William Hope Hodgson – Stimme in der Nacht. Unheimliche Seegeschichten

Eine Novelle und drei Kurzgeschichten vom Meister der auf See beheimateten Spukgeschichte – kühn, spannend, voll unerwarteter Wendungen: ein nostalgischer Gruselspaß der Sonderklasse, der seine Leser süchtig und hungrig nach mehr zurücklässt.

Das geschieht:

– Die Boote der ‚Glen Carrig‘ (The Boats of the ‚Glen Carrig‘, 1907), S. 7-192: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts versinkt das Schiff „Glen Carrig“ mit den meisten Offizieren und Matrosen in unbekannten südlichen Gewässern. Zwei einsame Rettungsboote bleiben zurück, die sich in der unendlichen Wasserwüste bald aus den Augen verlieren. Während die Besatzung des einen gerettet wird, sieht sich die des anderen nicht nur den Strapazen der hohen See, sondern auch aberwitzigen Abenteuern ausgesetzt. Unter dem Kommando des besonnenen Bootsmanns geraten die Seeleute in ein seltsames, ödes Land, in dem Menschen fressende Bäume noch den geringsten Schrecken darstellen, geraten in einen gewaltigen Sturm, werden in einen von Tang überwucherten Winkel des Meeres abgetrieben, müssen sich dort gegen Kraken und Riesenkrebse zur Wehr setzen, stranden an den Gestaden einer einsamen Insel, werden von garstigen Dämonen belagert, finden unverhofft Leidensgenossen und entwerfen einen kühnen Plan, der ihnen die ersehnte Rückkehr in die Heimat ermöglichen soll.

– Die Herrenlose (The Derelict, 1912), S. 193-228: Abseits bekannter Routen stoßen die Männer der „Bheotpte“ auf das Wrack eines uralten Schiffes. Neugier und mögliche Schätze locken sie an Bord, doch dort lauert nach einer Art Urschleim-Zündung ein grausiges Ungetüm.

– Stimme in der Nacht (The Voice in the Night, 1907), S. 229-246: Nach dem Untergang ihres Schiffes preist sich das junge Paar glücklich, als ihr Floß eine Insel im Ozean erreicht, doch dort wuchert ein monströser Schimmelpilz, der nicht wählerisch ist bei der Wahl neuer Nährböden.

– Die Crew der ‚Lancing‘ (The Crew of the ‚Lancing‘, 1923/64), S. 247-258: Ein Seebeben lässt Seltsames vom Grund des Meeres aufsteigen. Das Interesse an Bord eines zufällig am Ort des Geschehens befindlichen Schiffes wandelt sich in blankes Entsetzen, als eine Horde dämonischer Geisterpiraten über sie herfällt.

Sachlich bleiben im Angesicht der Katastrophe

Mehr als 100 Jahre sind die in dieser Band versammelten Geschichten bereits alt, ohne an Spannung und Atmosphäre einen Deut verloren zu haben. Die Phantastik des William Hope Hodgson stellt ihre Zeitlosigkeit mit jener beiläufig wirkenden Meisterschaft aus, die den wahren Könner kennzeichnet.

Für die immense Kraft dieser Erzählungen gibt es verschiedene Gründe. Da ist die unaufdringliche, aber stets präsente Authentizität des nautischen Umfelds. Hier stimmt auf See einfach jedes Detail, was kein Wunder ist: Hodgson war er selbst zur See gefahren. Zur Erfahrung kommt das schriftstellerische Talent, und in der Addition ergibt dies Texte wie beispielsweise das Sturm-Intermezzo in „Die Boote der ‚Glen Carrig‘“ (Kapitel V), das durch die poetische Sachlichkeit fasziniert, mit der Hodgson ein Unwetter schildert.

