Arkadi & Boris Strugazki – Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang

Der Galilei-Komplex: das Opfer der Wissenschaftler

Ein heißer Sommer in Russland. Drückende Hitze lastet über der Hochhaussiedlung, in der vor allem Wissenschaftler wohnen. An Forschungsarbeit ist kaum noch zu denken. Da passieren seltsame Dinge, die keine Erklärung finden. Eine schöne junge Frau taucht auf und verschwindet spurlos; dann begeht einer der führenden Rüstungsforscher Selbstmord. Ein rothaariger Gnom taucht auf, der das Ultimatum einer „Superzivilisation“ überbringt, sofort alle Forschungsarbeiten einzustellen und alle Unterlagen zu vernichten.

Man steht vor einem Rätsel und hält Kriegsrat. Ist es am Ende die Natur selbst, die sich, wie der Mathematiker vermutet, auf ganz „natürliche“ Weise zur Wehr setzt? (abgewandelte Verlagsinfo)

Die Autoren

Arkadi (1925 bis 1991) und Boris (geb. 1933) Strugazki sind bzw. waren die bekanntesten SF-Autoren der Sowjetunion, und ihre Werke waren im Ostblock in Millionenauflagen verbreitet. In allen ihren Roman und Erzählungen trachten sie danach, ihre phantastischen Welten und Phänomene dinglich-konkret zu schildern. Das phantastische Element dient ihnen mehr als künstlerisches Mittel, heranreifende Widersprüche, Konflikte des realen Lebens in verfremdeter, allegorischer Form sichtbar zu machen. Meist ist die Handlungszeit die Gegenwart , die Hauptfiguren sind Zeitgenossen (zumindest zum Zeitpunkt der Veröffentlichung). Deshalb ist die jeweilige Entscheidung, die sie zu treffen haben, in gewisser Weise auch unsere Entscheidung. (abgewandelte Heyne-Verlagsinfo)

Die wichtigsten Werke

1) Atomvulkan Golkonda (1959)
2) Picknick am Wegesrand (verfilmt als „Stalker“)
3) Die Schnecke am Hang
4) Der ferne Regenbogen
5) Die bewohnte Insel (Kammerer-Trilogie 1)
6) Der Käfer im Ameisenhaufen (Kammerer-Trilogie 2)
7) Die zweite Invasion der Marsianer
8) Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein (verfilmt)
9) Die Wellen ersticken den Wind
10) Die hässlichen Schwäne
11) Das Hotel zum glücklichen Bergsteiger
12) Fluchtversuch
13) Die gierigen Dinge des Jahrhunderts
14) Die Suche nach der Vorbestimmung (nur von Boris St.)

Handlung

Es ist heiß in Leningrad, und in der modernen Hochhaussiedlung der Wissenschaftler stöhnt Dimitri „Dima“ Maljanow unter den sommerlichen Temperaturen. Seine Irina „Irka“ Maljanow ist mit Söhnchen Bobka bei der Schwiegermutter in Odessa am Schwarzen Meer – die haben’s gut: immer schön windig und Baden direkt vor der Haustür. Der Astrophysiker selbst hält sich mit Katerchen Kaljam bei Bewusstsein, doch sein Geist gerät ins Schwimmen. Wenn man bestimmte Faktoren zusammenfügt, lässt sich das Verhalten von Sternen in Materiewolken berechnen. Hier noch eine Gleichung, dort noch eine Transformation – voilà, Maljanow-Kavernen!

Ungebetene Besuche

Da klingelt es an der Tür, und ans Niederschreiben dieses Geistesblitzes ist nicht zu denken. Der Lieferdienst lässt eine bereits von Irka bezahlte Sendung quittieren. Es handelt sich um eine Kiste mit Kognak und anderen Köstlichkeiten wie etwa Kaviar. Woher hat Irka bloß da Geld, fragt sich Maljanow gerade und überlegt, wen er zu diesem Festschmaus einladen könnte. Waingarten, den Biologen? Sachar, Snegowoi, den Rüstungsoffizier, Wetscherowski, den Mathe-Dozenten?

Da klingelt es schon wieder an der Tür, und ihm fallen fast die Augen aus dem Kopf: Eine schöne junge Frau steht da, die sich mit einem Zettel, den Irka ihr gegeben hat, als eine alte Schulfreundin ausweist, die hier übernachten dürfe. Aber mit dem größten Vergnügen! Endlich hat Maljanow, der sich an Lida – ach was: Lidotschka! – gar nicht sattsehen kann, jemandem, mit dem er den Kognak, den Wodka und den Kaviar niedermachen kann.

Zuviel Stille

Kurzum: Es wird spät, und als Dima am nächsten Morgen aufwacht, ist die süße Lidotschka spurlos verschwunden. War da was? Keine Ahnung. Er geht zu Snegowoi, der gestern, als er Dima besuchte, irgendwie bedrückt schien und vielleicht Zuspruch braucht. Doch Snegowois Wohnung ist sehr still. Zu still. In der Oberstenjacke stak gestern eine Pistole, und heute hängt Snegowoi tot auf seinem Stuhl, ein Einschussloch in der Schläfe. Das riecht nach Ärger, und ein erschütterter Dima geht zurück in seine Wohnung – die gerade von drei Männern belagert wird. Die Typen sehen sehr offiziell aus.

