Christina Henry – Die Chroniken von Alice. Finsternis im Wunderland (Chroniken von Alice 01)

Alice-Abenteuer für Slasher-Fans

Seit zehn Jahren ist Alice in einem düsteren Hospital gefangen. Alle halten sie für verrückt, während sie vor sich hindämmert auf der Suche nach ihrer Erinnerung. Wer ist sie? Warum befindet sie sich an diesem grausamen Ort? Und warum quälen sie jede Nacht Albträume von einem Mann mit Kaninchenohren?

Als ein Feuer im Hospital ausbricht, gelingt Alice endlich die Flucht – an der Seite des geisteskranken Axtmörders Hatcher. Doch nicht nur Alice ist frei. Ein dunkles Wesen, das in den Tiefen des Irrenhauses eingesperrt war, ist ebenfalls entkommen und auf der Jagd nach Blut. Erst wenn Alice dieses Ungeheuer besiegt, wird sie die Wahrheit über sich herausfinden – und was das weiße Kaninchen ihr angetan hat… (Verlagsinfo) Alle sagen, sie sei eine Zauberin, aber worin, zum Kuckuck, soll diese Magie bestehen, fragt sie sich. Sie wird es auf die harte Tour herausfinden.

»Christina Henry nutzt die düstere Seite von Lewis Carrolls Werk, durchtränkt es mit Tim Burtons cineastischer Bildwelt und fügt ihm ihre eigene alarmierend groteske Vorstellungskraft hinzu. Daraus entsteht ein Roman, halb Rachetragödie, halb Slasherfilm.« The Guardian (04. Juni 2019)

Hinweis

Diese Besprechung beruht auf dem Leseexemplar, das noch nicht fertig korrekturgelesen war. Deshalb entfällt die Kritik der Übersetzung.

Die Autorin

Die Amerikanerin Christina Henry ist als Fantasyautorin bekannt für ihre finsteren Neuerzählungen von literarischen Klassikern wie »Alice im Wunderland«, »Peter Pan« oder »Die kleine Meerjungfrau« sowie für ihre Bestsellerreihe »Black Wings«. Christina Henry liebt Langstreckenläufe, Bücher sowie Samurai- und Zombiefilme. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Chicago. (Verlagsinfo) Fakt ist, dass sie am 13. August 1974 geboren wurde. Die US-Amerikanerin hat schon bald ihre Begabung für das Schreiben entdeckt und lebt inzwischen ihre Kreativität voll und ganz aus. Ihr eigentlicher Name ist Tina Raffaele.

Nächster Band in den „Chroniken von Alice“: „Die schwarze Königin“ (2016).

Weitere Werke:

Die Chroniken von Peter Pan – Albtraum im Nimmerland (Frühjahr 21)
Die Chroniken der Meerjungfrau – Der Fluch der Wellen (Herbst 21)
Die Chroniken von Rotkäppchen – Allein im tiefen, tiefen Wald (Frühjahr 22)

Die Madeline Black-Serie in der richtigen Reihenfolge (Diese Serie wurde noch nicht übersetzt):

Black Wings (2010)
Black Night (2011)
Black Howl (2012)
Black Lament (2012)
Black City (2013)
Black Heart (2013)
Black Spring (2014)

Handlung

Alice stammt aus der Neuen Stadt, aber das Krankenhaus, in dem sie nun schon zehn Jahre gefangen ist, steht in der Alten Stadt, und die ist ganz anders, viel düsterer. Das Fenster ihrer Zelle ist vergittert, ihre Tür abgeschlossen, und die Pfleger geben ihr Beruhigungsmittel. Denn sonst würde sie wie bei ihrer Einlieferung nun immer ein Wort stammeln: „Das Kaninchen, das Kaninchen.“ Sie kann sich nicht mehr erinnern, wer sie mal war, aber in ihren Träumen erscheint immer ein Mann mit Kaninchenohren, und über ihr Gesicht zieht sich eine lange Narbe, wie von einem Kampf. Kein Wunder, dass Alice ihrer Familie – Schwester, Vater und Mutter – nicht mehr geheuer war. Vielleicht ist sie doch am richtigen Ort.

