Edgar Allan Poe – Faszination des Grauens. 11 Meistererzählungen

Schauergeschichten: Grusel aus der B-Liga

Der Band mit Erzählungen von Edgar Allan Poe versammelt die bekanntesten Geschichten wie etwa „Grube und Pendel“ oder „Das verräterische Herz“, bringt aber auch weniger bekannte wie „Eine Geschichten aus den rauhen Bergen“ und „Der Alb der Perversheit“. Alle Geschichten sind mit Anmerkungen versehen.

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan der Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Short Story. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Short Story („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert. In nur 17 Jahren des Publizierens.

Die Erzählungen

1) William Wilson

William Wilson entwickelt sich zu einem Meister im Ecarté-Spiel und droht in einem entscheidenden Spiel Lord Glendinning zu ruinieren. Da taucht der Andere erneut auf, wenn auch vermummt bis über die Nase, und entlarvt das „Original“ als Falschspieler. Doch selbst als der Träumer bis nach Venedig reist und sich beim Karneval an eine liebliche Signorina heranmacht, kann er seinem Doppelgänger nicht entgehen, der sich auch diesmal wieder als Spielverderber zu betätigen versucht. Es kommt zu einem Degenduell, das über Leben und Tod entscheidet. Wer siegt, soll hier nicht verraten werden.

Mein Eindruck

In dieser frühen Erzählung Poes übernimmt er das romantische Thema des Doppelgängers von ETA Hoffmann, dessen „Nachtstücke“ er ebenso kannte wie „Das Fräulein von Scuderi“ (1819). Mehrere Male wehrt der Schutzengel-Doppelgänger eine Tat des Bösen ab, die William Wilson vorhat. Hier treffen gesellschaftliches Über-Ich auf die inneren Impulse des Ichs und vor allem des Es, um mal mit Freud zu sprechen. Später nennt Poe die Impulse des Es den „Alb der Perversheit“, der selbst den besten Interessen des Ichs zuwiderhandelt und so ironischerweise die Anforderungen des Über-Ichs, nämlich Buße und Sühne, erfüllt.

2) Der Massenmensch

Der gerade von einer schweren Krankheit genesene Ich-Erzähler sitzt eines Tages in einem Café in London und teilt die Passanten in Klassen ein. Er ist offenbar ein genauer Beobachter. Da bemerkt er einen ungewöhnlichen, alten Mann, weil er aussieht wie der „Erzfeind“, der Teufel, persönlich. Er folgt ihm den ganzen Tag hindurch, wie der sich durch die Menge schiebt und nirgendwo eine Rast einlegt, um sich zu stärken oder zu ruhen. Nein, der Mann, der Dolch und Diamant unter seinem Mantel stecken hat, sucht immerzu nur die Menge. Und als sich ihm sein Verfolger in den Weg stellt, schaut er nicht auf, sondern umgeht ihn einfach.

Mein Eindruck

Die ungewöhnliche, völlig handlungslose Story ist die detailliert beobachtende Studie eines neuen psychologischen Typus, wie er nur in der Stadt vorkommt: der Mensch, der nur zufrieden ist, wenn er in einer Menschenansammlung anonymen Kontakt findet. Dass dieser Typ keine menschlichen Bedürfnisse an den Tag legt, macht ihn zu unheimlich. Poe schreibt ihm Schuld zu, aber woher diese rührt, bleibt unklar. Der Leser sollte nicht den Fehler machen, den Erzähler ebenfalls für einen Massenmenschen zu halten, denn der ist das genaue Gegenteil: idiosynkratisch, abgehoben, nicht-teilnehmend.

3) Grube und Pendel

Er erwacht in der Zelle eines Mönches, die sich im Kloster von Toledo in Spanien befindet. Am Kopf hat er eine schwere Wunde davongetragen, die eine freundliche Nonne namens Schwester Berenike mit Kräutern behandelt. Hat er diese Wunde im Krieg davongetragen, der sich Toledo in Form napoleonischer Truppen nähert? Man schreibt das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, und die Situation Toledos ist alles andere als sicher.

