Vyleta, Dan – stumme Zwilling, Der

_Das geschieht:_

Im Oktober des Jahres 1939 ist Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen. Mit den Nationalsozialisten kamen neue Gesetze, die vor allem den Ausschluss jüdischer Mitbürger aus Ämtern und Würden forcierten. Die alten Strukturen sind ins Rutschen gekommen. Wer jetzt wendig und skrupellos genug ist, dem bietet das Regime ungeahnte Aufstiegschancen.

Zu den Nutznießern der neuen Zeit gehört in Wien Professor Speckstein, der vor Jahren nach einem Skandal seinen Lehrstuhl aufgab und sich ins Privatleben zurückzog. Nun verdingt er sich als „Zellenwart“ bei den Nazis: Er führt Buch über die Mitbewohner in seinem Haus und meldet, wer sich nicht im Sinn der neuen Herren benimmt. Endlich ist Speckstein wieder jemand, den man achtet bzw. achten muss, doch beliebt ist er nicht: Gerade wurde sein alter Hund grausam abgeschlachtet.

Der Psychologe Anton Beer betreibt im Haus eine kleine Praxis für Allgemeinmedizin. Er lebt unauffällig und wurde kürzlich von der Gattin verlassen. Unter dem Vorwand, seine im Haushalt lebende Nichte Zuzka zu untersuchen, die unter nervösen Störungen leidet, sucht Speckstein den Rat des jungen Kollegen: Die Polizei hat ihn als Sachverständigen in einem offenen Serienmordfall hinzugezogen. Bereits vier Männer und Frauen wurden niedergestochen; ein Verbrechen, das die Nazis herrisch aufgeklärt wissen wollen, wobei ihnen auch ein geständiger Sündenbock recht ist.

Zusätzlich wird Beer vom opportunistischen Kriminalkommissar Teuben unter Druck gesetzt. Beer muss sorgfältig taktieren, denn er pflegt die gelähmte Zwillingsschwester des Varietékünstlers Otto Frei, die sonst den Euthanasie-Schergen der Nazis in die Hände fiele. Außerdem gibt es da noch ein Geheimnis, das Teuben unter keinen Umständen erfahren darf …

_Die Barbaren sind gekommen_

Wie würdest du dich verhalten, wenn das Böse nicht nur die Macht ergriffen hat, sondern sogar Gesetz geworden ist? In „Der stumme Zwilling“ spielt Dan Vyleta die möglichen Reaktionen am Beispiel der (bisher) ultimativen historischen Katastrophe durch. Der Nationalsozialismus machte die Unmenschlichkeit nicht nur salonfähig, sondern erhob sie sogar zum Programm. In dem dadurch entstandenen moralischen Vakuum wurden diejenigen, die den kriminellen und obskuren Standards der neuen Machthaber nicht entsprachen, zu grausam verfolgten Opfern.

Nicht um sie kreist diese Geschichte, sondern um diejenigen Zeitgenossen, die sich grundsätzlich nicht fürchten mussten, weil sie sich dem Nazi-Regime fügten sowie dessen rassistischen Vorgaben genügten. Sie blieben unbehelligt, wurden aber zu Zeugen alltäglichen Unrechts und mussten sich individuell entscheiden: Bleibe ich ’neutral‘, verschließe aber meine Augen und werde zum Mitläufer? Schließe ich mich den Nazi-System an, das mir gute Karrierechancen bietet, und werde ich Nutznießer? Bleibe ich moralischen Grundsätzen verpflichtet und leiste zumindest passiven Widerstand?

Das alte Haus in einem nur scheinbar stillen Winkel der Großstadt Wien wird zum Ort stiller aber existenzieller Entscheidungen, die buchstäblich lebensgefährlich werden können, „Der stumme Zwilling“ zu einem Thriller, in dem es nicht um Täter und Opfer geht, die im kriminologischen Spiel umeinander kreisen: Die Vertreter beider Seiten sind dem Leser stets bekannt.

|Verbrechen als Alltag|

Die dem ’normalen‘ Krimi-Freund zunächst wie die Mohrrübe dem Karrenesel dargebotene Gruselstory vom irren Serienkiller, der in den Straßen Wiens Tiere und Menschen aufschlitzt, erweist sich als Chimäre, die nahtlos in ein anderes Verbrechen übergeht: Aus realiter nicht miteinander in Verbindung stehenden Morde wird eine Gräueltat konstruiert, die den neuen Herren als ‚Begründung‘ und Vorwand für die Umsetzung bizarr missbrauchter ‚Gesetze‘ dienen kann.

Die Allgegenwärtigkeit des legalisierten Verbrechens provoziert eine Stimmung der Angst und Bedrückung, für die Vyleta entsprechende Bilder und Worte findet. Im sechsten Jahr der „Machtergreifung“ werden die Nazis nachlässig in der Vertuschung ihrer Bluttaten. Der gerade begonnene Krieg lenkt die Aufmerksamkeit auf die täglich weiter vorgeschobenen Fronten. Im nach diversen Grenzerweiterungen gewaltig angeschwollenen „Reich“ werden die Zügel fester angezogen. Auch in Wien ‚verschwinden‘ die jüdischen Mitbürger. Dass geistig und körperlich behinderte Menschen von Staatswegen umgebracht werden, ist kein Gemunkel mehr; für Anton Beer wird dieses Wissen zur Quelle seines persönlichen Widerstandes.