Hatcher

Aber Alice hat einen Kontakt, durch ein Mauseloch genauer gesagt. In der Nachbarzelle wohnt Hatcher, ein älterer Junge oder ein jüngerer Mann. Wie auch immer: Auch Hatcher ist nicht ohne Grund in der Irrenanstalt gelandet. Er ist wirklich irre, hat angeblich jemanden mit einer Axt getötet. In seinem Oberstübchen, behauptet er, ist er keineswegs allein, sondern da sei noch „das Monster“. Nach dem Brand wird Alice herausfinden, wie das Ungeheuer heißt.

Hatcher hat einen Weg gefunden, um dem Irrenhaus zu entkommen und Alice, seine einzige Freundin, mitzunehmen: Feuer. Als der Brand im dritten Stock, wo sie sich befinden, ausbricht, müssen alle Pfleger und Wärter dorthin, um es zu löschen. Aber es ist überall, so dass Hatcher, der die Tür zu Alices Zelle aufbricht, sie ungehindert herausholen kann. Freiheit, was ist das, fragt sich Alice, und überhaupt: Wo soll’s denn hingehen? Wie sich herausstellt, muss sich mit Hatcher in den angrenzenden Fluss springen, um zu entkommen.

Endlich frei?

Der einzige Fluchtweg scheint tief hinein in die Alte Stadt zu führen. Hatcher klopft an eine Haustür, eine alte Frau öffnet und nennt ihn Nicolas. Dann lässt sie die beiden ein. Kaum am warmen Kamin angelangt, kippt Alice um und fällt in Ohnmacht. Als sie erwacht, wird sie von der alten Frau begrüßt. Sie heiße Bess und sei die Großmutter von Nicolas alias Hatcher. Sie und ihre Familie würden über seherische Kräfte verfügen. Und wenn sie eines wisse, dann dies: Dass Alice und Nicolas dazu ausersehen seien, den Jabberwock zu töten. Den Jabberwock? Ja, das Ungeheuer, das sich in Nicolas‘ Kopf befindet und sich von Albträumen und Angst ernähre. „Es wird bald die ganze Stadt unsicher machen, wart’s nur ab.“

Na toll, denkt Alice. Aber diese Frau scheint die Sache echt ernstzunehmen zu nehmen. Aber ein Anfall, den Hatcher erleidet, scheint ihr rechtzugeben: Den Jabberwock gibt’s wirklich. Aber mit welcher Kraft soll dann sie, Alice, das Ungeheuer erlegen, wenn selbst ein bewaffneter Kerl wie Hatcher ihm erliegt? Hatcher sagt, sie, Alice, verfüge über Zauberkräfte. Sie hat keine Ahnung, worin diese bestehen sollen.

Tarnung

Großmutter hat Alice zu essen und Kleider gegeben, die Kleider eines Mannes, denn Alice werde fortan nur als Alex überleben können. O Graus! Bess hat ihre Haare ganz kurz geschnitten, genau wie die von Nicolas, ihrem Enkel. Zuviel Ungeziefer, meint Bess knurrig. Zum Abschied hängt sie Alice ein uraltes Amulett mit magischen Kräften um. Ihr nächstes Ziel lautet Haus Rosenweg, wo Grinser wohne. Und der Weg dorthin sei lang, denn die Alte Stadt sei riesig: Anderthalb oder zwei Tage würden sie wohl brauchen, meint Hatcher.

Nach einem Tag des Wanderns durch düstere Gassen fühlt sich Alice bereits schwach und müde. Doch gerade da geraten sie in die Rote Zone: Hier kämpft jede der zahlreichen Straßenbanden gegen die anderen um jeden Quadratmeter Territorium. Sie tragen Namen wie „der Zimmermann“, „das Walross“ und dergleichen.