Das Dokumentarische im Stil kennzeichnet sein gesamtes phantastisches Werk (auch wenn hier und da ein Hang zum Sentimentalen offenkundig wird), verhindert ein Altern, lässt es aber gleichzeitig kühl wirken. Mit den Überlebenden der „Glen Carrig“ wird der Leser nur allmählich und nie völlig warm. Dies scheint in des Verfassers Absicht zu liegen, denn wieso sonst enthält er uns ihre Namen vor? Sie sind einfach nicht wichtig für eine Geschichte, die primär „Bericht ihrer Abenteuer auf fremden Meeren und an fernen Gestaden“ sein soll, wie sich dem Untertitel entnehmen lässt. Hodgsons Seeleute identifizieren sich über ihr Handeln, was durchaus funktioniert, wie das Beispiel des Bootsmanns belegt, der zwar kein Gesicht bekommt, aber trotzdem vor dem geistigen Auge des Lesers Gestalt annimmt.

Die Männer der „Glen Carrig“ müssen viel ertragen. Bemerkenswert wirkt ihre pragmatische Lebensauffassung: Was zum Überleben erforderlich ist, wird getan – ohne Klagen und Murren, ohne dramatische Nervenzusammenbrüche im Rettungsboot. Der Verzicht auf solche gern in der Verloren-auf-hoher-See-Literatur heraufbeschworenen Klischee-Momente vordergründiger Spannung erstaunt, aber der Leser vermisst sie nicht. Hodgsons Helden sind Spezialisten; sie respektieren die See, und obwohl sie viele ihrer Wunder und Schrecken nicht kennen, wissen sie, was in der Krise zu tun ist.

Böse Einlagen in der Ursuppe des Lebens

Die Hodgsonsche Sachlichkeit spiegelt sich auch in dem ‚naturwissenschaftlichen‘ Horror wider, auf den seine Seefahrer treffen. Ganz offensichtlich fasziniert den Verfasser die unbändige Lebenskraft des Meeres, das er als eine Art Ursuppe betrachtet, in der ständig neue, oft unentschlossen zwischen Pflanzen- und Tierwelt schwankende Kreaturen gezeugt werden. Deutlich verleiht Hodgson seiner Vorstellung Ausdruck in „Die Herrenlose“, wo er in einem von der eigentlichen Handlung getrennten Prolog in Worte fasst, wie im grundlosen Ozean aus unbelebter Materie Leben entstehen kann, wenn nur die Mischung der Zutaten stimmt. Gespenster und Geister gibt es nicht in Hodgsons Welt, die deshalb eher der Science Fiction zuzuordnen ist.

An Grusel und Schrecken wird freilich trotzdem nicht gespart. Der Evolution von Schleim und Zufall entspringen niemals freundliche Kreaturen. Schimmelig-giftige, parasitenhafte, eklige, böse oder bestenfalls fremdartige Seltsamkeiten, die normalerweise tief unter dem Meeresspiegel verborgen bleiben und nur zufällig an die Oberfläche geraten: Geschöpfe der düsteren Tiefen sind es, auf die Hodgsons unglückliche Protagonisten treffen. Der Kontakt verläuft niemals friedlich, die Begegnungen nehmen ein schlimmes Ende. Meist bringt nicht einmal der Tod Erlösung, da sich die außer Kontrolle geratene Natur ihre Opfer buchstäblich einverleibt und zu neuen, makaber mutierten Lebensformen zusammensetzt; hier demonstrieren „Die Verlorene“ und „Stimme in der Nacht“ einen frühen ‚genetischen‘ Science Horror!

Ein unvollendeter literarischer Mythos?

„Die Crew der ‚Lancing‘“ lässt uns alte Bekannte wiedertreffen: die „Geisterpiraten“ aus der gleichnamigen Novelle von 1909, die auch in „Die Boote der ‚Glen Carrig‘“ ihren Auftritt haben. Immer wieder lassen sich solche und andere Gemeinsamkeiten in Hodgsons unheimlichen Seegeschichten finden. Offenbar kann man sie als lockeren Zyklus lesen, dessen Teile in derselben Welt spielen. Unwillkürlich muss man dabei an H. P. Lovecraft (1890-1937) denken, der Hodgsons Werk nicht nur kannte, sondern die Methode quasi adaptierte, als er das böse Universum des Cthulhu ins Leben rief. Interessant sind auch die Ähnlichkeiten zwischen den Geisterpiraten und den froschgesichtigen Halbmenschen von Innsmouth, die es auch immer wieder in die Tiefsee zieht. Was Hodgson plante, werden wir leider nie erfahren. Gerade zehn Jahre währte seine Schriftsteller-Laufbahn, die ein früher Kriegstod beendete