Wie sich herausstellt, haben ihn die Mönche niedergeschlagen, weil sie ihn für einen Spion der Franzosen hielten. Im Kloster herrscht die als grausam verrufene Inquisition der katholischen Kirche, und es herrscht eine Art Torschlusspanik. Der scheinbar freundliche Abt, der das Kloster leitet, verfügt über eine bemerkenswerte Standuhr: in das Zifferblatt sind Löcher für vier Finger eingelassen und das Pendel ist rasiermesserscharf zugeschliffen. Ein Omen? O ja, und nicht nur für Schwester Berenike, die hier eigentlich nur zu Besuch ist. Kurz zuvor sei der Bruder Botanicus gestorben, erzählt sie.

Das Kloster ist in der Tat das Gegenteil eines Kurortes: Als sich der Erzähler einmal in einem Krug Wasser von einem Auslassrohr holt, bemerkt er zu spät, dass es sich um fast pures Blut handelt. Es stammt von den in den Gewölben gefolterten Opfern der Inquisition. Als er und Berenike vor Entsetzen um Mitternacht fliehen wollen, stoßen sie auf einen Leichentransport, der gerade das Kloster verlässt: Auf dem Karren liegen zerschnittene und von Ratten angefressene Körperteile. Sekunden später werden die beiden Flüchtlinge gefangengenommen und später vom Abt verurteilt, damit das Geheimnis des Klosters gehütet wird.

Der Erzähler erwacht in einem lichtlosen Gewölbe neben einem Schacht, mit Riemen festgebunden auf einen Block: neben sich Ratten, über sich ein riesiges rasiermesserscharfes Pendel, das hin und her schwingt, sich dabei aber unaufhaltsam auf den Wehrlosen herabsenkt…

Mein Eindruck

„Grube und Pendel“ treibt den Horror auf eine bis dato unerreichte Spitze: Folter durch die Inquisition, ein mysteriöser Todesfall, Gift im Wasser, ominöse Pendeluhren und schließlich der klaustrophobische Höhepunkt unter dem Pendel selbst. Kulturell gesehen herrscht im Kloster noch finsterstes Mittelalter, bis Napoleons Truppen Freiheit, Licht und Leben bringen. Der Abt verkörpert die Willkürherrschaft der katholischen Kirche in Spanien. Es herrscht Torschlusspanik, und die Entwicklung der Dinge treibt auf einen Höhepunkt zu.

4) Das verräterische Herz

Der verrückte Ich-Erzähler plant detailliert den perfekten Mord an einem alten Mann, dessen eines „Geierauge“ ihm Furcht und Wut einflößt. Die Tat gelingt, doch aufgrund seines überfeinen Gehörs vermeint der (wahnsinnige) Bösewicht, das Herz des Getöteten wieder schlagen zu hören, justament als er die Polizei im Hause hat…

Mein Eindruck

Wahnsinn, überfeinerte Sinne und vorzeitige Beerdigung sind die Standardthemen Poes. „Das verräterische Herz“ ist kurzer, psychologischer Thriller um Schuld und Sühne. Er ist nicht nur sehr anschaulich geschildert, sondern auch zu einem grauenerregenden Finale hin konzipiert.

5) Der schwarze Kater

Der Erzähler ist der trunksüchtige Ehemann einer zartfühlenden und tierlieben Gattin. Sie hat als liebstes Haustier einen Kater namens Pluto, der laut schnurrt, wenn man ihn streichelt. Das tut der Ehemann jedoch nie. Im Gegenteil: Die Augen der Katze lassen ihn sich irgendwie schuldig fühlen, dass die Unmäßigkeit, der sich hingibt, und die Misshandlungen, die er an seiner Frau begeht, ein großes Unrecht seien. Im Vollrausch sticht er Pluto ein Auge aus, später erhängt er das wehrlose Tier. Bei einem Feuer brennt das Haus bis auf die Grundmauern nieder und das Ehepaar muss umziehen.

