Richard Morgan – Gefallene Engel

„Gefallene Engel“ ist der direkte Nachfolger von Richard Morgans Bestseller „Das Unsterblichkeitsprogramm“ , der unter anderem mit dem |Philip K. Dick Award| ausgezeichnet wurde. Wieder berichtet er aus der Perspektive des „Envoys“ Takeshi Kovacs aus einer düsteren Zukunft, in der körperlicher Tod kein Problem mehr darstellt: Denn das in einem kleinen, schwarzen Kästchen (der sogenannte kortikale „Stack“) im Nacken oder extern gespeicherte Bewusstsein eines Menschen ist potenziell unsterblich. Der Körper hingegen kann geklont werden, man wechselt seinen „Sleeve“, sobald er zerstört wird, und erhält einen Körper von der Stange oder mit besonderen Eigenschaften für Spezialaufgaben – oder eben auch nicht, alles eine Frage des Geldes und ob man gebraucht wird …

Ein ehemaliger Envoy-Spezialist wie Takeshi Kovacs kann sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen: Mit neuem Körper kämpft er auf Sanction IV als Söldner für „Carreras Wedge“ auf Seiten der Regierung. Nach einer schweren Verletzung spricht ihn der Pilot Jan Schneider in einem Orbitalkrankenhaus an. Er bittet ihn um die Befreiung der Archäologin Tanya Wardani aus einem Gefangenenlager, denn sie hat eine unglaubliche Entdeckung gemacht, die sich Schneider sichern will, bevor ein gieriger Großkonzern sich den Fund unter den Nagel reißen kann: Ein auf Sanction verschüttetes marsianisches Hyperraumportal in den Weltraum – mit einem außerirdischen Großraumschiff am anderen Ende.

Unermesslicher Reichtum und Ruhm winken den Entdeckern – und den Löwenanteil würden sie lieber selbst behalten, als ihn mit anderen zu teilen. Mit Hilfe von Matthias Hand, einem ehrgeizigen Manager des aufstrebenden Mandrake-Konzerns, baut Kovacs sich seine private Söldnertruppe aus Spezialisten auf – das passende Personal findet man unter den Kriegsopfern beider Parteien, die Körper stellt Mandrake.

Doch eine verdeckte und ungestörte Operation in einem Kriegsgebiet ist nicht gerade einfach. Vor allem, wenn mehrere Parteien Wind von der Sache bekommen haben. Kovacs Truppe muss zudem unter Zeitdruck arbeiten, denn die Gegend um das Tor wurde bewusst atomar verseucht. Noch bevor man das Tor durchschreiten und das fremde Raumschiff betreten kann, sind erste reale Todesopfer zu beklagen …

_Meths, Kriege und Konzerne_

„Das Unsterblichkeitsprogramm“ setzte sich mit den Folgen quasi austauschbarer Körper dank unsterblich gespeicherter Bewusstseinsinhalte für die Gesellschaft auseinander, „Gefallene Engel“ beantwortet viele der offen gebliebenen Fragen und verlagert das Geschehen, erweitert Morgans Kosmos um Außerirdische, Kriege und vor allem die Macht interstellarer Konzerne.

Bereits im „Unsterblichkeitsprogramm“ zeigte sich, wie Jahrhunderte alte „Meths“ mit entsprechend dickem Bankpolster über dem Gesetz und armen Schluckern stehen, die sich nicht alle paar Jahrzehnte einen neuen Körper oder ein externes Sicherheitsbackup ihres Stacks leisten können. „Trau keinem Meth“ ist deshalb ein beliebter Wahlspruch – doch selbst Meths verblassen angesichts der hintergründigen Macht von Konzernen, die Kriege nach ihren Belieben und zu ihrem Profit manipulieren können. Dabei geht Morgan sehr geschickt vor, er lässt die Konzerne weitgehend anonym aus dem Hintergrund agieren, der einzige direkt vertretene Repräsentant eines Konzerns, Matthias Hand, ist eigentlich auch nur ein kleines Licht, das mächtige Konkurrenten im eigenen Konzern gerne auslöschen würden.

Der Schrecken des Krieges und seine Belanglosigkeit demonstriert Morgan gleich zu Beginn im Lazarett einer frisch ausgelöschten Kampfeinheit: Verunstaltete Körper sind kein größeres Problem. Der Stack des gemeinen Soldaten wird einfach verwahrt, bis der Krieg vorbei ist oder man ihn wieder benötigt, Spezialisten müssen sofort wieder an die Front – der körperliche Tod hat prinzipiell keinen Schrecken, doch wiederholt grausames Sterben treibt viele der Soldaten in den Wahnsinn. Die kortikalen Stacks von Todesopfern werden wie Legosteine in Kisten herumgeschoben, sondiert und selektiert: Wer wird sofort resleevt, wer therapiert, wer bleibt erstmal tot … ein Mensch ohne nennenswerte Fähigkeiten kann nur hoffen, ausreichend Geld für eine Therapie zurückgelegt zu haben, ansonsten wird sein Stack Jahrzehnte aufbewahrt, bis sich jemand vielleicht seiner erbarmt.

