Carter Dickson (= John Dickson Carr) – Hinter den Kulissen

Als ein alternder Theaterstar auf ungewöhnliche Weise zu Tode stürzt, lebt die Erinnerung an ein ebenfalls ungelöstes Mordrätsel der Nazi-Zeit wieder auf … Der 20. Fall des ebenso genialen wie lauten Privatermittlers Dr. Gideon Fell ist wie üblich spannend verzwickt, lässt aber die einstige Raffinesse vermissen und setzt zu stark auf Andeutungen, Falschfährten und Hysterie: Die ganz große Zeit der Serie ist vorbei.

Das geschieht:

Brian Innes entledigt sich einer ungeliebten Freundespflicht, als er während einer Reise in die Hauptstadt der Schweiz die junge Audrey Page von einem Treffen mit der berüchtigten Ex-Schauspielerin Eve Ferrier und ihrem Stiefsohn Philip fernhalten soll. Page de Forrest, ihr Vater, fürchtet den schlechten Ruf dieser Frau, die einst keinen Hehl aus ihrer Begeisterung für die Nazis machte und nicht scheute, als diese sie vor ihren Propaganda-Karren spannten.

Innes kann schwere Geschütze auffahren: Eve ist womöglich eine Mörderin. Auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden war 1939 ihr frisch angetrauter Ehemann Hector Matthews über die Brüstung des Balkons von Hitlers Berghof in die Tiefe gestürzt; angeblich ein Unfall, doch gerade erst hatte Matthews die Gattin als Universalerbin seines beachtlichen Vermögens eingesetzt.

Mit auf dem Berghof waren damals der Museumsdirektor Sir Gerald Hathaway und die Journalistin Paula Catford. Genau diese beiden Personen halten sich ebenfalls in Genf auf – kein Zufall, denn Eve Ferrier will im Rahmen eines Treffens der damals in Berchtesgaden Anwesenden ihren Namen reinwaschen. Als kriminologischen Berater hat sie den bekannten Privatermittler Dr. Gideon Fell dazu geladen.

Doch was endlich ein altes Rätsel lösen sollte, endet in einer Tragödie. Eve Ferrier stürzt vom Balkon ihrer Schweizer Villa in einen Tod, der dem Ende von Hector Matthews detailgenau zu entsprechen scheint. Wieder bleibt die Ursache rätselhaft, doch dieses Mal ist Dr. Fell unter den Gästen, die sämtlich ihre Gründe haben, über den exakten Tathergang Stillschweigen zu bewahren. Im Wettlauf mit der Polizei bemüht sich Fell, dem diabolisch geschickten Täter eine Falle zu stellen, bevor dessen eigentlicher Plan aufgeht …

Tiefe Stürze von hohen Rössern

Alles Gute geht einmal zu Ende: Zum 20ten Mal ermittelt Gideon Fell in einem sprichwörtlich unmöglichen Mordfall, aber was sein Meister John Dickson Carr einst so mühelos in einen bizarren, spannenden und raffinierten „Whodunit“ verwandeln konnte, zerfällt hier zur durchaus noch unterhaltsamen, aber zerfahrenen und emotional überladenen Krimi-Routine.

Zwar konnte sich das „Whodunit“-Genre bis auf den heutigen Tag halten. Seine große Zeit erlebte es jedoch in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg. Hier lieferte Carr Qualität am Stück – und er war ein fleißiger Autor! Doch Gideon Fell ist eine Figur, die in Gestalt und Gehabe im 19. Jahrhundert wurzelt. Carrs Versuche, ihn behutsam zu ‚modernisieren‘, fruchten wenig. Wohl auch deshalb hält sich Fell noch ausdrücklicher im Hintergrund als sonst.