Um diese Gedanken der Schuld zu vertreiben, ertränkt er sie immer öfter in Alkohol. Bis er schließlich auch im Wirtshaus eine schwarze Katze bemerkt, die er mit nach Hause nimmt. Doch aus Zuneigung wird schon wieder Hass und Abscheu gegen das vermaledeite Katzenvieh.

Als er auf der Kellertreppe über es stolpert, will er es töten, doch seine Frau fällt ihm in den Arm. Er schlägt ihr den Schädel ein und mauert die Tote in einem „blinden“ Kamin (der nirgendwo hinführt) im Keller ein. Die Katze jedoch ist verschwunden und er kann wieder selig schlafen, selbst nach dem Mord. Doch der Fluch der bösen Tat fordert Sühne…

Mein Eindruck

Die Story ist ein psychologischer Thriller um Schuld und Sühne, mit einem typischen Poe-Motiv: lebendig begraben sein. Doch das Neue an der Geschichte besteht darin, dass die Bestrafung nicht von außen erfolgt, etwa durch göttliche oder fürstliche Intervention. Vielmehr kommt dieser Impuls von innen, aus der Psyche des unbestraften Verbrechers selbst: Er muss sich selbst entlarven, um Erlösung von der Last seiner Schuld zu erlangen. Schon lange vor Freud also wird tiefer schürfende Psychologie als Triebfeder einer Story-Handlung eingesetzt.

6) Eine Geschichte aus den rauhen Bergen

Ein melancholischer alter Mann namens August Bedloe wandert eines Morgens im Jahre 1827 im Morphiumrausch in die besagten Virginia-Berge und hat dort zwei Visionen. In der ersten sieht er einen Mann, der vor einer Hyäne Reißaus nimmt. Hyänen in Virginia? Bedloe kneift sich und wandert weiter.

Als nächstes erblickt in einem weiten Tag eine orientalische Stadt an einem mächtigen Strom. Er nimmt an der Verteidigung des Stadtpalastes gegen einen aufständischen Pöbel teil, wird aber tödlich verwundet. Stunden später erwacht er an der Stelle der ersten Vision und kehrt heim. Sein Arzt erklärt: „Sie sahen, was ich selbst 1780 in Benares bei einem Aufstand erlebte, bei dem der Offizier Obled starb.“ In Bedloes bald folgendem Nachruf steht Obled umgekehrt geschrieben: Bedlo.

Mein Eindruck

Ein klarer Fall von Seelenwanderung also? Möglicherweise greift Poe das romantische Gedankengut der Gothic Novel (1764-1798) auf, die dann von Jane Austen in „Northanger Abbey“ karikiert und verspottet wurde. Das, was die Seele in Extremzuständen anzustellen vermag, wird in den folgenden Erzählungen noch viel bizarrer.

7) Das vorzeitige Begräbnis (The premature burial, 1844)

Nach einer Aufzählung von Berichten über tragische Fälle von Scheintoten und vorzeitigen Begräbnissen berichtet unser Chronist von seiner eigenen Neigung, in Katalepsie zu fallen. Er hat extreme Angst davor. Um zu verhindern, dass man ihn aus Versehen lebendigen Leibes begräbt, trifft er gewisse Vorkehrungen. Man kann sich seinen Schrecken ausmalen, als er sich dem Ernstfall gegenübersieht, aber keinen Ausweg findet! Doch der Schluss ist erleichternd, als er erkennt, dass es sich nicht um einen Sarg handelt, sondern lediglich um eine Schiffskoje.

Mein Eindruck

Auch in dieser Erzählung wie in den folgenden untersucht der Autor die Grenzregion zwischen Leben und Tod. Diesmal steht der Erlebende allerdings nicht unter Morphium, sondern erliegt einfach einem Alptraum, induziert durch seine permanente Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden.