Anmerkung 1

Suhrkamp-typisch ist wieder einmal die sorgfältige Übersetzung der hier gesammelten Geschichten. Wulf Teichmann trifft genau den Tonfall eines Berichtes, die angeblich im Jahre 1757 niedergeschrieben wurde. Wunderbar altmodisch, geschraubt und flüssig zugleich liest sich dieser Text, der zudem für eine Stimmung sorgt, die das nostalgische Grauen perfekt zur Geltung bringt. Nautische Sachkenntnis kommt hinzu, denn in den Booten der „Glen Carrig“ kann das Überleben durchaus davon abhängen, ob ein rettendes Tau aus zwei oder drei Hanffasern gedreht wurde! Da ist es schon erforderlich zu vermitteln, wieso dies so ist.

Anmerkung 2

Ein Wort noch zur Geschichte „Die Crew der ‚Lancing‘“: Sie kann nicht als Original-Text Hodgsons gelten. In seinem Nachlass fand sich die Geschichte „Demons of the Sea“, die 1923 posthum erschienen war. Vierzig Jahre später fand sie August Derleth (1909-1971), der Gründer des legendären Verlages „Arkham House“ und verdienstvoller Herausgeber längst in Vergessenheit geratener Gruselklassiker, wieder aber nicht ‚gut‘ genug für eine von ihm geplante Neuveröffentlichung, was ihn dazu veranlasste, sie zu bearbeiten, zu ergänzen und zu ‚verbessern‘, bis sie praktisch zu seiner Schöpfung geworden war.

Autor

William Hope Hodgson wurde am 15. November 1877 in Blackmore End, Essex, England, als eines von zwölf Kindern geboren. Sein Elternhaus verließ er früh, um zur Handelsmarine zu gehen. Zwischen 1891 und 1904 fuhr er zur See, konnte sich aber nie an die Brutalitäten und Ungerechtigkeiten an Bord, den Schmutz oder die Gefahren gewöhnen. So musterte er ab und eröffnete in Blackburn nahe Liverpool ein Studio für Bodybuilder. Das Geschäft lief schlecht, aber Hodgson schrieb viele Artikel über seine Arbeit und begann über eine Karriere als Schriftsteller nachzudenken. Seine Jahre auf den Weltmeeren lieferten ihm genug Stoff für phantastische Seespukgeschichten. Mit „A Tropical Horror“ debütierte Hodgson 1905 in „The Grand Magazine“.

1907 folgte der Episoden-Roman „The Boats of the ,Glen Carrig‘“ (dt. in „Stimme in der Nacht“, Suhrkamp Taschenbuch Nr. 749/64, neu aufgelegt als Nr. 2709/340), ein erstes längeres Werk. 1908 erschien „The House on the Borderland“, mit dem Hodgson bewies, dass er auch auf dem trockenen Land Angst & Schrecken zu verbreiten wusste. „Carnacki the Ghost Finder“ betrat die literarische Bühne 1910. Zwei Jahre später erschien Hodgsons episches Hauptwerk: „The Night Land“, eine Geschichte aus fernster Zukunft, die viele brillante Stimmungsbilder aus „The House on the Borderland“ aufgreift und vertieft (sowie leider auch breittritt).

Hodgson heiratete 1913 und zog mit seiner Gattin nach Südfrankreich. Er schrieb nur noch wenig. Bei Kriegsausbruch 1914 ging er nach England zurück und wurde als Offizier der Royal Field Artillery zugeteilt. Eine schwere Kopfverletzung auf dem Schlachtfeld überlebte er knapp und kehrte an die Front zurück. Hier traf ihn am 17. April 1918 ein deutsches Artilleriegeschoss. Er war sofort tot.

Taschenbuch: 211 Seiten
Originalzusammenstellung; ausgewählt aus: „Men of Deep Waters“ (London : Eveleigh Nash 1914), „The House on the Borderland and Other Novels“, (Sauk City : Arkham House 1946) u. „Deep Waters“ (Sauk City : Arkham House 1967)
Übersetzung: Wulf Teichmann
http://www.suhrkamp.de

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