John Dickson Carr – Vorhang auf für den Mörder

Der bizarre Tod einer Lady rührt deren düstere Vergangenheit auf; für die angemessen theatralische Aufklärung sorgt Meisterdetektiv Gideon Fell … – Der 22. Band der Fell-Serie ist ein altmodischer aber solider Rätsel-Krimi, der in seiner geschickt gewählten Theater-Nische gut aufgehoben ist und angenehme Krimi-Nostalgie verströmt: ein Lichtblick im nicht immer gelungenen Carr-Spätwerk.

Das geschieht:

Beinahe vier Jahrzehnte stand das Theater „Die Maske“ in Richbell, US-Staat New York, leer, nachdem dort bei der ersten und einzigen Aufführung Eigentümer und Hauptdarsteller Adam Cayley auf offener Bühne einem Herzanfall erlegen war. Margery Vane, seine mehr als fünfzig Jahre jüngere Gattin, wurde später eine berühmte Schauspielerin und zog sich auf der Höhe ihres Ruhmes zurück, um einen englischen Lord zu ehelichen. Inzwischen abermals verwitwet, zieht es Lady Margery Severn in die „Maske“ zurück. Sie finanziert ein eigenes Ensemble, das in dem neueröffneten Haus „Romeo & Julia“ spielen soll – jenes Stück, das 1928 so unvermittelt ein tragisches Ende fand.

Margery Vane ist eigenwillig und äußert viele Sonderwünsche. Auch privat ist sie schwierig. Einen Todfeind hat sie sich schon gemacht: Während der Atlantik-Überfahrt hatte er auf Margery Vane geschossen. Die Kugel war knapp fehlgegangen, eine Untersuchung hatte keine Ergebnisse gebracht, obwohl ein berühmter Privatdetektiv Tischgast und Zeuge gewesen war: Dr. Gideon Fell reist in die USA, um dort Vorträge über Kriminalistik zu halten. Lady Margery bittet ihn, die Generalprobe in Richbell zu besuchen und ein Auge auf sie und eventuelle Attentäter zu halten. Diese Bitte gewinnt an Bedeutung, weil Regisseur Plunkett auf echten und funktionstüchtigen Armbrüsten, Degen und Dolchen besteht.

 

Lady Margery wohnt der Generalprobe aufmerksam und allein in Loge C bei, die sie von innen verriegelt hat. Dennoch trifft sie dort während des dritten Aktes ein von der Bühne meuchlings abgefeuerter Armbrustbolzen. Da überall im Theater kostümierte Schauspieler und Bühnenarbeiter unterwegs waren, ist die Zahl der Verdächtigen groß, was die Geduld des ohnehin cholerischen Leutnants Spinelli auf eine harte Probe stellt. Nur Gideon Fell behält jene Ruhe und Übersicht, die nötig ist, um ein komplexes Mordkomplott aufzudecken und weitere ‚Unfälle‘ zu verhindern …

Bretter, die den Tod bedeuten

Eine Liste von Kriminalromanen, die im Theater spielen, würde eine beachtliche Länge erreichen. Das erstaunt nicht, ist die Bühne doch der ideale Schauplatz für Verbrechen: Darauf und dahinter wirken Menschen, die quasi von Berufswegen exaltiert sein müssen und aus ihren Herzen keine Mördergruben machen. Da Schauspieler dem Publikum unstet durch die Lande hinterher ziehen, gelten sie ohnehin als sittenlockeres Völkchen mit eingeschränkter Selbstdisziplin.

Das Theater selbst ist ein Symbol für den (schönen) Schein, der mit großer Emphase spielerisch dargestellt wird. Auf einer weiteren Ebene bietet es mit seinen doppelten Böden, Zwischendecken, Schnurböden, Kulissen- und Kostümlagern und einer generell verwinkelten, das dramaturgisch unterstützende Zwielicht vorziehenden Architektur eine isolierte kleine Welt und eine großartige Stätte für Verbrechen aller Art. Für den Krimi-Autor wird es noch besser: Die Schauspieler sind kostümiert und geschminkt, und durch breite Türen strömen Besucher = potenzielle Verdächtige ein und aus.

„Die Maske“ – schon der Name ist Programm – wird unter der Feder des Krimi-Altmeisters John Dickson Carr zum archetypischen Tatort. Wie es sich im Genre „Whodunit“ gehört, werden uns die Örtlichkeiten genau beschrieben; wir könnten einen Plan des Gebäudes zeichnen. Weil der Verfasser gut arbeitet, stimmen wir anschließend mit dem Urteil der entmutigten Polizeibeamten und privat ermittelnden Zeugen überein: Der Mord an Margery Vane alias Lady Margery Severn kann eigentlich gar nicht geschehen sein!