Während zwei der Typen draußen Spalier stehen, nimmt der Wortführer mit Namen Igor Petrowitsch Maljanow in die Zange. Wie das denn gestern gewesen sei? Und Snegowoi – ob er den kenne? Und was er mit ihm zu tun habe, und überhaupt? Selbstmord – oder Mord? Wo denn diese Lida Soundso abgeblieben sei? Doch immer wenn Maljanow Angst bekommt, wird er wütend. Das merkt auch Igor Petrowitsch bald. Nach nebulösen Drohungen als „Chefermittler der Staatsanwaltschaft“ zieht er mit seinen Leuten wieder ab.

Dunkle Wolken

Doch als Valka Waingarten und Sacher hereinschneien und dem guten Wodka zusprechen, wird Maljanow klar, dass man nicht nur ihm gedroht hat, sondern allen. Das heißt, allen Forschern, die irgendwelche Entdeckungen gemacht haben und nun bei ihren Vorgesetzten um Mittel und Pöstchen buhlen – und allesamt abblitzen. Nicht nur das. Im Rückblick – Maljanows Gedächtnis ist nicht mehr taufrisch – erzählt einer, ein rothaariger Gnom habe ihm ein Ultimatum überbracht, dass alle Forschungsarbeiten einzustellen und sämtliche Unterlagen zu vernichten seien. Sonst? Nix sonst!

Das Orakel

Die Wissenschaftler halten Kriegsrat , kommen aber zu keinen Erkenntnissen, sondern tauschen bloß Vermutungen aus. Eine Superzivilisation, was will die denn hier? Und wenn sie eine wäre, wieso hätte sie dann Angst vor ein paar gefährlichen Gedanken auf einem Hinterwäldlerplaneten wie der Erde? Es ergibt alles keinen Sinn.

Erst als alle gegangen sind, rückt Wetscherowski mit seiner eigenen Theorie heraus: Die „Homöostase des Weltengebäudes“ verlangt, um der Zunahme der Entropie entgegenzuwirken, eine Zunahme der Vernunft – sonst bräche ja das Chaos aus. Wieso sollten aber gewisse Überwacher von anderen Sternen Innovationen unterdrücken, die gerade diese Vernunft fördern würden?

Bodenhaftung

Dima ist schon ganz wirr im Schädel, als es an der Tür klingelt. Wer ist das schon wieder? Es ist sein treues Eheweib Irka, ganz in Tränen ausgelöst, die ihn nun vor lauter Erleichterung umarmt. Auch sie hat eine falsche Nachricht in Form eines Telegramms erhalten, das sie auf einen Irrflug von Odessa nach Leningrad schickte. Endlich bekommt Dima wieder Boden unter den Füßen. Aber der Verdacht bleibt. Ist auch dieses Telegramm nur eine Finte der Überwacher, um ihn von der Niederschrift seiner Theorie abzuhalten?

Dagegen lässt sich durch Disziplin und konzentriertes Schreiben etwas unternehmen…

Mein Eindruck

Der Text hat eine bemerkenswerte Form, die jedem Leser sofort ins Auge sticht: er ist unvollständig. Unter dem Vorwand, es handle sich um „Eine unter seltsamen Umständen aufgefundene Handschrift“, beginnt jeder Abschnitt mitten im Satz, was den fragmentarischen Charakter hervorhebt. Aber welche Katastrophe oder Zensurhandlung könnte das Medium, auf dem Text gefunden wurde, so beschädigt oder beeinträchtigt haben?

Opfergaben

Das wird an keiner Stelle erklärt, wohl aber angedeutet: Nacheinander sehen sich Sachar, Waingarten und schließlich auch der störrische Maljanow, unser Chronist, dazu veranlasst, die Aufzeichnungen, auf denen sie ihre wertvollen Einsichten niedergelegt haben, Wetscherowski zu überreichen. Gerade so, als wäre er die höchste Instanz im Haus der Wissenschaftler.

Der fragmentarische Text liefert keine Erklärung, warum es zu dieser Opferhandlung kommt, wohl aber wozu: Wenn es eine Superzivilisation oder einen Wächterrat gibt, so will man durch diesen Akt der Preisgabe die höheren Mächte oder der Natur besänftigen, auf dass die Erde „Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang“ nicht doch schon vernichtet werde. Ein winziger, scheinbar nebensächlicher Hinweis auf Seite 116 macht den Leser stutzig: „der Galilei-Komplex“.

Galilei-Komplex

Um 1616 weigerte sich Galileo Galilei ((LINK)) die Doktrin der römisch-katholischen Kirche anzuerkennen, dass die Erde im Mittelpunkt des Sonnensystems, ja, des gesamten Universums stünde: „Und sie bewegt sich doch“ (die Erde um die Sonne nämlich). Er wurde in den Kerker geworfen und musste schließlich seinem Irrglauben entsagen, ja, seine Schriften widerrufen, um zu überleben.

