Ramsey Campbell – Der Wahnsinn aus der Gruft

Inhalt:

In zwölf Kurzgeschichten lässt Ramsey Campbell H. P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos aufleben:

Vorwort: Auf der Jagd nach dem Unbekannten (Chasing the Unknown, 1985), S. 7-19

Die Kirche in der High Street (The Church in High Street, 1962), S. 20-41: Der besorgte Mr. Dodd möchte einen lange nicht gesehenen Freund besuchen; tief unter den Fundamenten einer alten Kirche lüftet er zu seinem Leidwesen dessen Geheimnis.

Das Testament des Stanley Brooke (The Will of Stanley Brooke, 1964), S. 42-50: Der geizige Mr. Brooke konnte den Tod und seine Erben überlisten, doch sein Anwalt erkennt, was geschehen ist, und leitet Gegenmaßnahmen ein.

Die Mondlinse (The Moon Lens, 1964), S. 51-70: Mr. Leakey strandet in einem Hinterwald-Nest und merkt zu spät, dass er unfreiwilliger Ehrengast einer schauerlichen Zeremonie sein soll.

Der Stein auf der Insel (The Stone on the Island, 1964), S. 71-88: Mr. Nash will den Selbstmord seines Vaters nach dessen Forschungen auf einer mysteriösen Insel aufklären, und zu seinem Pech gelingt ihm das.

Vor dem Sturm (Before the Storm, 1980), S. 89-101: Verzweifelt flüchtet ein Mann vor den Schergen des Dämonengottes Eihort, als der den grausigen Preis für einen Pakt einfordert, den die beiden vor langer Zeit eingegangen sind.

Schwarz auf Weiß (Cold Print, 1969), S. 102-126: Porno-Liebhaber Strutt muss erfahren, dass ihn sein Trieb als Hohepriester einer in jeder Hinsicht unmenschlichen Kreatur empfiehlt.

Franklins Botschaft (The Franklyn Paragraphs, 1973), S. 127-162: Autor Campbell entschlüsselt die wirren Notizen eines spurlos verschwundenen Brieffreundes und verzichtet klug auf Nachforschungen, die ihn buchstäblich in Teufels Küche bringen könnten.

Der Wahnsinn aus der Gruft (A Madness from the Vaults, 1972), S. 163-174: Ausgerechnet Tyrann Opojollac stellt sich dem Grauen aus der Tiefe in den Weg und wird für seine gute Tat böse hereingelegt.

Dazu gehören folgende Bilder (Among the Pictures Are These, 1980), S. 175-183: Autor Campbell beschreibt einige seltsame Skizzen, die er als Teenager angefertigt hat.

Die Gesichter in Pine Dunes (The Faces at Pine Dunes, 1980), S. 184-230: Der junge Michael kehrt zu den Wurzeln seines ungewöhnlichen, nur bedingt menschlichen Familienstammbaums zurück.

Die klingende Ebene (The Plain of Sound, 1964), S. 231-249: Drei Freunde nehmen unklug Kontakt mit Außerirdischen auf, die keine guten Absichten hegen.

Die Rückkehr der Hexe (The Return of the Witch, 1964), S. 250-268: Gladys Shorrock setzt Himmel bzw. Hölle in Bewegung, um Jahre nach ihrem Tod ins Leben zurückzukehren.

Aller Anfang ist (in diesem Fall besonders) schwer

„Der Wahnsinn aus der Gruft“ gehört zu einer Sammlung, die Ramsey Campbell 1993 unter dem Titel „Cold Print“ veröffentlichte. Sie versammelte seine bis dato erschienenen Gruselgeschichten, mit denen er seinem frühen Vorbild Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) nachgeeifert war. (Hierzulande erschien diese Kollektion in zwei Bänden und Teil 1 als „Die Offenbarungen des Glaaki“.)

Dem Dutzend Storys, die zwischen 1962 und 1980 entstanden, geht ein Vorwort des Verfassers voraus, das informativ die Umstände ihre Entstehung sowie das komplexe Verhältnis zwischen Campbell und Lovecraft beschreibt, dem der junge Epigone erst entwachsen musste, um zu einem eigenständigen Schriftsteller sowie zu einem Großmeister der modernen Horrorliteratur zu reifen.

Campbell berichtet, wie er als junger Leser in den Bann Lovecrafts geriet und als Nachwuchsautor von ihm geprägt wurde – ein Schicksal, das er mit vielen späteren Schriftstellern teilte. Er beschreibt, dass und wieso er bemüht war, Lovecraft so gut wie möglich zu kopieren. Ganz frühe und peinlich missratene Versuche zitiert Campbell nur auszugsweise im Vorwort, um deutlich zu machen, dass er in die gleiche Falle tappte wie quasi alle Lovecraft-Epigonen: Er imitierte dessen Stil, vernachlässigte aber dessen sorgfältigen Aufbau und vor allem die Schöpfung einer unheimlichen Stimmung, die umgehend ins Lächerliche umschlägt, wenn man das entsprechende Rüstzeug nicht beherrscht.

