Anne Perry – Nachts am Paragon Walk (Die Thomas-&-Charlotte-Pitt-Reihe, Teil 3)

Seit sich die gutbürgerlich aufgewachsene Charlotte Elisson und der gebildete, aber wenig manierliche Polizist Thomas Pitt im Zusammenhang mit dem Fall um den „Würger von der Carter Street“ kennengelernt haben, sind nun schon ein paar Jahre vergangen. Charlotte hat Thomas geheiratet und führt das Leben einer Hausfrau und Mutter der unteren Mittelschicht. Ihre Schwester Emily hingegen hat ihr Ziel erreicht und in die Aristokratie eingeheiratet. Die Sommermonate verbringt sie mit anderen Familien ihres Standes im Sommerhaus am Paragon Walk. Während die Männer sich in ihren Clubs vergnügen, ist das Leben der Frauen relativ eintönig. Im Wesentlichen putzt man sich und besucht sich gegenseitig, um belanglose Floskeln auszutauschen und sich gegenseitig auszuhorchen. Dann wartet man darauf, dass es Abend wird und man eventuell zu einer Gesellschaft gehen kann. Da wird plötzlich ausgerechnet die fade und kaum attraktive Fanny Nash vergewaltigt und stirbt in den Armen ihrer Tante Jessamyn.

Die Gesellschaft am Paragon Walk gerät in einen regelrechten Aufruhr, denn schnell wird klar, dass es einer von ihnen gewesen sein muss, denn zur Tatzeit patrouillierte ein Polizist am einen Ende der Straße und standen die Kutscher mit ihren Kutschen am anderen Ende des Paragon Walk, um auf die Heimfahrt ihrer Herrschaften nach einer Feier zu warten. Anne Perry greift nun auf das bewährte Muster aus den ersten Romanen zurück: Während Thomas Pitt als Außenseiter keinen rechten Zugang zur High Society findet, gelingt es Charlotte sich mit Hilfe ihrer Schwester Emily unter die Verdächtigen zu mischen und ihre eigenen Ermittlungen anzustellen. Dabei tauscht sie nur allzu gerne das ärmliche Häuschen, die schwierige Haushaltsführung ohne Bedienstete und die Beaufsichtigung ihrer kleinen Tochter mit den für sie zurechtgemachten Kleidern ihrer Schwester, serviertem Essen und den Salons der begüterten Familien. Spätestens als ein zweites Verbrechen begangen wird, ist klar, dass kein betrunkener Kutscher als Vergewaltiger in Frage komm, sondern der Täter einer der Ehemänner und Familienoberhäupter des Paragon Walk gewesen sein muss.

Während es Emily zunächst darum geht, ihren eigenen illustren Mann unschuldig zu sehen, wird schnell klar, dass jeder am Paragon Walk etwas zu verbergen hat, denn niemand will genau sagen, wo und mit wem er sich zur Tatzeit aufgehalten hat. “Alle denken sie über ihre ganz privaten Sünden nach und vergewissern sich, dass sie noch nicht ans Tageslicht gelangt sind.“ Männern wird dabei ein freieres Leben zugestanden, in welchem sie ihre Triebe ausleben können, aber auch Frauen dürfen, wenn sie diskret vorgehen und dabei keine Spuren hinterlassen, Affairen haben. Ob es nun der geheimnisvolle Franzose, der in dieser Saison allen Frauen den Kopf verdreht, oder gar der eigene Onkel war, der sich möglicherweise im Dunkeln in der Person geirrt und statt eines Zimmermädchens seine eigene Nichte vergewaltigt und getötet hat, zeigt sich erst nach gut 340 Seiten. Dann nimmt der Roman wie schon seine Vorgänger plötzlich an Fahrt auf und Charlotte klärt den Mordfall ganz allein, nicht ohne auch dieses Mal wieder in Lebensgefahr zu geraten.

„Nachts am Paragon Walk“ lebt erneut von der Gegenüberstellung zweier Welten – der gehobenen Schicht, in der alles nur Maskerade und niemand wirklich glücklich ist, und der Welt von Charlotte und Thomas Pitt, in der Verbrechen aus Not begangen wird und trotz der Ärmlichkeit Wärme, Hilfsbreitschaft und Mitgefühl regieren. Der Autorin gelingt es gut, alle Männer der Gesellschaft gleichermaßen verdächtig aussehen zu lassen. Deshalb überrascht die Aufklärung des Falles mit einer gekonnten Wendung, die jedoch völlig nachvollziehbar und glaubwürdig ist. Wenn man nach 352 Seiten klassischer Detektivarbeit mit Beobachtungen und Befragungen unvermittelt mit den Ende des Romans konfrontiert wird, kann man sich noch für ein paar Seiten am interessanten Nachwort von Volker Neuhaus festhalten, aber dann muss man endgültig aus dem viktorianischen London in den Gegenwart zurück. Zum Glück nicht für lange. Die „Charlotte und Thomas Pitt-Reihe“ umfasst inzwischen 43 Bände. Da darf der Winter ruhig lang werden.

Hervorgehoben sei an dieser Stelle die gute Qualität des Paperbacks aus dem Adrian Verlag. Selbst nach mehrmaligem Lesen, sieht es kaum gebraucht aus. Außerdem ist es mit einem ruhigen Titelbild, dem aufklappbaren Umschlag und einer schönen Zeichnung, die an die viktorianische Blumensprache erinnert, versehen. Es nimmt sich daher nicht nur ausgesprochen gut im Bücherregal aus, sondern man hat das Gefühl, dass man sich bei dieser Neuauflage besondere Mühe gegeben hat, um trotz des moderaten Preises ein wertiges Buch herauszugeben und die Atmosphäre des Gaslaternenzeitalters nach außen zu transportieren.

Taschenbuch-Ausgabe: 361 Seiten
ISBN-13: ‎978-3985850624
www.adrian-verlag.de

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