John Dickson Carr – Die schottische Selbstmordserie

Carr Schottische Selbstmordserie Cover kleinDas geschieht:

Eine seltsame Einladung ruft den jungen Historiker Dr. Alan Campbell ins Land seiner Ahnen. In der Burg Shira, einsam gelegen am Loch Fyne in den schottischen Highlands, ist der Hausherr verstorben. Nun soll Angus Campbells Testament verlesen werden. Allerdings gibt es ein Problem: Angus hat kurz vor seinem Ende mindestens vier Lebensversicherungen abgeschlossen. Alle enthalten sie eine Klausel, die jede Gesellschaft bei Selbstmord von der Zahlung befreit. Angus‘ Leiche fand sich unterhalb des Turmes, in dessen Spitze er sich sein Schlaf- und Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Ist er gesprungen, wie der Vertreter der Versicherung behauptet, oder wurde er ermordet, was die Meinung des für den Campbell-Clan tätigen Rechtsanwalts Duncan ist?

Oder sollte wahr sein, was im nahen Dorf Inveraray gemunkelt wird? Auf Burg Shira soll es umgehen, ein Geist den alten Angus zum Sprung gezwungen haben. Man hat ihn sogar schon spuken sehen. Alles Unsinn, poltert Colin, Angus‘ Bruder. Er verdächtigt den zwielichtigen Alec Forbes, ein Geschäftspartner, mit dem Angus sich böse zerstritten hatte und der seit dessen Tod spurlos verschwunden ist.

Die alte Elspat, Angus‘ heimliche Lebensgefährtin, spinnt derweil ihre eigenen Intrigen. Ohne Wissen der empörten Familie hat sie den Journalisten Charles Swan eingeladen, der sich in der Burg umschauen soll. Colin reißt der ohnehin dünne Geduldsfaden. Er ruft einen alten Freund, den Gelehrten und bekannten Amateurdetektiv Dr. Gideon Fell, zu Hilfe. Außerdem plant der alte Starrkopf eine Übernachtung im Turmzimmer, um womöglich auf diese Weise herauszufinden, ob dort etwas nicht stimmt. Er erhält seine Antwort, aber sie erfreut ihn nicht, denn auch ihn findet man zerschmettert auf dem harten Pflaster …

Der Triumph des Rätsels

Wo immer es auf dieser Welt einen abgeschiedenen Winkel gab, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien und das Verbrechen ausschließlich in bizarrer Form und vorzugsweise in fest verschlossenen Räumen auftrat, war zwischen 1933 und 1967 Dr. Gideon Fell nie fern. Alte Burgen, in denen es (scheinbar) tüchtig spukte, waren ihm besonders lieb. Shira liegt zudem an einem nebelverhangenen See, wird von traditionsstolzen Schotten bevölkert und bietet deshalb die perfekte Kulisse für einen typischen Carr-Thriller.

Die Realität lässt sich nur in den Anfangskapiteln kurz blicken: Wir schreiben das Jahr 1941. England wird des Nachts von deutschen Bombern heimgesucht, die es aber nicht bis hinauf nach Schottland schaffen. Am Loch Fyne und auf Burg Shira herrscht vielleicht kein Gespenst, aber definitiv der Geist des 18. Jahrhunderts.

Auch das Mordrätsel ist typisch Carr: Er hat den möglichst unmöglichen Mord im verschlossenen Raum zur Kunstform erhoben. Immer absurdere Konstellationen ersann er in diesem Zusammenhang, um dann doch den gesunden Menschenverstand (und Gideon Fell) triumphieren zu lassen: Alles ist machbar, wenn man nur weiß wie. Hier ist es ein verriegeltes und verrammeltes Zimmer in der Spitze eines hohen, unzugänglichen Turms, das zur Stätte eines raffinierten Verbrechens wird. Die Fakten liegen offen (s. u.), man ahnt, wie die Tat realisiert werden konnte und wird doch wieder einmal vom Verfasser unterhaltsam hereingelegt.