8) Mesmerische Offenbarung (Mesmeric revelation, 1844)

Der Berichterstatter ist ein Hypnotiseur, der einen Lungenkranken namens Vankirk behandelt, um dessen Leiden zu lindern. In letzter Zeit hat sich Vankirks Befinden verschlechtert, und so kommt es, dass der Patient wünscht, eine letzte Konversation im hypnotisierten Zustand zu führen. Der Hypnotiseur befragt ihn, und Vankirk antwortet.

Die Themen sind Gott, Geist, Materie, Äther, Himmelskörper, Gedanken vs. Empfindungen, organisch vs. anorganisch und dergleichen philosophische Fragen mehr. Am Schluss erfüllt ein hell-heiteres Lächeln das Gesicht des Sprechers – doch die Glieder sind bereits starr und kalt. Wie kann das sein, fragt sich der Hypnotiseur. Für gewöhnlich braucht die Leichenstarre eine ganze Weile, bis sie eintritt…

Mein Eindruck

Die esoterische Modewissenschaft Mesmerismus (nach einem gewissen Monsieur Mesmer) wurde auch als Magnetismus bezeichnet und erregte seinerzeit – also zwischen 1840 und 1850 – einiges Aufsehen. Sogar Justinus Kerner behandelte damit in den 1820er Jahren eine Frau namens Friederike Haufe im württembergischen Städtchen Weinsberg (wo sich heute ein berüchtigtes Autobahnkreuz befindet). Mesmerismus ähnelt der Hypnose, wird aber anders angewandt. So ist des Öfteren die Rede von „Strichen“, ohne dass klar wird, was damit gemeint ist.

Wie schon an den Themen abzulesen, ist die Erzählung sehr philosophisch. Nichtsdestotrotz wurde sie vom zeitgenössischen Publikum für bare Münze genommen und als Tatsachenbericht aufgefasst, so dass sich Charles Baudelaire, der Poe als erster in Europa popularisierte, diesen Text als ersten übersetzte.

Poe interessierte sich sehr für diese Sache und schrieb mehrere essayistische Erzählungen wie diese darüber, so auch die „Die Tatsachen im Fall Valdemar“. Er versicherte sich fachlicher Beurteilung, und wohl dem Leser, der sich mit Swedenborg auskennt. Was daran allerdings grauenhaft sein soll, entzieht sich meinem Verständnis – es sei denn, man meint damit die verquaste Rhetorik des Textes.

9) Der Alb der Perversheit

Der Ich-Erzähler hat den perfekten Mord begangen, um das Opfer beerben zu können. Doch der „Geist der Perversität“ veranlasst ihn, der völlig vor Strafverfolgung sicher ist, wider besseres Wissen seine Schuld öffentlich zu bekennen. Dies ist lediglich das praktische Beispiel für eine länger ausgeführte Theorie.

Mein Eindruck

Dieser Erzählung ist nicht sehr unterhaltsam, sondern sehr theoretisch und erinnert streckenweise an einen Essay. Dieser postuliert, dass der titelgebende Dämon zu den Grundregungen des menschlichen Herzens gezählt werden müsse: der Drang, etwas Verbotenes zu tun, gerade weil es verboten oder widersinnig sei, und dadurch den eigenen Untergang herbeizuführen. Siehe dazu auch „Das verräterische Herz“. Das Nachwort äußert sich erhellend zu dieser Geschichte.

10) Die Tatsachen im Falle Waldemar

In der Erzählung verlängert Poe damit die Existenz der Seele von M. Waldemar, einem Opfer der Schwindsucht, nach dem Ableben des hinfälligen Körpers. Alles Schritte beim Vorgehen werden minutiös aufgezeichnet, so dass ein sehr realistischer Eindruck entsteht. Kann der Einzug des Todes in den Körper von M. Waldemar wirklich aufgehalten werden, lautet die Kardinalfrage. Doch es gibt eine ziemlich grässliche Pointe.

