Brian W. Aldiss – Der Moment der Eklipse. SF-Erzählungen

Spekulative Entwürfe der nahen Zukunft

„Kritiker und Leser sind sich einig, dass Kurzgeschichten von Brian W. Aldiss, ein mit dem HUGO, dem NEBULA und dem DITMAR AWARD ausgezeichneter Autor, zum Besten gehören, was die zeitgenössischen SF zu bieten hat. Ideenreich und witzig stellt Aldiss statt der Technik den Menschen in den Mittelpunkt und fragt nach dem menschlichen Standort im Kosmos. Die neueste Sammlung seiner Kurzgeschichten findet sich in diesem Band.“ (Verlagsinfo von 1983)

Diese Sammlung aus dem Jahr 1970 erschien 13 Jahre später bei Bastei-Lübbe. Die in der Originalausgabe enthaltene Erzählung „Superspielzeug hält den ganzen Sommer „(Supertoys Last All Summer Long) fehlt in der deutschen Ausgabe. Auf ihr basiert der Spielberg-Spielfilm „A.I.“.

1972 errang Aldiss für diese Kurzgeschichtensammlung den BSFA Award der British Science Fiction Association.

Der Autor

Brian W. Aldiss (geb. 1925, gest. 2017) ist nach James Graham Ballard und vor Michael Moorcock der wichtigste und experimentierfreudigste britische SF-Schriftsteller. Während Ballard nicht so thematisch und stilistisch vielseitig ist, hat er auch nicht Aldiss’ ironischen Humor.

Aldiss wurde bei uns am bekanntesten mit seiner Helliconia-Trilogie, die einen Standard in Sachen Weltenbau in der modernen SF setzte. Das elegische Standardthema von Aldiss ist die Fruchtbarkeit des Lebens und die Sterilität des Todes. Für „Hothouse“ („Am Vorabend der Ewigkeit“) bekam Aldiss den HUGO Award. Er hat auch Theaterstücke, Erotik, Lyrik und vieles mehr geschrieben. Gestorben 2017 wurde er 92 Jahre alt.

Die Erzählungen

1) Der Moment der Eklipse (The Moment of Eclipse)

Der Ich-Erzähler ist ein älterer Filmemacher auf der Suche nach Inspiration. In Kopenhagen lernt er eine dänische Dichterin namens Christiania kennen, die zwar schon verheiratet ist, aber mit ihm die gleiche Erinnerung teilt: die Camera Obscura von Aalborg auf Jütland. Von diesem Raum war er zum Film angeregt worden. Nun sucht er jemanden, der mit ihm Thomas Hardys Gedicht „An eine Mondfinsternis“ in ein Filmdrehbuch umsetzen kann. Doch die Dichterin ist skandalumwittert: Wie er herausfindet, hat sie zwar nicht ihren Sohn Petar ermordet, aber immerhin das Lager mit ihm geteilt. Er findet, das mache sie nur umso attraktiver. Leider will sie schon am nächsten Tag abreisen: nach Afrika, um ihren Mann zu begleiten.

In dem Bemühen, sie wiederzusehen, ergreift er die Gelegenheit beim Schopf, in Afrika einen Film über das Land Nigeria zu drehen. Leider brechen Aufstände zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden aus, die verhindern, dass er seiner Traumfrau nahekommt. Stattdessen handelt er sich eine Krankheit ein, die erst Jahre später zum Ausbruch kommt. Wenigstens wird sein hier gedrehter Film „Ein paar Eklipsen“ ein Hit auf den Filmfestivals, und er bekommt weitere Aufträge.

Zwei Jahre später entdeckt er Christiania wieder, oder zumindest ihren Sohn Petar. So stellt er den Kontakt her. Er liegt im Bootshafen vor Cannes mit seiner Yacht, als er Christiania einlädt, ihn an Bord zu besuchen, für ein Dinner und ein Date. Ausgerechnet an diesem Abend, an dem endlich die Bahn frei ist, verdunkelt etwas sein Blickfeld auf dem rechten Auge, und Panik ergreift ihn: Er hatte schon den ganzen Tag das Gefühl, von etwas besessen zu sein, und dass es ganz real sei. Ausgerechnet als sie eintrifft und er die Drinks holt, packt ihn der Dämon mit aller Macht. Er schreit auf, Christiania flüchtet angstvoll und lässt ihn auf dem Boden zurück, um Hilfe zu holen….

Mein Eindruck

Die Erzählung wirkt wie eine „Condensed Novel“ von J.G. Ballard: Sie umfasst mehrere Jahre, die einer Leidenschaft gewidmet sind, der nach einer bestimmten Frau, mit der die Hauptfigur ein Erlebnis teilt. Doch die Verfolgung kostet einen Preis: eine Besessenheit. Just im Moment der anstehenden Erfüllung seiner Sehnsucht, verdirbt diese Besessenheit den Moment, wie eine Sonnenfinsternis (Eklipse). Der Dämon könnte als Verkörperung eines Schuldbewusstseins verstanden werden, denn immerhin wünscht sich der erlebende Mann den Ehebruch der ersehnten Frau herbei. Doch diese ist ihrerseits gebrandmarkt: Sie soll Inzest begangen haben. Was genau passiert, bleibt der Vorstellungskraft des Lesers überlassen.

