Thiesler, Sabine – Kindersammler, Der

In unserer heutigen Zeit, und das nicht nur in unserem Land, gibt es, glaubt man den Medien, immer mehr Fälle von Serienmorden. Die Opfer: meist wehrlose Kinder, und finden sich Berichte dieser Morde oftmals detailliert und grausam geschildert in der Presse und in den verschiedenen Nachrichtenmagazinen sowie im Fernsehen wieder. Die Täterprofile ähneln sich; meist unscheinbare, unauffällige Männer, zumeist Einzelgänger. Die meisten werden gefasst, die meisten begehen zum Glück Fehler in dem Versuch, entweder Aufmerksamkeit zu erlangen oder die Taten zu vertuschen.

Psychologen, Polizisten, Politiker versuchen die Psyche dieser oftmals krankhaften Mörder zu ergründen. Vieles wird versucht zu erklären, oftmals durch die Presse bis in grausamste Detail transparent gemacht, nicht nur der Verlauf der Morde, vielmehr geht es um die Frage, warum dieser allen Anschein nach „harmlose“ Mann eine solche Tat begangen hat, die ihm kein Mensch zugetraut hätte.

Ist der Mensch von sich aus „böse“ oder beeinflussen verschiedene Mechanismen, Erlebnisse in der Kindheit den Täter so sehr, dass er nicht mehr unterscheiden kann zwischen Grausamkeit und individueller Auslebung seines devianten Charakters?

|Was macht einen Menschen zum Mörder?|

Der Roman von Sabine Thiesler mit dem Titel „Der Kindersammler“ greift ein Thema auf, das wie oben schon beschrieben immer wieder Schrecken und Angst hervorruft. Gerade junge Eltern können ihre alptraumhaften Ängste gar nicht greifbar machen und denken immer wieder, dass dies nur anderen widerfahren kann, auf gar keinen Fall ihnen selbst.

„Der Kindersammler“ ist ein Roman, der der wahrscheinlichen Realität viel zu nahe kommt. Er berührt, aber zumeist erschreckt er und ein Grauen breitet sich im Leser aus, wie man es selten erlebt. Oftmals fragte ich mich bei der Lektüre: Musste das wirklich so erzählt werden? Musste aus diesem grausamen Muster an Fällen der Vergangenheit ein Roman entstehen?

_Die Geschichte_

Berlin 1986. Alfred, ein junger Mann Anfang dreißig, unauffällig und ein Einzelgänger, lebt vor sich hin. Ein Überlebenskämpfer in der anonymen Größe einer Stadt, immer bereit, dieser so schnell wie es geht den Rücken zu kehren. Er hat schon gemordet, nicht nur Menschen, krampfhaft versucht, dieser Unruhe Herr zu werden, dem Drang zu widerstehen, Kindern seine Macht aufzuzwingen und sie später fast schon in einer theatralischen Szene zu töten.

Seine Kindheit ist ein einziger lang anhaltender Schrecken. Die einzige Bezugsperson ist sein älterer Bruder, der ihn beschützt, nicht nur vor Mitschülern, die ihn hänseln, sondern er gibt Alfred auch Rückendeckung gegenüber der chronisch kranken und sozial schwachen Mutter. Aber dieser erkrankt schwer und stirbt schließlich. Alleine gelassen, glaubt er zu erkennen, dass er die Macht über Leben und Tod hat. Nur er bestimmt, wann der Tod ihn einholt, nur er hat die Kontrolle über sich und andere. Ein Gotteskomplex.

Ein Zufall lässt Alfred in der Gegenwart wieder töten. Bei einem Spaziergang hilft er einen kleinen Jungen, der von zwei Jugendlichen ausgeraubt werden soll. Er verjagt diese und gewinnt dadurch das Vertrauen des kleinen Benjamin. Benjamin Wagner ist kein guter Schüler. Seine Familie ist in Schwierigkeiten, der Vater hoffnungslos damit überfordert, dass seine Frau unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt und durch einen erneuten Schub an den Rollstuhl gefesselt ist, seine Abende verbringt er in Kneipen und entflieht mit Alkohol der Gegenwart und der Zukunft. Eine zerstörte Familie, die dem fast schon Zwölfjährigen keinen Rückhalt bietet. Nachts lauscht er den Gesprächen seiner Eltern und morgens geht er übermüdet in die Schule.

Alfred vergewaltigt Benjamin Wagner und tötet diesen, danach präpariert er dessen Leiche. Er versteckt sie nicht, sondern setzt den Körper an einen Tisch und stellt ihn dort gewissermaßen aus. Eine Szene für die Nachwelt; er will jedem zeigen, wer der Herr über Leben und Tod ist. Aber nicht, ohne ein „Souvenir“ des toten Kindes zu behalten.

