John Dickson Carr – Der Flüsterer

Carr Flüsterer Cover kleinDas geschieht:

Der illustre „Mordklub“, dessen prominente Mitglieder sich abseits der Öffentlichkeit an ungeklärt gebliebenen Untaten der Vergangenheit delektieren, tagt in London. Professor Rigaud, der französische Historiker, wird über den seltsamen Tod des reichen Fabrikanten Brooke referieren. Diese wurde 1939 auf dem Turm seines Anwesens bei Chartres in Frankreich erstochen, ohne dass sich am Tatort ein Hinweis auf den Hergang des Dramas finden ließ. In Verdacht geriet Brookes Privatsekretärin Fay Seldon, die Harry Brooke, den einzigen Sohn und Universalerben des Brooke-Vermögens, heiraten wollte. Ihr Ruf war übel, die Beweisdecke jedoch dünn: Die französische Polizei befand auf Selbstmord.

Die Journalistin Barbara Morell weiß von einem Komplott, das Harry eingefädelt hatte, um sich vom elterlichen Gängelband zu lösen. Er selbst stellte seine Braut als Flittchen dar, um sich den Verzicht auf die Heirat von den Eltern mit allerlei Vergünstigungen entgelten zu lassen. Aber etwas ging schief; Brooke Senior starb, und den tückischen Harry ereilte sein Schicksal als Soldat in Dünkirchen. Fay Weldon kehrte nach England zurück.

Barbara Morell erschleicht sich Einlass in den „Mörderklub“ und erfährt, dass Miss Seldon inzwischen als Bibliothekarin für den Gelehrten Miles Hammond arbeitet, der im abgelegenen Greenwood lebt. Der noch junge Mann bekam Mitleid, als er von Miss Seldons Unglück hört. Warnende Stimmen schlug und schlägt er in den Wind.

Das Unglück nimmt seinen Lauf, als Rigaud sich nach Greenwood aufmacht. Mit ihm reist der berühmte Amateur-Ermittler Dr. Gideon Fell, ein alter Freund der Familie Hammond. Die scheint um ein Mitglied ärmer, als plötzlich ein Schuss fällt und Miles‘ Schwester Marion dem Tode nahe in ihrem Zimmer gefunden wird: Ein Phantom habe sich ihr genähert und vom nahen Tod geflüstert, berichtet Marion, was sich mit Rigauds exotischer Theorie deckt, dass Fay Seldon kein Mensch, sondern ein Vampirweib ist, das Tod und Verderben über ihre Opfer bringt …

Einige Rätsel-Ecken zu viel

„Der Flüsterer“ ist ein Rätsel-Krimi aus der guten, alten Zeit, eingebettet in eine der Welt fernen, künstlich idyllischen Kulisse und bevölkert von dazu passenden, archetypisch schrulligen oder heroischen Figuren, deren Treiben um die dem Genre angemessen malerische Leiche vom exzentrischen aber übermenschlich klugen Detektiv erst aufwändig beobachtet und im großen Finale entwirrt wird, woraufhin sich aus dem Gewirr falscher oder falsch verstandener Hinweise der Täter stets dort zu erkennen gibt, wo man ihn ganz sicher nicht vermutet hatte.

Besagter Detektiv ist hier Dr. Gideon Fell, der in seinem 16. Fall zunächst nicht mehr als ein Gaststar ist. Das Feld gehört zunächst Miles Hammond, der reinen Herzens aber trotz des ihm verliehenen Nobelpreises (!) nicht gerade hellen Köpfchens sein Bestes gibt, als wackerer Ritter Licht in die Affäre um eine geheimnisvolle Frau zu bringen, die ihn erst fasziniert und schließlich in ihren Bann zu ziehen beginnt.

Ist diese Fay Seldon tatsächlich ein Vampir? So eine Frage in einem Kriminalroman zu stellen, konnte eigentlich nur John Dickson Carr einfallen, der schaurige Plätze, düstere Morde vor dunklen Vergangenheiten und (scheinbaren) Geisterspuk über alles liebte. Dazu kommt ein Hang zu außerordentlich verwickelten, logisch eigentlich nicht nachvollziehbaren aber in der Rückschau – stets pompös dargelegt vom recht eingebildeten Dr. Fell – durchaus schlüssigen Plots und falschen Fährten.

Fairness dem Leser gegenüber, der gemeinsam mit dem Detektiv ermitteln möchte, war Carr zwar stets ein Anliegen, aber es fragt sich, wer eine echte Chance hatte. Zwar streut der Verfasser mehrfach Hinweise darauf ein, dass eine der (natürlich penetrant unverdächtigen) Figuren nicht koscher ist. Die Form ist also gewahrt, aber wie sich dann das Rätsel um den „Flüsterer“ löst, dürfte trotzdem wie ein Blitz aus heiterem (Autoren-) Himmel kommen.

Komplexe Handlung, lahmes Tempo

Nein, dieser Fall gehört nicht zu den Glanzleistungen des Verfassers. Während es ihm gelingt, das Wirrwarr um Mord, Vampirismus und falschen Anschuldigungen (die sich plötzlich doch als richtig herausstellen – oder umgekehrt) durchaus schlüssig aufzuklären, ist der Weg dorthin für den Leser mühsamer als sonst.

