegen die elementare Hierarchie der Wesen verstoßen. Ganz unten stehen die Tiere (und Sklaven), in der Mitte die Menschen, ganz oben die Götter. Indem er also den Gott Hanuman durch das Zeichen der Bestie und sein tierisches Verhalten (Pinkeln) zu einem Tier degradiert hat, stellte er die natürliche Ordnung auf den Kopf. Für diesen Frevel muss Fleete büßen.

Der Vermittler dieser Strafe ist der Aussätzige. Der Leprakranke steht offenbar in Indien wie an zahlreichen anderen Orten (man denke nur an Judäa in „Ben Hur“) buchstäblich außerhalb der Gesellschaft und somit außerhalb der natürlichen Ordnung. Hier fungiert der Aussätzige als Agent der Götter. Kaum hat er Fleete berührt, als dieser sich bereits verändert. Der Husten ist erst der Anfang.

Der Frevler wird zum Tier. Welches dies ist, wird zwar nie gesagt, aber welcher Vierbeiner ist in der Lage, Pferde zu ängstigen und Tollwut zu bekommen? Ich tippe mal auf einen Wolf. Bezeichnend für Fleetes verfluchten Zustand ist die Vorliebe für frisches Blut und den „Duft der Erde“ (worunter wohl auch allerlei Ausscheidungen fallen dürften). Kurzum: Von Menschlichkeit keine Spur mehr. Die Angst der Pferde, die Naturwesen im Stande der Unschuld darstellen, ist Kommentar genug: Dieses Tier ist keines aus ihrer Gemeinschaft, sondern ein Feind.

Was tun, fragen sich Kipling und Strickland. Wegen der Tollwut ziehen sie Handschuhe an. Wenn er Fleete erschießen soll, glüht Kipling rätselhafterweise den Lauf seines Gewehrs vor, als wäre es in Indien noch nicht heiß genug. Sicherlich wird es durch die reinigenden Flammen desinfiziert, soviel steht fest.

Dass die Erlösung Fleetes nur durch den Agenten der Götter erfolgen kann, dürfte einleuchten. Die Magie des Fluchs funktioniert jetzt in umgekehrte Richtung: Was herunterkam, muss wieder zurück. Bezeichnend ist, dass sich der heilende Aussätzige auf das Zeichen der Bestie konzentriert, das auf Fleetes Brust prangt. Verschwindet es, wird der Fluch aufgehoben. Dass in dieser Geschichte überhaupt ein Leprakranker auftaucht, ist bemerkenswert, denn in Europa kennt man diese Krankheit im 19. Jahrhundert nur noch an sehr entlegenen Orten – in Indien scheinen sie allgegenwärtig und geduldet zu sein.

Nachdem sich Fleetes Freunde bei den Indern entschuldigt haben, was für Kolonialherren generell sehr ungewöhnlich ist, verwandelt sich Fleetes wieder in einen Menschen, nicht körperlich, wohl aber seelisch. Zu den komischen Effekten seiner „Wiederauferstehung“ gehören diverse Abscheureaktionen gegen blutiges Fleisch, „duftende“ Erde und alkoholische Getränke.

Denn schuld an Fleetes anfänglicher Tierhaftigkeit kann ja nur der Teufel Alkohol gewesen sein, suggeriert der Autor. Dieser Teufel hat sein Opfer nicht nur zwei Tage seines Lebens gekostet, sondern auch um ein Haar das Leben – von der Hand seiner vermeintlichen Kameraden. Merke: Ein auf den Hund gekommener Mensch ist nicht mehr wert als ein Hund – und hat somit ebenso wenig Wert für die natürliche Ordnung der Wesen (siehe oben).

Die Moral von der Geschicht, die Kipling immer wieder in seinen Erzählungen verbreitet: Wer fremden Göttern und ihren Anhängern keine Achtung entgegenbringt, ist selbst nichts wert. In Zeiten der zunehmenden Migration und der problematischen Integration der Migranten erscheint diese Botschaft aktueller denn je.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Thomas Balou Martin spricht den ziemlich vernünftig und ausgeglichen klingenden Erzähler Kipling. Doch der Polizist Strickland, gesprochen von Rolf Berg, klingt schon weit emotionaler. Die maximale Steigerung an Emotionalität wird von Fleete verkörpert, den Claus Thull-Emden offenbar mit größtem Genuss und voller Verve darstellt. Es macht ihm hörbar großen Spaß, zu knurren, zu heulen und zu schnüffeln.

Sascha von Zambelly spricht den zaghaften Dr. Dumoise und Horst Naumann den indischen Priester. Das ist ebenso eine Mini-Rolle wie die des Aussätzigen, den Peter Weis nicht spricht, sondern murmelt und brummelt – Worte kommen nicht aus diesem leprazerfressenen Mund. Frauenfiguren tauchen überhaupt nicht auf.