Mein Eindruck

Der Ich-Erzähler weiß seine (inzwischen verfilmte) Geschichte von der Aufhebung des Todes wohldosiert zu vermitteln. Das Unbehagen an der ganzen unnatürlichen Sache wächst, bis ganz am Schluss, im letzten Satz, das Grauen mit voller Wucht zuschlägt: das ist die „punch-line“, die den Leser bzw. Hörer in die Magengrube trifft. Poe konnte schon immer sehr effektvoll erzählen, aber hier hat er ein Meisterstück abgeliefert. Die Übersetzung des „Ulysses“-Übersetzers hans Wollschlägers trägt zusätzlich zur starken Wirkung bei. Allerdings wimmelt es vor Fachausdrücken. Aber das ist ja bei Poe stets der Fall.

11) Das Gebinde Amontillado

Warum mauert Montrésor seinen Freund Fortunato im Weinkeller des Familiengutes ein? „By the last breath of the four winds that blow / I’ll have revenge upon Fortunato…“, heißt es in Alan Parsons Song. „Nemo me impune lacessit“ lautet das Motto der Familie Montrésor: „Niemand beleidige / verletze mich ungestraft“. (Es ist der Wappenspruch Schottlands.) Na, und der überhebliche Fortunato hat seine Strafe sicherlich verdient.

Mein Eindruck

Die spannende Frage lautet, wie man einen ehemaligen Richter auf derart unauffällige Weise in eine Todesfalle lockt, dass dieser keinen vorzeitigen Verdacht schöpft. Wie sich herausstellt, muss der Köder der Falle angemessen sein, und der ist nunmal besagtes Fässchen Amontillado. Dieser edle Tropfen ist offenbar so selten, dass Fortunato nicht glauben kann, dass ein Wicht wie Montrésor in den Besitz einer solchen stattlichen Menge gekommen sein könne.

Es ist ein langer Weg für den Rächer und sein Opfer, bis das Ende der ausgedehnter Weinkellergewölbe erreicht ist. Die Gewölbe gemahnen an die ausgedehnten Kerkergewölbe, von denen Piranesi so eindrucksvoll-düstere Zeichnungen hinterlassen hat. Leider sind Fortunato keine hilfreichen Ratten zu Diensten, als er vom Trunke ermattet niedersinkt und sich alsbald in Ketten sieht…

„Das Fass Amontillado“ spielt in Italien. Das Motiv für die Rache Montrésors an Fortunato ergibt sich aus der Vergangenheit. Mit geradezu hämischem Sarkasmus, den der Rächer fortwährend verbergen muss, führt er sein Opfer zu dessen vorbestimmter Zelle, wo er ihn einmauert. Mögen ihm die Ratten helfen. Man sieht also, dass hier der ausgleichenden Gerechtigkeit gehörig nachgeholfen wird.

Poe erzählt seine Rachestory sehr anschaulich, als habe er sie für einen Film schreiben wollen. Allerdings stammt der letzte verfügbare Wortlaut gar nicht von ihm selbst, sondern von seinem schlimmsten Feind Griswold, der seinen Nachlass verwalten durfte…

Anmerkungen und Nachwort

Der Herausgeber erklärt, welche Ausgabe als Textgrundlage für die Übersetzung verwendet wurden – mitunter solche, in denen Poe noch handschriftliche Korrekturen angebracht hatte. In den Anmerkungen werden Zitate belegt und lateinische Zitate übersetzt, nicht aber französische (!). Zudem finden sich stellenweise kritische Anmerkungen zu Poes Fehlern. Eine biografische Zeittafel beschließt den Anhang.

Im Nachwort beleuchtet der Wissenschaftler den Wert und die Eigenart von Poes Schauergeschichten. Er weist die Auffassung von sich, dass der Erzähler in diesen Geschichten biografische Identität bzw. Ähnlichkeit mit dem Autor aufweist. Auch verrieten sie keine krankhafte Veranlagung zu Sünde, Verbrechen und dergleichen. Die Theorie, es müsse stets eine kranke Frau vorkommen, weil Poes Frau Virginia Clemm 1847 an TBC starb, wird ebenso widerlegt: Solche Frauen traten schon in den 1830er Jahren auf.