Doch Alfred wird der Boden zu unsicher, nicht nur in Berlin auch in anderen Städten hat er gemordet. Die Polizei fahndet mit Hochdruck und zusammen mit einer Frau, die ihm nur zur Vertuschung dient, wandert er in die Toskana aus, wo beide mit bescheidenen Mitteln leben.

Aber auch hier mordet Alfred, der jetzt in der Toskana unter dem Namen Enrico weiterlebt. Doch die italienische Polizei verfolgt die Spuren nach einer gewissen Zeit nicht weiter. Sein nächstes Opfer wird wieder ein kleines Kind – Felix, Sohn einer kleinen Familie, die in der Toskana Urlaub macht.

Nach dem Verschwinden ihres Sohnes kehren Anne und Harald wieder zurück nach Deutschland. Doch Anne hat nach zehn Jahren noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben und kehrt an den Ort ihres Verlustes zurück. Sie will auf eigene Faust herausfinden, was damals passiert ist, und bei aller Angst und Ungewissheit ahnt sie nicht, wie nahe sie dem Serienmörder kommt …

_Meine Meinung_

Sabine Thiesler erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, und genau das ist das Erschreckende an diesem Roman. Den Mord aus der Sichtweise des Opfers, des zwölfjährigen Benjamin Wagner zu schildern, mitsamt all seiner Empfindungen und Ängste, weckt im Leser eine solche düstere Beklemmung, dass er fast schon überlegt, ob es ratsam ist, diesen Roman weiterzulesen. Aber nicht nur diese Sichtweise ist fast schon brutal; die Kindheit des Mörders, die für die Autorin wohl der Auslöser für die Morde ist, ist ebenso deutlich gezeichnet.

Die Autorin spielt mit verschiedenen Varianten des Schreckens. Als Elternteil liest man den Roman wahrscheinlich mit einer ganz anderen Empfindung. Gerade die Sichtweise der besorgten und verängstigen Eltern, die darauf warten, dass der Sohn zur Türe reinkommt, ist gnadenlos. Auch hier musste ich manches Mal den Roman beiseitelegen. Sabine Thiesler spielt mit unseren Urängsten, unseren Beschützerinstinkten, die ein jeder Vater oder eine jede Mutter hat.

Ich gebe zu, der Roman ist spannend, die Story ist jedoch von Klischees überfüllt. Der Mörder, der eine zerstörte Kindheit vorzuweisen hat; die Kinder, die ermordet wurden, kommen entweder aus zerstörten oder zu glücklichen Familien. Ein jeder Leser wird diese „Geschichten“ aus den Medien wiedererkennen. Spannend, aber zugleich viel zu brutal schildert Sabine Thiesler die Sichtweisen der Charaktere: des Mörders – des Opfers – der Eltern.

Brutal ist dieser Roman nur durch die Ängste, mit denen er spielt. Die Morde werden nicht im Detail geschildert, nicht blutig beschrieben. Ganz im Gegenteil. Ist es das, was diesem Roman auf den Bestsellerlisten einen solch hohen Rang einbringt? Ich denke schon. Unsere Zivilisation ist abgestumpft und träge geworden. Aufregung bieten nur die Medien mit ihren täglichen Schreckensbildern, die sich, gleich, aus welchem Land sie kommen, ähneln. Heute ein Mord, morgen eine Naturkatastrophe, übermorgen ein Krieg mit unzähligen Opfern. Aber nichts ist darunter, was uns wirklich schockiert, nur krankhaft fasziniert.

Ich kann diesen Roman nicht guten Gewissens empfehlen, und dies aus vielen Gründen. Unter anderem, weil Kinder die Opfer sind, weil mit ihren Ängsten gespielt wird und mit unserem Voyeurismus. Weil man zwar Nervenkitzel bei der Lektüre erlebt, dies aber weniger der fiktiv-erzählerischen Güte wegen als vielmehr, weil die Darstellung viel zu real gehalten wird. Der Roman zeigt uns, dass jedes Kind verletzlich ist und zum Opfer werden kann, egal, wie viel Liebe und wie viel Sicherheit wir innerhalb der Familie geben können. Wann wird aus einer fiktiven Geschichte Realität, wann wird aus dieser Geschichte erbarmungslose Brutalität? Der Roman schildert nur die Tat und erklärt nicht die Morde, wenn diese ebenso wie die Beweggründe nur als Klischees zu empfinden sind.

_Die Autorin_

Sabine Thiesler wurde in Berlin geboren und wuchs in der Hauptstadt auf. Sie studierte Theaterwissenschaft und Germanistik. Einige Jahre arbeitet sie als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne. Außerdem war sie Ensemblemitglied der „Berliner“ |Stachelschweine|. Sie verfasste Drehbücher fürs Fernsehen, z. B. für die Reihen des Tatorts und Polizeiruf 110.

„Der Kindersammler“ ist ihr Debütroman.

|527 Seiten|
http://www.heyne.de

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