Es kann nicht ausbleiben, dass die beiden einsamen Wanderer jemandem auffallen, der bis an die Zähne bewaffnet ist, tatsächlich handelt es sogar um ein Duo. Leider behält Hatcher nicht die Nerven, so dass aus der kurzen Begegnung ein blutiges Intermezzo wird. Na, toll, denkt Alice genervt. Nun müssen sich die beiden erst recht aus dem Staub machen. Ihr Weg führt in ein Gasthaus. Ihr Pech, dass der Konkurrent des „Zimmermanns“ gerade dieses Haus übernehmen will. Und man behauptet, das „Walross“ fresse Mädchen…

Mein Eindruck

Man schlägt sich durch, so gut man kann, wenn man durch die Altstadt muss. Das erfährt Alice am eigenen Leib. Dies ist eine düstere Welt, die einem Slasher-Film eher angemessen wäre. Den Leser wird es freuen, alte Bekannte wiederzutreffen. „Grinser“ ist natürlich die Grinsekatze aus Cheshire und sein Kompagnon „Raupe“ ist die Wasserpfeife rauchende Raupe – beide sind Gangster. Der Leser sollte sich von so idyllischen, alt-englischen Namen wie „Haus Rosenweg“ nicht täuschen lassen. Drinnen wird mit harten Bandagen gekämpft, denn jeder Gangsterboss ist natürlich sehr auf seinen Vorteil bedacht: Was zum Geier suchen diese beiden schrägen Gestalten namens Alex und Hatcher in der Altstadt? Und vor allem: Für wen arbeiten sie? Grinser ist es, der Getränke und Kuchen mit ganz speziellen Eigenschaften anbietet…

Das Labyrinth

Hinter Grinsers Haus liegt ein Labyrinth und ein trügerisch idyllischer Teich. Darin versteckt sich ein Monster. Raupe hingegen fabriziert seine Monster selbst: Er macht Mädchen mal zu Elfen, mal zu Seejungfrauen. Das gewissen befiehlt Alice, die Mädchen zu befreien, doch nie hätte sie gedacht, dass eines davon um den Tod betteln würde. Kann sie dies überhaupt tun? Sie weiß ja, wie man ein Messer benutzt – psst: Sie erinnert sich, dass sie dem Kaninchen ein Auge ausgestochen hat. So harmlos ist unsere kleine Heldin mit den magischen Kräften also gar nicht.

Untergrund

Aus Raupes Haus führt ein Tunnel durch den Untergrund der Alten Stadt bis zu einem Ort mit drei Türen. Davor hat Grinsers Notizzettel gewarnt. Aber welcher ist die richtige Tür, die zum Kaninchen führt und nicht etwa zum Walross? Da erscheint eine riesige Rattenfamilie. Doch sie wollen nur vorbei, und im Austausch für ein paar Informationen dürfen sie passieren. Sie sind auf der Flucht vor dem Walross, das sich mittlerweile auf einsamem Posten gegen den Rest der Unterwelt sieht und deshalb ganz besonders boshaft ist. Hatcher kennt es bestens, als Nicolas hat er ihm einst fast den Garaus gemacht. Alice ahnt: Das Einzige, was Hatcher verletzen könnte, wäre, wenn seiner verschwundenen Tochter Jenny etwas zustoßen könnte….

Unterm Strich

Die Autorin bürstet die bekannten Alice-Bücher gegen den Strich und verlegt die Handlung in das gewalttätige Dunkel einer Altstadt, die dem Mittelalter entstammen könnte. Doch kaum nähert sich Alice der Neustadt, erblickt sie langsam dahinschwebende Luftschiffe. Auch diese Welt ist, wie bei Carroll, eine parallel existierende Phantasiewelt, doch hier gibt es nicht nur Technik, sondern auch Zauberei. Alice selbst muss ihre magischen Fähigkeiten erst noch entdecken, was für eine gewisse Grundspannung sorgt. Aber sie kämpft auch gegen mehrere Zauberer: Grinser, Raupe und natürlich das Kaninchen. Was ihre spezielle Fähigkeit ist, darf hier natürlich verraten werden.

Action

Bis auf Anfang und Schluss unterhält die Handlung mit einer Menge Action. Die ist leider meist ziemlich blutig. So nach und nach begreift der Leser, dass er und sie es nicht mit einer Zwölfjährigen zu tun hat, sondern mit einer Frau von 26 Jahren. Sie wurde bereits einmal verkauft, verraten und vergewaltigt. Folglich ist sie alles andere als eine Unschuld. Ihre Beziehung zu Hatcher beruht auf gegenseitiger Hilfe und vertrauensvoller Zuneigung, nicht auf Begehren.