Da ist vor allem Carrs unglücklicher Entschluss, den Mord im Turm als endlosen Flashback zu gestalten. Natürlich gibt ihm das die Möglichkeit, dieses für das Geschehen wichtige Ereignis weiterhin zu verschleiern. Das ist wichtig, da Carr sich selbst in eine Ecke gedrängt hat: Die allzu früher Erklärung dessen, was auf dem Turm geschah, könnte dem Leser in der Tat ein wenig zu deutlich zeigen, wer hinter den Übeltaten steckt. Carr zahlt einen hohen Preis, denn der Fluss der Story wird nachhaltig gestört.

Glücklicherweise versöhnt die fabelhafte Auflösung des „Flüsterer“-Attentates. Hier hat sich Carr wieder einmal einen höchst kunstvollen Kniff einfallen lassen, der sogar davon ablenkt, dass die Identität des Täters das Prinzip des Zufalls arg strapaziert. Carr ist sich dessen wohl bewusst und versucht mehrfach abzuwiegeln, aber ganz gelingt ihm das nicht.

Über Carrs Porträt der unschuldig Verfolgten als Nymphomanin verliert man besser kein weiteres Wort, obwohl es ein bezeichnendes Licht auf das wirft, was einst als „Sitte und Moral“ verherrlicht wurde. Carr bemühte sich, seine Rätselkrimis zeitgemäßer zu gestalten, indem er aktuelle Strömungen – hier Sex und Psychologie – aufgriff. Leider war sein schriftstellerisches Talent in beiden Bereichen überfordert. Dies wurde in den späten Carr-Romanen zum echten Problem, weil der Autor die Krimi-Handlung immer stärker zugunsten eher peinlicher, weil ungelenk präsentierter, theatralisch antiquierter Liebesgeschichten vernachlässigte.

Der Zwang, sich selbst zu übertreffen

Für Carr wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg schwierig, sich neue Fälle für seinen Dr. Fell auszudenken. Die Welt hatte sich verändert, auch die Kriminalliteratur blieb davon nicht ausgeschlossen. Noch hatte die Nostalgie den klassischen „Whodunit“ der 1920er und 30er Jahre nicht wiederentdeckt. Die zeitgenössischen Krimis wurden schwärzer und härter. Da konnte ein dicker, unbeweglicher, waffenloser Detektiv nur bedingt mithalten. Nicht von ungefähr begannen sich die Abstände zwischen den Fell-Romanen nach 1945 stetig zu vergrößern.

Auch im „Flüsterer“ kommt die Gegenwart nur ansatzweise zu ihrem Recht. Zwar spielen einige Szenen im nachkriegsgezeichneten London. Hauptsächlich entspinnt sich das Mörder-und-Detektiv-Spiel aber genretypisch in einem quasi Zeit und Raum enthobenen Landhaus. Hier könnte der Kalender auch 1896 anzeigen, ohne dass dies Einfluss auf die Handlung haben müsste. Nicht einmal elektrisches Licht gibt es in Greenwood, wo die Zeit nach dem Tode des reichen Erbonkels – eines viktorianischen Privatgelehrten wie aus Dickens Bilderbuch – stehen geblieben ist.

Heute übt gerade diese Weltfremde einen neuen Lektürereiz aus. Die globalisierte Gegenwart, die mehr Verlierer als Gewinner zu produzieren scheint, weckt die Sehnsucht nach der einer Vergangenheit, deren Probleme scheinbar überschaubar und binnen 200 oder 300 Buchseiten lösbar waren. Leider ist John Dickson Carr, der vor allem in den ersten anderthalb Jahrzehnten seiner Schriftstellerlaufbahn Krimi-Klassik in Kette produzierte, hierzulande vom Buchmarkt verschwunden.

Der Rätselkrimi-Liebhaber muss antiquarisch auf meist sehr alte Ausgaben zurückgreifen, obwohl diese oft nicht gut übersetzt und vor allem empfindlich gekürzt wurden. Gerade der Ullstein-Verlag hat sich in dieser Hinsicht bis in die 1980er Jahre Übles geleistet. „Der Flüsterer“ wurde nicht auf das hausübliche 160-Seiten-Normmaß zurechtgestutzt, sondern scheint die Übersetzung der deutschen Erstausgabe von 1952 größtenteils zu übernehmen. Obwohl diese natürlich heute steif und altmodisch klingt, lässt sie sich gut lesen. Natürlich ist die Erstauflage immer vorzuziehen, doch die stammt aus dem Jahre 1947 und dürfte höchstens zufällig sowie für viel Geld zu finden sein.

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbare englische Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Die fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 blieb. Volker Neuhaus weist in seinem Nachwort zur „Die schottische Selbstmordserie“ (DuMont’s Kriminal-Bibliothek Bd. 1018) darauf hin, dass seine Kriminalromane so lebendig und scharf konturiert wirken, weil hier ein Fremder seine neue Heimat erst entdecken musste und ihm dabei Dinge auffielen, die den Einheimischen längst zur Selbstverständlichkeit geworden waren.

Carr fand schnell die Resonanz, die sich ein Schriftsteller wünscht. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane – übrigens nicht nur Thriller. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 sogar mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus; die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf diese verwiesen, die dem Rezensenten besonders gut gefallen hat.

Taschenbuch: 171 Seiten
Originaltitel: He Who Whispers (New York : Harper & Brothers 1946)
Übersetzung: N. N.

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