Unbeweglich gab er sich auch in seinen jüngeren Krimi-Jahren gern. Dahinter ahnte man stets seine Präsenz, während er dieses Mal in unregelmäßigen Abständen nach vorn zu preschen scheint, um dort in polterndem Tonfall Forderungen zu stellen und sich in Andeutungen zu ergehen, die anders als üblich nicht suggerieren, dass Fell kurz vor der Lösung des Rätsels steht, sondern sich in autoritärem Gehabe erschöpfen.

Wiederholung alter Muster

Der Leser wird die bekannten Elemente des ‚typischen‘ Carr-Krimis wiederfinden. So liebte der Verfasser es, seine Krimi-Handlungen mit Effekten des Schauerromans und –films zu bereichern. Doch 1960 war die Zeit für solche Spielereien vorüber bzw. für ihre nostalgische Beschwörung noch nicht wieder gekommen. Eher peinlich berührt deshalb Carrs Versuch, die Vorgeschichte seines aktuellen Mordfalls ausgerechnet mit einer Episode der nazideutschen Vergangenheit zu ‚würzen‘, zumal Hitlers Berghof tatsächlich nur als Geisterbahn-Kulisse Verwendung findet. Auch die Ereignisse in der „Hexenhöhle“, einen als Gruselkabinett gestalteten In-Klub, wirken aufgesetzt und theatralisch.

Wobei letzteres freilich vom Verfasser beabsichtigt sein könnte. Immer noch ist Carr geschickt beim Streuen sorgfältig versteckter Hinweise, die seinen Lesern ermöglichen, vor Gideon Fell das Rätsel zu lösen. Leider versucht er erneut, mit der Zeit zu gehen, und setzt dabei auf das psychologische Moment. Dies hatte Carr auch zuvor bereits berücksichtigt, es aber der Konstruktion unerhört feingesponnener Krimi-Plots untergeordnet. Paradoxerweise haben seine ‚alten‘ Werke die Zeit genau deshalb besser überstanden als „Hinter den Kulissen“. Carr verwechselt seelischen Tiefgang mit Hysterie und Seifenoper. Seine Figuren leiden nicht an ihren Gefühlen; sie spielen sie nur. Der Leser bemerkt es, und es interessiert ihn nicht. Ungeduldig wartet er stattdessen auf die Lösung der Frage, wie zwei Menschen im Abstand vieler Jahre auf identische Weise zu Tode stürzen konnten.

Kann oder möchte man dies glauben?

Auch in diesem Punkt kann Carr seine alte Klasse nicht erreichen. Im „Whodunit“-üblichen Finale lässt er Fell Punkt für Punkt erläutert, wer wann und wie umkam. Die Teile fügen sich zum vollständigen Puzzle. Dennoch bleibt der Leser unzufrieden. Der Täter rekrutiert sich aus dem Kreis der Verdächtigen. Carr spielt fair; niemand springt plötzlich aus dem Off hervor und outet sich als bisher gänzlich unbekannter Unhold. Dennoch muss er den roten Faden tüchtig zwirbeln, um ihn auf diesen letzten Seiten zu einem Knoten zu schürzen, der zwar hält aber reichlich locker wirkt.

Letzteres gilt auch für die Figurenzeichnungen. Grundsätzlich ist es dem Leser herzlich gleichgültig, wer hier mordet – oder auch nicht. Selten ist es Carr ‚gelungen‘, die Schar der Verdächtigen so ausgewogen unsympathisch zu zeigen. Inoffizielle Hauptperson ist Brian Innes, ein mittelalter Mann, der sich wie ein Botenjunge durch die Welt schicken lässt, um ein ‚Mädchen‘ zu disziplinieren, dessen Vater zu beschäftigt ist, um diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Womöglich hat Page de Forrest aber einfach die Nase voll von seinem Töchterlein, das sich mit 28 Jahren so unselbstständig und dämlich aufführt, dass man einfach nicht begreifen mag, wieso Innes nach der Pfeife dieses Hohlkopfs tanzt. Audrey macht jeden Versuch, den Fall systematisch anzugehen, durch impulsive, nie durchdachte, törichte Aktionen zunichte, bis man sich grimmig wünscht, dass Innes tut, was einem als Leser unmöglich ist, und dieses Gänslein – denn nicht einmal zu einer Gans reicht es bei ihr – mit einem Tritt in den Hintern und aus der Handlung befördert.