Die Kunst der unterhaltsam verschleierten Wahrheit

Zwar gibt es zahlreiche Verdächtige, und manches Alibi ist mehr als windschief. Auch an Indizien herrscht keine Not. Die Fakten wollen sich nur einfach nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen. Das ist kein Wunder, denn sollte dies dem Leser gelingen, bevor der Verfasser bzw. Dr. Fell die Katze aus dem Sack lässt, hätte „Vorhang auf für den Mörder“ als Rätsel-Krimi versagt.

Zwar hatte John Dickson Carr Mitte der 1960er Jahre den Zenit seiner Krimi-Kunst bereits überschritten. Dem nüchternen Leser enthüllt sich in der Tat manche logische Schwäche, und das dramatische Finale in einem Vergnügungspark mit Spiegelkabinett hat Carr aus seinem eigenen Roman „The Skeleton in the Clock“ (1948; dt. „Das Skelett“) übernommen. Dennoch ist „Vorhang auf für den Mörder“ ein lesenswerter Krimi, weil Carr gar nicht verbirgt, dass er seiner Geschichte eine Nische außerhalb der allzu modern gewordenen Gegenwart gesucht und gefunden hat.

Die Handlung hat eine Vorgeschichte, die bereits 1928 und damit in der großen Ära des „Whodunit“ ihren Anfang nahm. In der „Maske“ ist die Zeit ohnehin & buchstäblich stehen geblieben, denn nach der Premierenvorstellung wurden die Türen abgeschlossen. Als Gespenst der Vergangenheit geistert seither der alte Säufer Willie durch das leer stehende Gebäude; sein Schicksal ist das dramatisch übersteigerte Spiegelbild einer Tragödie, die 1965 ihren Höhepunkt findet.

Die Show muss immer weitergehen

Die Mechanik des „unmöglichen Mordes“, der dank einfallsreicher Planung möglich und vom Ermittler plausibel aufgelöst wird, hat Carr auch im 22. Roman seiner erfolgreichen Gideon-Fell-Serie nicht verlernt. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, so ist es die absolute Unmöglichkeit, als Leser mit dem Detektiv Schritt halten zu können. Carr vernebelt nicht nur den tatsächlichen Tathergang. Er verschweigt uns Hinweise und legt uns notfalls sogar durch Informationen herein, die nachträglich als Lügen offenbart werden. Auf das „fair play“ des Rätsel-Krimis kann sich der Leser nicht mehr verlassen.

Gideon Fell gefiel sich schon immer als Meister der unsinnigen Andeutung, die neugierige Frager sicherer fernhielt als vielsagendes Schweigen. Er gehört zu den großen aber unsympathischen Detektiven der Kriminalliteratur, gibt sich jovial, ist aber eitel und geizt mit Informationen. Selbstverständlich hat Fell das Rätsel lange vor dem Finale gelöst, sagt aber kein Wort, sondern scheint es zu genießen, wie Polizisten, Zeugen und Verdächtige wild durcheinanderlaufen und immer hysterischer werden.

Wieder ist nicht Fell die Hauptfigur. Schlau aber alt und unbeweglich wirkt er lieber als „armchair detective“ im Hintergrund. Die Laufarbeit übernimmt dieses Mal der Historiker Philip Knox. Er wird Fells Watson und tappt in dieser Funktion stellvertretend für den Leser in die deduktiven Sackgassen, die Carr scheinheilig öffnet. Außerdem wird Knox zum Fixpunkt einer jener unseligen Liebesgeschichten, die der Verfasser meinte, seinen Kriminalromanen aufpfropfen zu müssen. In dieser Hinsicht legte Carr nie besondere Fertigkeiten an den Tag. Was 1935 nostalgisch wirken mochte, ist 1965 jedoch nur noch albern.

Ist man als Leser bereit, diese Abstriche zu machen, entfaltet „Vorhang auf für den Mörder“ noch einmal den angenehm staubigen Zauber des „Whodunit“, der eine Bluttat als unterhaltsames Rätsel präsentiert und dabei nicht einmal die Gutmenschen der Vergangenheit und Gegenwart auf den Plan ruft …

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbare englische Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zur „Die schottische Selbstmordserie“ (DuMonts Kriminal-Bibliothek Bd. 1018) darauf hin, dass seine Kriminalromane so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue Heimat erst entdecken musste und ihm dabei Dinge auffielen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden waren.

Carr fand schnell die Resonanz, die sich ein Schriftsteller wünscht. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane – übrigens nicht nur Thriller. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus; die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf diese verwiesen, die diesem Rezensenten besonders gut gefallen hat.

Taschenbuch: 170 Seiten
Originaltitel: Panic in Box C (New York : Harper & Row 1966)
Übersetzung: Astrid Alexa Stange

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)