Nur durch seine Ausbildung beim |Envoy Corps|, einer an das Marine Corps erinnernden Spezialeinheit, ist Kovacs in der Lage, häufige Körperwechsel sowie Folter ohne geistige Schäden zu überstehen. Zusätzlich sind Envoys mit nahezu übermenschlicher Intuition ausgestattet, die ihr Überlebenspotential zusätzlich erhöht: Wie Detektive können sie aus kleinsten Hinweisen unbewusst auf die richtige Spur gebracht werden, bis es irgendwann einmal „Klick“ macht – um dann hart, schnell und kompromisslos zuzuschlagen.

Denn ein Waisenknabe ist Takeshi Kovacs nicht, sein meist mit neurachemischen Reaktions- und Kraftverstärkern ausgestatteter Sleeve ist wie der innewohnende Geist der eines Wolfes, eines Killers, der nur nur zu seinem eigenen Rudel Loyalität kennt.

Dabei hält sich Morgan nicht zurück mit blutigen Beschreibungen: Takeshi Kovacs ist ein Realist, wir sehen und erleben alles aus seiner Perspektive. Die Ich-Form der Erzählung sorgt für eine besondere Intensität, wenn Kovacs nüchtern und detailliert berichtet, was genau für Reaktionen ein Blasterschuss quer durch die Gedärme bei danach noch lebenden Opfern auslöst, oder wie die zermatschten und blutigen Überreste eines durch eine Ultravib-Schiffsbatterie zermatschten Sleeves aussehen, deren Stack man in dieser Sauerei einfach nicht finden kann. Ein gewisser Hang zum Voyeurismus ist hier vorhanden, der sich auch in den zahlreichen virtuellen und realen Sexszenen wiederspiegelt – Morgan legt seiner Fantasie keinerlei Tabus auf und lässt Kovacs munter berichten.

Ist Kovacs also nur ein brutaler Superkiller? Mitnichten. Alles, was wir erleben, ist Kovacs‘ Darstellung der Dinge. Wir wissen von seinen Albträumen, seine nüchterne Art lässt uns über ihn und seine Umwelt reflektieren – wer aufmerksam liest, bemerkt vielleicht einen seiner Fehlschlüsse schneller als der konditionierte Kovacs selbst. So stellt sich Kovacs zwar Fragen über Gott und die Welt, aber Morgan überlässt es dem Leser, weiter über die durch Stacks und Sleeves geformte Gesellschaft nachzudenken. Er lässt Kovacs interessanten Charakteren begegnen, ihn seine Eindrücke schildern, verharrt aber nie lange und blendet ab, fährt mit der Handlung fort. Er schafft Denkanreize, die er so elegant und ohne große Worte einbringt.

Diese Handlung ist demzufolge auch actionreich, temporeich und spannend. Das Team voller Individualisten erinnerte mich ein wenig an eine Mischung aus dem „Dreckigen Dutzend“ gemischt mit den psychotischen Kriegserfahrungen von „Apocalypse Now“. Manch einem ist der Krieg mittlerweile völlig egal, andere sind einfach nur froh, wieder einen Körper und die Chance auf Reichtum zu haben, selbst ein überzeugter Rebell hat keine Probleme, mit ehemaligen Gegnern auf Beutezug zu gehen.

Warum sollte er auch? Morgan desavoiert Pathos, Heldentum und Ideologien in einem Aufwasch. Aus den Trümmern entwickelt er eine eigene Ideologie, der Kovacs sehr nahe steht, auch wenn er sie stets nahezu reflexartig verleugnet: Sinnsprüche von Quellchrist Falconer zieren den Beginn jedes Teils des Buchs, wie bereits im Vorgängerband. Darunter auch Kovacs‘ Mantra „Stellt euch den Tatsachen. Dann handelt danach.“ und „Nimm es persönlich!“. Denn Kovacs nimmt es persönlich. Zu lebensverneinend und gewalttätig ist seine Welt, deren nüchterne Analyse nur Entsetzen bietet für Idealisten wie die Gildenmeisterin Tanya Wardani.

Eher konventionell geht Morgan an die Hinterlassenschaften der außerirdischen Marsianer heran. Das Tor, geschweige denn das Raumschiff, bleibt lange außen vor in diesem Buch. Hier spielt er mit der ganz gewöhnlichen Furcht vor dem Unbekannten und Fremden, einer imaginären Bedrohung … spekuliert über die Gründe, warum das Schiff anscheinend verlassen wurde, man bis auf Tanya Wardani das gesamte Archäologenteam tot vorfindet, das Portal unter hunderttausend Tonnen Geröll begraben liegt.