Auch Campbell zahlte Lehrgeld, konnte aber zwei gewichtige Vorteile für sich verbuchen: Zum einen besaß er echtes Talent, zum anderen gehörte zu seinen Ratgebern ausgerechnet August Derleth (1909-1971), der sich nach Lovecrafts Tod als dessen Nachlassverwalter einen Namen gemacht hatte. Ohne zu wissen, dass er mit einem gerade 15-Jährigen korrespondierte, ließ Derleth Campbell Anfang der 1960er Jahre an seinem immensen Wissen teilhaben, ermunterte und korrigierte ihn und ermöglichte, dass bereits der 18-jährige Campbell 1964 einen ersten Sammelband mit Horrorstorys im Geiste Lovecraft veröffentlichen konnte. („The Inhabitants of the Lake and Less Welcome Tenants“. „Die Kirche in der High Street“ entstand gar bereits 1962!)

Nicht zuletzt deshalb bricht Campbell in seinem Vorwort eine Lanze für den von der Kritik oft gezausten Derleth. Dieser hat sich demnach an Lovecraft versündigt, indem er dessen Universum, das durch ein Chaos gekennzeichnet wurde, das der Mensch nicht begreifen konnte, nachträglich ein ordnendes System aufzwang und es damit trivialisierte. Campbell erinnert daran, dass Derleth nichtsdestotrotz den Mythos dort bereicherte, wo er ihn durch gute eigene Storys erweiterte sowie andere, oft ungemein fähige Autoren ermunterte, dies ebenfalls zu tun. Diesen Verdienst möchte Campbell Derleth ungeschmälert erhalten.

Staunenswerte Fortschritte

Mit „Der Wahnsinn aus der Gruft“ liegen die letzten Geschichten aus „The Inhabitants …“ vor. „Das Testament des Stanley Brooks“, „Die Mondlinse“, „Die klingende Ebene“ und „Die Rückkehr der Hexe“ zeigen einerseits den Schwung, mit dem der junge Campbell ans Werk ging, legen andererseits aber auch Mängel auf, die der ältere, gereifte Schriftsteller nachträglich freimütig einräumt: Die Handlung beginnt spannend, das Grauen wird geschürt, doch dann folgt allzu abrupt das Ende: Campbell wusste (noch) nicht, wie er krönen konnte, was er entfesselt hatte.

Die Story „Schwarz auf Weiß“ ist nur fünf Jahre nach „The Inhabitants …“ entstanden. Sie belegt den Fortschritt, der Campbell in dieser kurzen Spanne als Schriftsteller gelang. Im Vorwort beschreibt er diese Jahre als Zeit des Zweifels. Campbell fühlte sich von Lovecraft nicht mehr inspiriert, sondern eingeengt. Er suchte nach seiner eigenen Stimme. Als er sie gefunden hatte, versöhnte er sich wieder mit seinem Vorbild. Immer wieder entstanden in den folgenden Jahrzehnten Beiträge zum Cthulhu-Mythos, die gleichzeitig die klassischen Vorgaben Lovecrafts berücksichtigten und doch ganz Campbell waren.

Die Story „Die Gesichter in Pine Dunes“ stellt sicherlich einen frühen Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Zwar ist der Mythos präsent, doch Campbell geht längst eigene Wege und wechselt dabei die Seite. Zwar hatte schon Lovecraft Ich-Erzähler präsentiert, die erfahren mussten, dass sie dem entdeckten Grauen aus uralter Zeit wesentlich näher standen als sie dachten. Dieser Erkenntnis wurde jedoch akzeptiert, ohne dass ein entsprechender Erfahrungsprozess damit verbunden war.

Campbell ist anders als Lovecraft willens sowie in der Lage, den emotionalen Aspekt der Erkenntnis und Akzeptanz eindrucksvoll in Worte zu fassen. In „Vor dem Sturm“ beschreibt er die grausigen Nöte eines Pechvogels, der Cthulhus Brut zu nahe gekommen ist und sich in ein scheußliches Mischwesen verwandelt hat. Campbell konterkariert den Schrecken gekonnt ironisch dadurch, dass er das unglückselige Opfer Hilfe und Zuflucht ausgerechnet in einem Finanzamt suchen lässt, wo man für menschliche Gefühlsnöte bekanntlich nicht zuständig ist.

Grausige Schicksale allzu neugieriger Zeitgenossen

Neugier ist nicht nur der sprichwörtlichen Katze Tod; unerbittlich strafte Lovecraft Forscher, Entdecker oder einfach nur Pechvögel, die zufällig über eine entsprechende Spur stolperten. Wer sich in die Nähe Cthulhus oder seiner Schergen wagt, ist verloren und zu einem grässlichen Ende verdammt.

