Vlugt, Simone van der – Schattenschwester

Mit ihrem Roman [„Klassentreffen“ 3850 stürmt die niederländische Autorin Simone van der Vlugt zurzeit die Bestsellerlisten, doch auch ihr zweiter Thriller „Schattenschwester“ steht dem in Spannung und Dramatik nichts nach …

Marjolein arbeitet als Lehrerin an einer Gesamtschule und ist mit ihrem Job überglücklich, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ihr Problemschüler Bilal sie mit einem Messer bedroht und Marjolein in Angst aus dem Klassenzimmer flüchtet. Dieser Tag ist es, der ihr restliches Leben (das nicht mehr allzu lange andauern wird) verändern wird.

Von ihrem Schuldirektor Jan van Osnabrugge bekommt Marjolein wenig Unterstützung, da die Schülerzahlen konstant zurückgehen und Jan fürchtet, dass noch mehr Lehrer entlassen werden müssen, wenn die Schule nun auch noch für negative Schlagzeilen sorgt. Aber auch Marjoleins Mann Raoul zeigt wenig Verständnis, denn Marjolein verfügt über genügend Geld, um ihren Job aufgeben zu können, Raoul kann also nicht verstehen, wieso sie ihr Leben aufs Spiel setzt, zumal die beiden eine 6-jährige Tochter haben.

Einzig zu ihrer Zwillingsschwester Marlieke kann sich Marjolein jederzeit flüchten, um sich bei ihr auszuweinen und um Rat zu fragen. Marlieke und Marjolein sehen sich zwar unglaublich ähnlich, doch vom Typ her könnten sie kaum unterschiedlicher sein. Marlieke ist die ruhige und zurückhaltende Schwester, die sich gerne in bequeme Sachen und Armeehosen kleidet, während Marjolein offensiv auf die Menschen zugeht und mit ihren Reizen nicht geizt. Doch mit ihrer forschen Art macht sie sich offensichtlich auch Feinde, denn nach dem Vorfall mit Bilal ist es noch nicht getan: Kurz darauf wird Marjoleins Auto zerkratzt und mit dem Schriftzug „Hure“ verschandelt, aber auch eine Morddrohung lässt nicht lange auf sich warten. Während Marjolein immer verzweifelter wird, traut sie sich immer noch nicht, die Vorfälle zur Anzeige zu bringen, da sie Angst davor hat, Bilal dadurch erst recht gegen sich aufzubringen.

Simone van der Vlugts Geschichte teilt sich in zwei Handlungsstränge auf; der eine ist aus Marjoleins Sicht erzählt und handelt von den Bedrohungen, die Marjolein zu ertragen hat. Und während sie wenig Verständnis erhält und sich zudem Sorgen um die Treue ihres Ehemannes machen muss, ahnt sie nicht, dass sie bald ermordet werden wird. Der zweite Handlungsfaden schildert die Ereignisse nach Marjoleins Mord aus Sicht ihrer Zwillingsschwester.

Diese beiden Handlungsebenen führt Simone van der Vlugt parallel weiter. Während Marjoleins Panik also immer mehr zunimmt und sie beginnt, Gespenster zu sehen, ist Marlieke in Trauer um ihre ermordete Schwester und begibt sich auf Spurensuche, um den Mörder auf eigene Faust dingfest zu machen. Der Leser weiß dabei allerdings noch nicht, wie weit die Ereignisse um Marlieke in der Zukunft liegen und wie viel Zeit Marjolein also noch bleibt. Durch den ständigen Wechsel der Perspektive und der Zeit baut die Autorin unglaublich viel Spannung auf, die uns an das Buch fesselt, bis wir es schließlich spätabends oder auch mitten in der Nacht schließlich durchgelesen haben und wissen, was mit Marjolein geschehen ist.

Besonders die Handlungsebene, die aus Marliekes Sicht geschildert ist und in welcher der Leser schon weiß, dass Marjolein sich einen Todfeind gemacht haben muss, birgt viel Spannung. Hier lernen wir Marjolein aus einer ganz anderen Perspektive kennen, denn obwohl sie uns in ihren eigenen Passagen sehr sympathisch erscheint, müssen wir hier erkennen, dass sie nicht die freundliche und perfekte Frau ist, die sie gerne sein möchte. Selbst ihre Zwillingsschwester Marlieke ertappt sich dabei, dass sie sich ohne ihre einnehmende Schwester viel freier fühlen kann. Hinzu kommt ihre heimliche Liebe zu Raoul, die sie bislang immer verbergen musste, damit niemand merkt, dass sie sich in den Mann ihrer eigenen Schwester verliebt hat.

In diesen Passagen lernen wir auch Marliekes beste Freunde kennen, nämlich Sylvie und Thomas, die Marlieke eine große Stütze sind in ihrer Trauer. Thomas ist unsterblich verliebt in Marlieke und weiß doch, dass sie nicht das Gleiche für ihn empfindet. Allerdings ahnt er noch nicht, dass er einen Nebenbuhler hat, mit dem er es einfach nicht aufnehmen kann. So erscheint es uns ganz selbstverständlich, als Sylvie und Thomas schließlich ein Paar werden, denn die schöne Sylvie ist schon lange hinter Thomas her.