Dilemma

Und genau wie Hatcher seine Axt weiß auch Alice die Klinge eines scharfen Messers zu schwingen, wenn es darauf ankommt. Nur eines kann Alice absolut nicht ab: wenn Unschuldige bedroht oder verletzt werden. Deshalb sieht sie sich immer wieder vor moralische und ethische Fragen gestellt. Man nehme das zweite weite Kaninchen, Pipkin genannt. Es ist in der Arena vom Walross als Opfer eines Zweikampfes ausersehen worden. Alice und Hatcher, der noch eine mit dem Walross offen hat, gehen dazwischen. Kaum hat sich Pipkin durch eine Wundertinktur erholt, verlangt er Rache am Walross. Darf Alice das zulassen?

Alices Geheimnis

Auffallend ist, dass alle Zauberer es auf unschuldige Mädchen abgesehen haben. Sie sind ja in der Altstadt die Schwächsten. Wenn sie nicht zur Prostitution gezwungen werden, erleiden sie ein sehr viel bedauernswerteres Schicksal. Gefressenwerden beispielsweise. Im Lager des Walrosses stapeln sich ihre angeknabberten Leichen. Alle Zauberer suchen etwas, notfalls in Fleisch. Und zur ihrem eigenen Erstaunen kann nur Alice es ihnen geben.

Das Ungeheuer

Dann ist da noch das ultimative Monster in der Geschichte: der Jabberwock. Um ihn zu begreifen, sollte man Carrolls Nonsensgedicht über den Jabberwocky kennen. Darin ist von einem Zauberschwert die Rede, mit dem man ihn besiegen können. Grinser schickt Alice auf die Suche nach diesem Schwert, das leider nur ihr Erzfeind, das Kaninchen, hat. Wie sich zeigt, ist der Jabberwock ebenfalls ein Zauberer, aber einer der bösesten: Es macht ihm nichts aus, eine ganze Stadtbevölkerung auszulöschen. Die Frage, die sich der Leser stellt, ist vielmehr, wie gelangt dieser Zauberer in die Köpfe von Alice und Hatcher? Und wie wird man ihn wieder los?

Widersprüche

Was mich etwas irritierte, war der Gegensatz zwischen der doch recht hochstehenden Gedankenakrobatik der 26-jährigen Alice und dem niedrigen sprachlichen Niveau, das dem geistigen Können eines heutigen Zehnjährigen angemessen ist. Auch das Verhalten Alices entspricht stellenweise dem eines sehr jungen Mädchens. Das lässt sich wenigstens durch ihr zehnjähriges Exil in einer Irrenanstalt erklären, wo man ja nicht gerade viel Manieren beigebracht bekommt und Weltwissen erhält. Auf gewisse Weise ist diese Erwachsene stark retardiert, so dass sie an die Buch-Alice erinnert. Spaß macht das jedenfalls nicht. Soll es wohl auch nicht. Ich habe mehrfach eine längere Pause eingelegt.

Empfehlung

Wie stets bei einer Pastiche wie dieser sollte der Leser die beiden Buchvorlagen ganz genau kennen, denn es gibt unzählige Anspielungen darauf. Alices Ex-Freundin Dor-Maus ist die Siebenschläfermaus aus dem Kapitel „Eine verrückte Teegesellschaft“. „Hatcher“ ist eine Zusammenziehung aus „Hatter“, dem verrückten Hutmacher, und „hatchet“, der Streitaxt.

Hinweis

Mein Pressexemplar enthält eine Leseprobe aus der Fortsetzung „Die schwarze Königin“, die am 31. August 2020 erscheinen soll. Die Leseprobe ist etwa zwölf Seiten lang und präsentiert ein neues Rätsel: Warum ist die Welt außerhalb der Alten Stadt von schwarzer Asche bedeckt?

Hardcover: 335 Seiten
Originaltitel: Alice, 2015
Aus dem Englischen von Sigrun Zühlke;
ISBN-13: 9783764532345

www.penhaligon.de

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