Dabei ist die Intention nicht eine durch Grausamkeit bestimmte Bosheit, wie beispielsweise dem genas geführten Pornografen Strutt (vor seinem nichtsdestotrotz garstigen Ende) beschieden wird: Für die aus den Tiefen des Kosmos oder fremden Dimensionen stammenden Entitäten zählen menschliche Werte nicht. Wer sich ihnen offenbart, muss die Folgen tragen, die nur in Ausnahmefällen einen Sinn ergeben. Vielleicht am deutlichsten zeigt Campbell dies in der Geschichte „Der Stein auf der Insel“, mit der er außerdem einen weiteren Meister des klassischen Horrors ehrt: Montague Rhodes James (1862-1936) war sogar noch rigoroser als Lovecraft in der Beschreibung ausschließlich bösartiger und rachsüchtiger Gespenster.

Zwei der hier präsentierten Texte fallen aus dem Rahmen. „Der Wahnsinn aus der Gruft“ greift formal und inhaltlich auf frühe Lovecraft-Storys zurück, die nicht in der ‚Realität‘, sondern auf fremden, exotischen Planeten oder surrealistisch verfremdeten, ‚parallelen‘ Erden spielten – Kulissen, derer sich in den 1930er Jahren Clark Ashton Smith (1893-1961) gern bediente. In „Dazu gehören folgende Bilder“ beschreibt Campbell Skizzen phantastischen Inhalts, die er (angeblich) als Jugendlicher gezeichnet hat und die ihn als Erwachsenen erstaunen und erschrecken, weil er sich der Entstehungsmotive nicht mehr erinnert.

Unabhängig davon, ob wir die vor allem ‚lovecrafttechnischen‘ frühen oder die stimmungsvollen, emotional reichen Storys des älteren Ramsey Campbell lesen, bleibt ein Aspekt erhalten: Dieser Horror bietet ausgezeichnete Unterhaltung! Gut übersetzt und schön gestaltet wie in dieser deutschen Ausgabe wird die Lektürefreude noch gesteigert. Der Lovecraft-Aficionado kann und wird zugreifen, doch auch der ‚normale‘ Freund guter, klassischer, atmosphärischer Gruselgeschichten ist ausgezeichnet bedient!

Autor

John Ramsey Campbell, geboren am 4. Januar 1946 in der englischen Großstadt Liverpool. ist seit einem halben Jahrhundert als Schriftsteller aktiv und gilt längst als einer der Großmeister der modernen Phantastik. Die frühen Kurzgeschichten sind noch stark vom Vorbild H. P. Lovecraft (1890-1937) geprägte aber durchaus spannende Beiträge zum klassischen „Cthulhu“-Mythos. Später siedelte Campbell seine Geschichten in England an und emanzipierte sich von Lovecraft.

In seiner Kollektion „Demons by Daylight“ zeigte er 1973, dass er eine eigene, trügerisch leise doch unüberhörbare Stimme gefunden hatte. Das Grauen kam zunehmend psychologisch begründet daher, nistete in den Köpfen der unglücklichen Protagonisten und wurde in klarer Prosa entfesselt. Zunehmend bezog Campbell die soziale Realität als Katalysator für seine Geschichten ein. Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt in der Familie, Kindsmissbrauch – das alltägliche Grauen ließ den Horror „von drüben“ oft reichlich blass wirken.

1976 veröffentlichte Campbell seinen ersten Roman, der ausgerechnet in Deutschland ein übles Schicksal erlebte: „The Girl Who Ate His Mother“ wurde unter dem Titel „Die Puppen in der Erde“ rüde gekürzt und sinnentstellt. („Butchered in German“, zürnt Campbell immer noch auf seiner Website.) Die nächsten Romane verschafften Campbell die Aufmerksamkeit der Kritik sowie ein begeistertes Publikum.

Campbell blieb als Verfasser von Kurzgeschichten sehr aktiv. Er experimentiert thematisch und stilistisch und weiß immer wieder zu überraschen; eine lange Liste nationaler und internationaler Preise belegt eindrucksvoll seinen Erfolg und seine Bedeutung für die moderne Phantastik. Sein einschlägiges Wissen über das Horrorgenre stellt er als reger Herausgeber in zahlreichen Horrormagazinen unter Beweis, wobei ihm oftmals interessante Neu- und Wiederentdeckungen glücken. Als Präsident der „Society of Fantastic Films“ ist Campbell auch im Medium Film vertreten. Er rezensiert Horrorfilme für das BBC Radio Merseyside.

Gebunden: 269 Seiten
Originaltitel: Cold Print [Teil 2] (London : Headline 1993)
Übersetzung: Alexander Amberg
Cover: Torstein Nordstrand
www.festa-verlag.de
www.ramseycampbell.com

eBook: 479 KB
ISBN-13: 978-3-86552-315-0
www.festa-verlag.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)