Obwohl die Bedrohung denkbar diffus ist, so mangelt es den Wissenschaftlern doch nicht an Vorstellungskraft: Das ist schließlich ihre Berufung. Sie halten die Bedrohung für ernstzunehmen: So viele Methoden, sie von der Arbeit abzuhalten, kann es gar nicht ohne Ursprung und Grund geben. Die erotischen Damen, die Maljanow und besonders Sachar heimsuchen, die unerklärlichen Schnaps- und Kaviarlieferungen, schließlich Snegowois rätselhafter „Selbstmord“ – das muss doch einen Grund haben. Schließlich jagt Maljanow dieser Igor Petrowitsch, der geradezu kumpelhafte, aber reichlich zwielichtige Abgesandte des Staatsanwalts, und seine zwei Schergen Angst ein.

Kein Widerruf

Nach einem emotionalen Zusammenbruch in der Armen Irka, die ihn ob eines vergessenen Büstenhalters der Untreue bezichtigte, kommt Maljanow zu einer Erkenntnis: So kann es nicht weitergehen. Er bangt um seinen Sohn Bobka und um seine Schwiegermutter, die aus ungeklärten Gründen nach Leningrad aufgebrochen sind. Wenn ihnen etwas zustieße, könnte er das nicht verantworten. Daher also die ultimative Opfergabe zwecks Besänftigung der feindlichen Mächte, seien sie nun politischen oder natürlichen Ursprungs.

Doch er widerruft nicht – im Gegenteil: er schreibt alles auf – daher die aufgefundene Handschrift. Das ist ein Risiko, das er eingeht. Der Dank folgt auf dem Fuße: Auf einmal sprießt im Hof der Plattenbausiedlung ein prächtiger Baum. Es gibt noch Hoffnung.

Die Übersetzung

Die Übersetzung erfolgte nicht durch Heyne, sondern 1980 durch den DDR-Verlag Volk und Welt, Berlin. Durch die unterschiedlich verlaufene Entwicklung der deutschen Sprache in den getrennten Ländern findet der West-Leser deshalb noch Vokabular, das westlich der Zonengrenze nur noch in Dialekten vorkam, so etwa „Dez“ für „Kopf“.

S. 125: „Ges[e]tz“. Das E fehlt.

S. 132: „Keine[n] Unannehmlichkeit der Welt“: Das N ist überflüssig.

S. 152: „sich mit … befas[s]en.“ Das zweite S fehlt.

S. 171: „Das ist vielleicht der Grund, warum wir [so sind], wie wir sind…“ Zwei Wörter fehlen, um den Satz einen Sinn zu verleihen.

Unterm Strich

Der kurze, lebhafte und häufig humorvoll-komische Roman zählt die Gründe auf, warum es eine Bedrohung der Gemeinschaft der Wissenschaftler in Leningrad geben muss. Aber er zählt auch auf, warum man dieser Bedrohung letzten Endes nicht nachgeben darf. Ein Resümee wird erreicht, und etwas ereignet sich, das Hoffnung einflößt.

Doch wenige Erklärungen werden gegeben, denn fast alles spielt sich im Verstand der Beteiligten ab. Action gibt es nicht, nicht einmal erotische. Soll dies ein Märchen sein, wie uns manche Lexika (Heyne) weismachen wollen? Wohl eher nicht, denn letzten Endes geht es um die Verwertung der verschiedenen Entdeckungen und Erkenntnisse. Sie können nicht einfach so publiziert werden. Sie müssen in die Gesellschaft getragen und von höherer Stelle genehmigt, abgesegnet werden.

Der Wächterrat, der Knirps mit dem roten Haar, die Superzivilisation – alle sind nur Metapher für die sowjetischen Wächterinstitutionen, die dem allmächtigen Zentralkomitee der Partei gehorchen. Das Auftauchen des Ermittlers der Staatsanwalt genügt, um Maljanow, unseren heldenhaften Chronisten, beinahe zur Kapitulation zu bringen – so große Angst hat er bereits verinnerlicht. Es gibt für ihn keinen Rechtsschutz, im Gegenteil: Das Recht gehört hier immer dem Stärkeren. So gesehen, beleuchtet der Roman die psychologischen Zustände der Forscher in einem Unrechtsstaat, der das System der Bespitzelung (etwa durch die Stasi) und des Terrors zur Perfektion getrieben hat. Kein Wunder, dass am Ende Galgenhumor aufkommt.

Ich habe den Roman in nur zwei Tagen gelesen. Maljanows Chronik ist lebhaft, komisch, sinnlich, anrührend und wird nur in der zweiten Hälfte von längeren Dialogen unterbrochen. Ich wunderte mich indes, wie viele Flaschen Kognak, Wein, Wodka und Kannen von Tee hier in kürzester Zeit vernichtet werden, wie viel geraucht wird und warum keiner einen Herzinfarkt erleidet. Sowjetische Zustände, sowjetische Helden.

Taschenbuch: 190 Seiten
Info: Sa milljard let do konza sweta, 1976/77; Verlag Volk und Welt, Berlin 1980; Heyne, 1981, München, Nr. 06/ 3809
Übersetzt von Welta Ehlert.
www.heyne.de

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