Geräusche

Eine große Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Diesmal sind es keine Teetassen und Standuhren, die für Authentizität sorgen, sondern zahlreiche Geräusche der Außenwelt: Dschungellaute, Pferdewiehern, Hundeknurren, ferne Glockenschläge und, wie immer, knisterndes Kaminfeuer. All diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Die Musik

Orientalische Klänge versetzen den Hörer sogleich nach Fernost, und im weiteren Verlauf wird die Hintergrundmusik von orientalischen Instrumenten wie etwa Tabla-Trommeln bestimmt. Insbesondere im langen Outro sind das Orchester und der Chor durch orientalische Klänge gekennzeichnet. Es wird ziemlich deutlich, dass sich die europäischen Figuren in der Fremde befinden.

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Mit jeder Transformation Fleetes steigert sich die Spannung sehr dezent von Szene zu Szene, bis die Figuren auf einmal davon sprechen, den Frevler aus ihrer Mitte zu entfernen. Sehr tiefe Bässe deuten stets Gefahr und Unheil an. Interessanterweise geschieht dies bereits ganz am Anfang, aber mehr noch, als sich Fleete in ein Tier verwandelt und seine Kameraden den Aussätzigen gefangennehmen.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der Fleete vor die Statue des Affengottes Hanuman tritt – und keinerlei Respekt zeigt. Die beiden Flammensäulen links und rechts der Götterstatue stellen heilige Flammen dar; sie erklären auch den sonderbaren Glanz in den „Augen“ der Statue – es könnte sich dabei um Edelstein handeln, die das Licht reflektieren. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Statue ungewöhnlich aufwendig gezeichnet worden ist – ein Verdienst des Illustrators Edirne.

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Im Booklet finden sich Verweise auf die im Herbst 2018 und Frühjahr 2019 kommenden Hörspiele aufgeführt:

Ab Herbst 2018

138: Lovecraft: Die Ratten in den Wänden
139: Poe: Der Rabe
140: M. R. James: Runenzauber
141: Julian Osgood Field: Der Judas-Kuss
142: Kipling: Das Zeichen der Bestie
143: Grant Allen: Der Wolverden-Turm

Ab Frühjahr 2019

144: Arthur Machen: Der gewaltige Gott Pan
145: M.R. James: Das unheimliche Puppenhaus
146: H.G. Wells: Der rote Raum
147: Per McGraup: Die Höllenfahrt des Schörgen-Toni (Original-Hörspiel!)
148: Louisa May Alcott: Im Labyrinth der Großen Pyramide
149: E. & H. Heron: Flaxman Low – Der Fall Teufelsmoor

Unterm Strich

Die Handlung folgt vorgeblich dem Frevel eines Kolonialherren und seiner Bestrafung. Tatsächlich aber hat er die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt: Er hat einen Gott wie ein Tier behandelt. Als Strafe wird er selbst zum Tier. Tiere in Menschengestalt haben jedoch in der menschlichen Gemeinschaft nichts verloren. An ihnen wird Tollwut diagnostiziert und schon bald stehen sie im Fadenkreuz.

So ergeht es auch dem frevlerischen Fleete. Zu seiner Entschuldigung lässt sich nur vorbringen, dass er dem Teufel Alkohol in die Klauen fiel. Daher bleibt ihm noch die Möglichkeit, erlöst zu werden. Am Schluss ist er wieder die Unschuld vom Lande und könnte keiner Fliege was zuleide tun. Das sorgt für ein paar komische Momente.

Wer die Momente der Spannung vermisst, sollte das Hörspiel noch einmal anhören: Die Verwandlung des Sünders in ein nie näher bezeichnetes Tier dürfte schon gruselig genug sein, doch dass Fleete unversehens zum Todeskandidaten wird, setzt dem noch eins drauf. Schade fand ich nur, dass dem rätselhaften Aussätzigen keine Worte in den Mund gelegt werden: Er brabbelt meist nur unverständliches Zeug. Die unheilvolle Prophezeiung ist vielmehr einem Vertreter westlicher Wissenschaft vorbehalten: Fleete werde mit Sicherheit an Tollwut sterben. Das erweist sich als Irrtum – aber die Lösung findet sich nur auf metaphysischer Ebene. Und dafür ist die westliche Wissenschaft bekanntlich nicht zuständig.

Das Hörspiel

Das Hörspiel versetzt den Hörer nach Indien und dessen fremdartige Kultur. Das gelingt in erster Linie durch die orientalisch instrumentierte Musik. Das ungewöhnlich lange Outro betont noch einmal diesen Eindruck, verstärkt durch Chöre und bestimmte Instrumente wie etwa eine indische Oboenart.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. So ist mir beispielsweise immer noch ein Rätsel, warum Kipling den Lauf seiner Flinte ins Feuer hält, um ihn zum Glühen zu bringen.

Fazit: vier von fünf Sternen.

Michael Matzer © 2018ff

CD: ca. 43 Minuten
ISBN-13: 9783785757222

www.Titania-Medien.de

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