Zum Schluss schaut sich der Wissenschaftler die Poetik Poes an, die der Autor in mehreren fundierten Essays darlegte. Ziel war stets die Einheit der Wirkung“, das poetischste Motiv sei der Tod einer schönen Frau, und das Ziel sei die „excitement“ des Lesers und der Leserin, also die emotionale Unterhaltung. Didaktik und Belehrung lehnte Poe jedoch strikt ab, sehr zum Ärger seiner zahlreichen Widersacher.

Die Übersetzungen

Nur „William Wilson“ wurde von Arno Schmidt übersetzt, und zwar gleich mit einem dicken Fehler auf Seite 11.

S. 11: „Dieser mein Namensvetter … war es, der sich[er] herausnahm …“ Die Silbe „er“ ist überflüssig. Man nimmt „sich“ etwas heraus, aber nicht „sicher“.

Unterm Strich

Die nachhaltigste Wirkung hat Poe mit seinen phantastischen Erzählungen erzielt, deren größter Teil 1840 unter dem Titel „Tales of the Grotesque and Arabesque“ erschienen. Er griff dabei zwar des Öfteren auf den Motivkreis des Schauerromans zurück und steht dabei deutlich in der Nachfolge der dämonisch verfremdeten Welt E.T.A. Hoffmanns, führte jedoch das Genre durch eine verfeinerte Figurenpsychologie und eine virtuos poetisierte Erzählsprache zu einem neuen Höhepunkt. Leider fehlen diese Erzählungen wie etwa „Eleonora“, „Morella“ oder „Ligeia“ in der vorliegenden Auswahl.

Vorherrschend sind drei Typen von Erzählansätzen. Die Wechselwirkung von fremdartigem Schauplatz und unheimlichen, oft übernatürlichen Ereignissen bestimmt die mittelalterliche Pestgeschichte „Die Maske des Roten Todes“ ebenso wie „Froschhüpfer“ und „Der Fall des Hauses Usher“. Die zweite Kategorie bilden die Geschichten, in denen die Protagonisten physisch und psychisch in eine oft ausweglose tödliche Bedrohung geraten, wie „Das verräterische Herz“, „Grube und Pendel/Die Foltern“ oder „Das Fass Amontillado“. Solche Geschichten sind hier eher versammelt.

Es finden sich aber auch genaue Beobachtungen wie der „Massenmensch“, der zunächst wie ein ganz normaler Stadtbürger aussieht, aber zunehmend eine unheimliche Präsenz entfaltet, so dass man es sich zweimal überlegt, ob man abends noch auf die Straße geht. Die Rolle der Psychologie kommt auch in den Verbrechergeschichten „Der schwarze Kater“ und „Das verräterische Herz“ zum Tragen. Die Sühne für die Untat wird nun von innen angestoßen und nimmt so Freud vorweg. Ein weiterer Komplex bildet das Thema Hypnose, Scheinleben, Scheintod – und die damit verbundenen Erkenntnisse aus diesem Grenzbereich zwischen Leben und Tod.

„Meistererzählungen“ sind diese Beiträge wahrlich NICHT, insofern erscheint mir dieser Anspruch als Etikettenschwindel. Wie gesagt, fehlen die allerbesten Erzählungen Poes in dieser Auswahl, so dass mir diese Auswahl als B-Liga erscheint. Bemerkenswert ist vor allem, dass Arno Schmidt die Erzählung „William Wilson“ übersetzte, die anderen übertrug Hans Wollschläger (der ja auch Karl May neu herausgab).

Taschenbuch: 211 Seiten
Info: aus dem US-Englischen von Arno Schmidt und Hans Wollschläger, Nachwort von Ulrich Broich
www.dtv.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)