Genie mit Hofstaat

Wie weiht man seine Leser in die Geheimnisse eines exotischen Landes ein? John Dickson Carr löst das Problem ebenso elegant wie witzig: Er stellt uns Alan Campbell vor; einen Schotten, der noch nie in Schottland war. Auf Schritt und Tritt stechen ihm als Vertreter besagter Leser Absonderlichkeiten ins Auge, die den Einheimischen nie aufgefallen wären.

Als junger Held in dieser Geschichte hält Alan ansonsten die Handlung in Gang, bis endlich Gideon Fell auf der Bildfläche erscheint. Anschließend geht er dem klugen, aber nicht gerade beweglichen Detektiv zur Hand. Außerdem wird für die obligatorische Liebesgeschichte ein stattliches Mannsbild gebraucht.

Auch hier fällt Carr etwas ein, um das alte Er-findet-sie-und-umgekehrt-Spielchen zu variieren: Alan und Kathryn heißen beide mit Nachnamen Campbell, sind berufliche Konkurrenten und haben dasselbe Reiseziel, was insgesamt für einige durchaus komische Verwirrungen sorgt.

Ansonsten ist besagte Kathryn natürlich hübsch und sogar (maßvoll) emanzipiert, denn weibliche Wissenschaftler waren 1941 noch keine Selbstverständlichkeit. Aber natürlich sorgt die alte Elspat dafür, dass Kathryn ein braves Mädchen bleibt. Wobei dieser Elspat wohl nur im fernen Schottland der Status als „Ehefrau aus Gewohnheitsrecht“ zugebilligt wird. Im Klartext: Mit dem alten Angus hat sie in wilder Ehe gelebt, was sie zu einer bigotten Moralapostelin werden ließ. Ansonsten hält sie mit Köpfchen und messerscharfer Zunge das Heft fest in der Hand und stellt einen interessanten Charakter dar, dem Carr sichtlich seine Zuneigung angedeihen ließ.

Der stimmungsvolle Hintergrundchor

Wir treffen sonst das schon erwartete Figurenarsenal exzentrischer Schotten, die selbstverständlich stolz, geizig und dem Whisky zugetan sind. Daraus bastelt Carr nicht die üblichen plumpen Witzchen, wir lachen stets mit den Figuren, nicht über sie.

Gideon Fell ist wie in 22 anderen Kriminalfällen einfach überwältigend. Damit ist nicht nur sein Intellekt gemeint, sondern auch sein falstaffgleicher Körper und vor allem sein Selbstbewusstsein. Dr. Fell ist weise, aber er liebt es, dies seinen Mitmenschen unter die Nase zu reiben. Gern hüllt er sich in kryptische Andeutungen, denkt zwar laut über den jeweiligen Fall nach, bricht aber an entscheidender Stelle ab und lässt seine Zuhörer hilflos zurück, bis er den Zeitpunkt gekommen sieht, sich in Szene zu setzen. Dabei hält Fell ganz im Geist des klassischen „Whodunit“ nicht unbedingt Fakten zurück. Er präsentiert sie uns stattdessen gern verschlüsselt oder auch in Listenform. Leider verfügen wir nicht über Fells Erfahrung, so dass wir im großen Finale doch (aber immer gern) wie vom Verfasser geplant von der Auflösung überrascht werden.

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so perfekte ‚englische‘ Kriminalromane schrieb, war ein Amerikaner, geboren in Pennsylvania. Europa hatte es ihm jedoch sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination galt alten Städten, verfallenen Schlössern und verwunschenen Plätzen. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Ländern wie Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Herausgeber Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zur DuMont-Ausgabe des Carr-Romans „Die schottische Selbstmordserie“ darauf hin, dass die in den folgenden Jahren entstehenden Kriminalromane so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue Heimat entdecken musste, wobei ihm Dinge auffielen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden waren.

Carr fand schnell die Resonanz, die sich ein Schriftsteller wünscht. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr etwa 90 Romane. (Übrigens nicht nur Thriller: Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet.) Der erlesene „Detection Club“ in London nahm ihn gern auf, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus – die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei auf diese verwiesen, die dem Rezensenten besonders gut gefallen hat.

Taschenbuch: 203 Seiten
Originaltitel: The Case of the Constant Suicides (London : Hamish Hamilton 1941)
Übersetzung: Hans Bangerter
ISBN-13: 978-3770120314

www.dumont-buchverlag.de

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