Kriminalkommissar Teuben ist das repräsentative Beispiel für den Nazi-Emporkömmling: nicht intelligent aber schlau den persönlichen Vorteil erkennend, ihn dreist nutzend sowie seine Stellung missbrauchend, um sich zu bereichern und sich an denen zu rächen, die ihn vor der Nazi-Zeit übersehen oder herablassend behandelt haben. Sein Ende ist verdient, aber dessen Vertuschung demonstriert gleichzeitig die Korrumpierung seiner Mörder, die nur unter dem Nazi-Druck zu perfekten Mördern mutieren konnten.

|Das Perpetuum mobile der Unterdrückung|

Zur Steigerung des Schreckens trägt das Wissen um ein ebenso perfides wie perfektes Überwachungssystem bei. Die Nazis instrumentalisieren ganz normale Zeitgenossen, die ihre Mitmenschen überwachen. Professor Speckstein stellt das bestmögliche Beispiel dar. Indem er sich als „Zellenwart“ (in Deutschland hätte man ihn „Blockwart“ genannt) an die Nazis verkaufte, bekam er wieder Rang, Namen sowie eine Uniform. Doch er hat einen Handel mit dem Teufel geschlossen, wie er inzwischen weiß. Seinen Diensteifer kann der daraus entwickelte Selbsthass allerdings nicht dämpfen: Vyleta kennt keine simpel gestrickten Figur-Charaktere oder daraus resultierende ‚einfache‘ Handlungsauflösungen. Die Realität war (und ist) komplex, gerade in der Krise wird die Grenzschicht zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ dünn, oder sie löst sich gänzlich auf.

Anton Beer ist deshalb nur vorgeblich der ‚Held‘ dieser Geschichte. Er würde gern in seinem unauffälligen Leben verharren, das ihm als Deckung dient. Das persönliche Geheimnis – hier sei es dem potenziellen Leser verschwiegen – würde ihn selbst in den Strudel der Nazi-Willkür ziehen. Unwillig und Stück für Stück wird er in die kriminellen Umtriebe verwickelt. Vyleta verwandelt das alte Haus dabei in einen Dampfkessel, dessen Bewohner buchstäblich im eigenen Saft weichgekocht werden. Einige überstehen diese Prozedur nicht, andere entdecken bisher unbekannte – aber durchaus nicht immer positive – Qualitäten in sich.

|Wien und seine hässlichen Seiten|

Schon bevor die Nazis kamen, dürfte das Haus kein glücklicher Ort gewesen sein. Vyleta schildert es als Spiegelbild der Wiener Großstadt-Gesellschaft. Während in den oberen Geschossen die etablierten Herrschaften ein großbürgerliches Leben führen, das noch immer von der 1918 geendeten Kaiserzeit geprägt ist, geht es in den unteren Stockwerken weniger vornehm zu. Armut, Vorurteile, Familiengewalt, Alkoholismus und ein als Alltäglichkeit hingenommener Hygienemangel werden von Vyleta abermals in eindringlichen Worten und mit bizarren aber deshalb umso einprägsameren Bildern thematisiert.

Folgerichtig endet die Geschichte keineswegs ‚happy‘, sondern konsequent und vor allem überraschend. Der Verfasser wirbelt seine Protagonisten zum Abschluss kräftig durcheinander und beschert ihnen Schicksale, mit denen der Leser nicht gerechnet hätte. Wunder bleiben aus, aber die lähmende Decke aus Verbrechen und Verrat, die von den Nazis über Wien geworfen wurde, ist nicht völlig dicht. Auch der passive Widerstand hat seine Konsequenzen, und ‚Belohnungen‘ für moralisch korrektes Verhalten bleiben in der Regel aus. Dass einige Figuren dem Terror zeitweise oder womöglich gänzlich entkommen, ist vor allem dem Zufall geschuldet. Wie Vyleta dies umsetzt, setzt seinem ungewöhnlichen, bedrückenden, dichten, spannenden und bewegenden Roman würdig die Krone auf. Als ‚Krimi‘ mag „Der stumme Zwilling“ in der Grenzzone des Genres liegen, aber sollte man diese ohnehin nie allgemeingültig definierte Grenze nicht aufbrechen, um den Leser mit Spielarten des Verbrechens zu konfrontieren, die nicht wie auf Schienen endlos ausgefahrenen Kill-Thrill- und Wer-wars?-Spurrillen folgen? Nach der Lektüre dieses Buches ist dies eine rhetorische Frage.

_Autor_

Dan Vyleta wurde 1974 in Gelsenkirchen geboren. In den 1960er Jahren waren seine regimefeindlichen Eltern durch den „Eisernen Vorhang“ in die Bundesrepublik Deutschland geflohen. Hier wuchs Vyleta auf, verließ aber das Land, um in England Geschichte zu studieren. Seinen Doktorgrad erwarb er am King’s College in Cambridge. Anschließend lektorierte er wissenschaftliche Veröffentlichungen. Er kehrte nach Deutschland zurück, wo er in Berlin lebte.

2008 veröffentlichte Vyleta, der nun im kanadischen Edmonton lebt und arbeitet, seinen ersten Roman. „Pavel & ich“ wurde von der Kritik freundlich aufgenommen. Vyleta blieb dem Historien-Roman – den er mit Elementen des Krimis erzählt – auch in seinem zweiten Werk treu, das im Wien des Jahres 1939 spielt; ein Umfeld, in dem der Verfasser sich durch seine historische Forschungsarbeit – seine Doktorarbeit trägt den Titel „Crimes, News, and Jews, Vienna 1895-1914“ – ausgezeichnet auskennt.

|Gebunden: 414 Seiten
Originalausgabe: The Quiet Twin (London : Bloomsbury Publishing Plc. 2011)
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
ISBN-13: 978-3-8270-0971-5|
[danvyleta.com]http://danvyleta.com
[www.berlinverlage.com]http://www.berlinverlage.com

_Dan Vyleta bei |Buchwurm.info|:_
[„Pavel & ich“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6694

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