Hier möchte ich nichts vorwegnehmen, aber man dürfte bereits erahnen, dass Morgan erwartungsvollen Träumen eine sachlich-nüchterne Realität gegenüberstellt. Bei der Erforschung des Schiffes wirft die faszinierte Tanya Wardani dem kommerziell denkenden Matthias Hand vor, er würde am liebsten an der Pforte zum Paradies das Logo des Mandrake-Konzerns anbringen, während man Grabräubern im Vergleich zu Kovacs‘ Spezialisten geradezu archäologische Sorgfalt und Rücksicht unterstellen könnte.

Hier enttäuscht Morgan gezielt Erwartungen. Er zerstört jeglichen |sense of wonder|, die wunderbaren Marsianer werden sehr schnell auf eine demystifizierte Ebene heruntergeholt, in widerlicher Weise wird um ihre Hinterlassenschaften gerangelt. Demzufolge ist die Episode auf dem Marsianerschiff reichlich kurz, denn bald geht es nur noch um das nackte Überleben …

_Fazit:_

Die unglaublich dichte, rasante Handlungsführung ist das Markenzeichen von Richard Morgan. Ein genialer Kunstgriff ist die nüchterne Erzählweise aus der Ich-Perspektive Takeshi Kovacs, nur durch diesen Trick kann Morgan Fragen aufwerfen und zum Nachdenken über seine zynische und kalte Zukunft anregen, ohne das Tempo der Erzählung zu verringern. Dabei macht er sich berechnend menschlichen Voyeurismus zunutze: Er zeigt bildgewaltig Schweinereien, die andere Autoren aus Gründen der Höflichkeit und des Anstands der Fantasie des Lesers überlassen würden. Aus diesen Gründen kann man sich kaum von dem Roman lösen, nachdem man den etwas zähen Beginn, der ein pures Gemetzel befürchten lässt, überwunden hat. Bis zu einigen Aha-Erlebnissen am leider etwas unpassenden und antiklimatischen Ende des Romans wird man pausenlos mit geballtem Einfallsreichtum, was Verrat und Intrige angeht, bombardiert – sowie einer Extraportion Sex und Gewalt.

„Gefallene Engel“ ist eine konsequente Erweiterung von Morgans Universum; viele durch das „Unsterblichkeitsprogramm“ aufgeworfene und unbeantwortete Fragen werden hier behandelt, doch letzten Endes überlässt Morgan es dem Leser, sich Gedanken über seine zynische und brutale Welt sowie Takeshi Kovacs‘ Envoy-Konditionierung und seine Philosophie zu machen. Die Übersetzung von Bernhard Kempen fängt dabei den mit vielen Fachausdrücken wie „Stack“ und vielen anderen unübersetzt gelassenen Wörtern wie „Needlecast“ durchsetzten Jargon hervorragend ein, die man nicht wirklich übersetzen sollte. Dennoch fand ich diesen Mix etwas gewöhnungsbedürftig. Die bildgewaltige Sprache Morgans ist davon jedoch nicht betroffen; die stimmungsvollen Beschreibungen stehen dabei in einem angenehmen Kontrast zur analytischen Präzision von Kovacs‘ Wahrnehmungen. Eine stimmungsvolle Prise Romantik für eine brutale Welt.

Obwohl insgesamt etwas schwächer als das „Unsterblichkeitsprogramm“, bietet „Gefallene Engel“ eine thematische Abwechslung, weg vom Krimi mehr in Richtung SciFi und Space-Opera. Die düstere Atmosphäre bleibt allerdings erhalten, für idealistische Träumereien hat Morgan nichts übrig und verpasst ihnen am laufenden Band einen Dämpfer nach dem anderen. Alles ist deprimierend schlecht, egoistisch, hoffnungslos und sinnlos, wie der Krieg auf Sanction IV. Einen Funken Edelmut glaube ich ironischerweise in dem durch seine extreme Konditionierung wohl doch nicht abgestumpften Kovacs entdeckt zu haben.

„Gefallene Engel“ ist vielleicht keine Steigerung verglichen zum „Unsterblichkeitsprogramm“, mit dem jeder potenzielle Interessent einsteigen sollte. Meiner Ansicht nach sollte man diese Bücher nicht getrennt lesen, denn zusammen erst schaffen sie ein vollständigeres Bild von Morgans Kosmos, der noch viel zu bieten hat. Wer allerdings eine positive Zukunftsvision mit einer hoffnungsvollen Botschaft erwartet, könnte von Morgans brutaler Realität abgestoßen werden. Ich persönlich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen mit Takeshi Kovacs. Er hat mir noch einige Fragen zu beantworten.

Taschenbuch: 591 Seiten
Die offizielle Homepage von Richard Morgan: www.richardkmorgan.com
Der dritte Teil, „Heiliger Zorn“, ist für Ende Januar 2006 bei Heyne angekündigt.