Generell ist das von Carr gezeichnete Frauenbild unschön. Die weiblichen Figuren sind manisch triebgesteuert, disziplinlos bis offen verrückt und unbeständiger als das Wetter im April. Carrs Versuch, ihnen Selbstbestimmung außerhalb eines von starker männlicher Hand gelenkten Lebens zu gewähren, sind unentschlossen und scheinen vor allem ein weiterer Versuch zu sein, die Gideon-Fell-Serie zeitgemäßer zu gestalten. Da Carr sich auf oberflächige Retuschen beschränkt, sticht die altmodische Machart umso deutlicher heraus.

Ein Sack voller Flöhe

Offen bleibt die Frage, wieso „Hinter den Kulissen“ in der Schweiz spielt. Das Land bleibt für die Ereignisse völlig unwichtig. Setzt Carr auf die kontinentaleuropäische Nonchalance, die er der Schweizer Polizei unterstellt? Die wird zwar ermittelnd erwähnt, lässt aber Fell völlig freie Hand, während dieser die Ermittlungen auf haarsträubende Weise improvisiert und dabei vor diversen Manipulationen nicht zurückschreckt.

Das Landhaus der Ferriers, sonst im „Whodunit“ zentraler Ort der kriminellen und kriminologischen Ereignisse, wird in „Hinter den Kulissen“ zur Durchgangsstation mit Bahnhofscharakter. Unabhängig davon, ob Fell oder der träge Inspektor Aubertin die Verdächtigen dort versammeln, vernehmen und gegeneinander ausspielen wollen, machen diese sich nach Belieben selbstständig. Das ergibt einige hektische Fahrten nach und durch Genf, trägt aber nicht zur Plot-Gestaltung bei, sondern lässt die Luft aus der Handlung, deren Spannung wie durch unzählige Löcher daraus entweicht. Erst im Finale wird Carr streng und sperrt sein Figurenpersonal buchstäblich in der Villa ein. Dort bleibt ihnen wenig Zeit, sich gegenseitig zu verdächtigen und die Atmosphäre aufzuheizen. Schlimmer noch: Als der Mörder ereignislos geschnappt ist, benötigt Carr weitere 15 eng bedruckte Seiten, um Tathergänge und Motive zu erläutern. Knapper geht es nicht, weil der Plot so unglaublich verwickelt und das Verhalten der Figuren so sprunghaft ist, dass der Leser solche Nachhilfe dankbar annimmt.

Ist „Hinter den Kulissen“ ein schlechter Kriminalroman? Ja, wenn man ihn mit besseren Carr-Werken vergleicht, nein, weil es problemlos möglich ist, deutlich schlimmer missglückte Krimis – ältere, zeitgenössische, moderne – aufzulisten. Dieses Buch enttäuscht vor allem, weil deutlich wird, dass zumindest die Ära Gideon Fell vorüber ist. Carr war Profi genug, dies selbst zu erkennen. In den 17 Jahren, die ihm nach „Hinter den Kulissen“ blieben, schrieb er noch viele Bücher – aber nur noch drei Fell-Romane.

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbar ‚englische‘ Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Diese fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 ansässig blieb. Als Schriftsteller war er schnell erfolgreich. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm dank einer allzu ausgeprägten Liebe zu Alkohol und Tabak kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane. Seine Biografie des Sherlock Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus – die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf diese verwiesen, die dem Rezensenten ganz besonders gut gefallen hat.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: In Spite of Thunder (New York : Harper & Brothers 1960/London : Hamish Hamilton 1960)
Übersetzung: N. N.

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