Doch obwohl Marlieke selbst nicht mehr sein möchte als Thomas‘ gute Freundin, wird sie plötzlich eifersüchtig und fühlt sich ausgeschlossen, als ihre beiden Freunde sich näher kommen. Ablenkung sucht Marlieke in ihrer Arbeit als Fotografin und in der Suche nach dem Mörder ihrer Schwester. Sie kann es immer noch nicht glauben, dass Bilal unschuldig sein soll, auch wenn die Polizei sein Alibi überprüft und ihn wieder frei gelassen hat. Als sie sich jedoch alleine auf die Suche nach Bilal macht, begibt sie sich in große Gefahr.

Die Charakterzeichnung ist Simone van der Vlugt über weite Strecken sehr gut gelungen. Wir lernen die handelnden Figuren immer besser kennen und erfahren dabei ganz nebenbei, dass es neben Bilal doch noch Menschen gegeben hat, die Marjolein nach dem Leben hätten trachten können. Auch Raoul hat etwas zu verbergen; eine gute Freundin von Marjolein hat ihn nämlich mit einer schönen Frau gesehen, als er sich eigentlich mit einem Kunden treffen wollte, um ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Aber Marjolein selbst wird nie mehr erfahren, ob ihr Mann sie wirklich betrogen hat.

Kleine Abzüge in der B-Note fängt sich die Autorin in der Zeichnung von Marjoleins Charakter ein, denn diese Hauptfigur können wir nicht ganz durchdringen. Manchmal handelt sie so irrational, dass man sie gerne schütteln und auf den Boden der Tatsachen zurückbringen möchte. In vielen Situationen drängt sie sich so weit in den Vordergrund, dass kaum noch schlüssig begründet werden kann, warum sie bislang so viele Freunde und einen liebenden Ehemann gehabt haben kann.

Was der Autorin allerdings wieder erstklassig gelingt, ist der Aufbau ihres Spannungsbogens. Zunächst beginnt ihr Roman noch relativ harmlos; zwar wird Marjolein an der Schule mit einem Messer bedroht und ängstigt sich fortan vor ihren eigenen Schülern, doch erst als die Perspektive zu Marlieke wechselt und wir uns auf Marjoleins Begräbnis wiederfinden, nimmt die Geschichte richtig Fahrt auf. Zusammen mit Marlieke möchten wir unbedingt herausfinden, was Marjolein wirklich geschehen ist; allerdings ahnt der Leser natürlich von Beginn an, dass nicht Bilal hinter der Tat steckt, denn diese Auflösung wäre einfach zu simpel.

Ausgesprochen geschickt flicht Simone van der Vlugt immer neue Verdachtsmomente in ihre Geschichte ein, sodass wir am Ende gar nicht mehr wissen, wen wir eigentlich verdächtigen sollen. Wie schon in ihrem Bestseller „Klassentreffen“ gehen die Verdächtigungen hin und her, und am Ende überrascht uns die Autorin schließlich doch mit einer Auflösung, die man nicht erwartet hat. Im Gegensatz zu ihrem durchweg überzeugenden Thriller „Klassentreffen“ schafft es Simone van der Vlugt aber nicht, ihre Auflösung so stimmig zu gestalten, dass man ihr Buch vollends befriedigt zuschlagen könnte. Am Ende war ich doch ein wenig enttäuscht, auch wenn ich zugeben muss, dass ich den wahren Täter nicht im Visier hatte. Doch das Tatmotiv erscheint mir persönlich etwas zu weit hergeholt.

Die Romanhandlung ist in über sechzig kurze Kapitel unterteilt, sodass man kaum Luft holen kann und die Schreibe entsprechend knackig ist. „Klassentreffen“ war zwar nicht minder spannend, doch hat sich Simone van der Vlugt dort mehr Zeit genommen, um Atmosphäre aufzubauen und die Situation besser auszugestalten, um den Leser richtig mitzureißen. Etwas eintönig erschien mir der Schreibstil der Autorin; viele Sätze beginnen mit „es“ und wirken dadurch lieblos aufs Papier geworfen. Möglicherweise liegt das auch an der Übersetzung, das kann ich nicht beurteilen, ein schriftstellerisches Highlight ist „Schattenschwester“ aber sicherlich nicht.

Doch unter dem Strich ist auch „Schattenschwester“ ein sehr spannender und gut konstruierter Psychothriller, der ein unglaubliches Tempo anschlägt und seine Leser geschickt an der Nase herumführt. Nur Kleinigkeiten sind es, die den Gesamteindruck trüben. So hat Simone van der Vlugt in mir eine neue Stammleserin gefunden, die schon jetzt dem nächsten Thriller von ihr entgegenfiebert.

http://www.diana-verlag.de

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