2) Am Tag des Aufbruchs nach Cythera (The Day We Embarked for Cythera)

Drei Schauspieler treffen sich auf einem Gräberfeld: Bryan, Clyton und Portinari. Sie werden von mehreren mechanischen Automaten wie etwa einer Colombine (aus der Commedia dell’Arte) und einem „Bergzwerg“ begleitet und unterhalten. Doch sie werden auf dem Festland zu ihrem nächsten Auftritt erwartet und müssen sich bald einschiffen. Es ist ein Moment des Übergangs, transitorisch. Bryan behauptet, das einzige permanente Glück bestehe im Transitorischen, Vergänglichen. Doch ein Junge sagt: „Vielleicht ist die Wahrheit ein Unfall. Vielleicht sind wir zu ungenau, um zu überleben.“ Das gibt Bryan sehr zu denken. Überleben?

Unterdessen jagen die mechanischen Raubtiere quer durch Wüste, Steppe und Wald nach Fahrzeugen und bringen nicht nur diese Mechanismen zur Strecke, sondern auch deren Insassen. Diese haben keine Chance auf Überleben.

Mein Eindruck

Die Geschichte liest wie ein barockes Idyll, wie es auf dem berühmten titelgebenden Gemälde „Die Einschiffung nach Kythera“ (der Insel der Liebesgöttin) zu sehen ist. Doch da alle – vielleicht mit Ausnahme der drei Schauspieler – mechanisch sind, stellt sich der Sinn nach dem Ganzen: Alles Mechanische ist vergänglich, transitorisch. Insbesondere dann, wenn es von den Raubtieren als Beute betrachtet wird. Bryan hat also vielleicht recht. Die Nebenszenen mit den jagenden Raubtieren, die Jagd auf Fahrzeuge machen, erinnert an J.G. Ballards Phantasmagorien des Mechanischen in „Crash“ und „Die Betoninsel“.

3) Die Orgie der Lebenden und der Toten (Orgy of the Living and the Dying)

Der nach England emigrierte Schweizer Tancred Frazer lebt anno 2001 als UNO-Hilfswerkmitarbeiter in der tiefsten indischen Provinz, etwa 100 km von der nepalesischen Grenze entfernt, in einem Hungergebiet. Während seine Ehefrau, die noch im englischen Hampshire lebt, telefonisch mit ihm Kontakt aufzunehmen versucht – das Fest netz befindet sich auf dem Stand von 1950 oder 1960 -, frönt er dem Ehebruch mit der schönen Ärztin Sushila Nayyer.

Beim Liebesspiel wird er abrupt vom Anruf des UNO-Stationskommandanten Frank Young unterbrochen: Es habe einen Notruf aus Baghapur gegeben, dem er, Young, Folge leisten müsse, doch Frazer solle hier in Chandanagar die Stellung halten – zusammen mit dem pakistanischen Manager Kisari Mafatlal, der zwar gute Umgangsformen, aber wenig Sinn für Diskretion hat: Er redet über Frazers Affäre mit Sushila. Frazer ist schwer genervt. Ebenso nerven ihn aber die Stimmen in seinem Kopf: Sie liefern indes nur Satzfetzen, als entstünden sie aus Assoziationen. Erst viel später stößt er auf deren Quelle.

Frazer hält es in der Hitze der verdorrten Wüstenei, die dem ausbleibenden Monsunregen entgegenlechzt, nicht mehr aus und drängt Sushila, nach Faizabad zu fahren, um sich zu vergnügen. Sie warnt ihn davor, seinen Posten zu verlassen, gibt aber nach. In Faizabad ist das Liebesspiel eher gewalttätig und sie bewirft ihn mit einer Vase. Frustriert kehren sie zurück nach Chandanagar, doch das Tor ist versperrt: Banditen haben das Flüchtlingsdorf überfallen, um sich die UNO-Nahrungsvorräte unter den Nagel zu reißen.

Die Wachen und Mafatlal, Frazers Stellvertreter, haben sie niedergerungen. Nun werden Frazer und Sushila zu ihnen gesperrt. Im Keller entdeckt Frazer nicht nur die Quelle seiner Stimmen, sondern auch ein Mittel, um die Banditen außer Gefecht zu setzen, bis die UNO-Truppe eintrifft, die Mafatlal alarmiert hatte…

Mein Eindruck

Bekanntlich hat der Autor nach dem 2. Weltkrieg, in dem er kämpfte, etliche Jahre in Südostasien verbracht. In Dieser Geschichte beschreibt er den Zusammenprall der westlichen und indischen Kultur im Kopf von Tancred Frazer. Sushila gibt ihm richtig gut Bescheid: Er sei ein Kaputtmacher, und zwar vor allem weil in seiner westlichen Heimat eine andere Art von Hungersnot herrsche: „Die Menschen hungern nach Liebe.“ Und die suche er an ihrem, Sushilas, Busen. Daher rühre seine Besessenheit, sie sexuell zu konsumieren. Doch diese Art von Liebe sei nicht von Altruismus, sondern von Egoismus geprägt – und somit Teil seiner Kaputtmacherei. Was die spezielle Befreiungsmethode angeht, darf hier nichts verraten werden.

4) Der Dorfschwindler (The Village Swindler)

Jane Pentecouths Vater ist am Ende seiner Eisenbahnreise quer durch Indien mit einem Herzanfall zusammengebrochen. Jane, seine Tochter, ist froh, als Dr. Chandhari dafür sorgt, dass ihr Vater in dessen Haus in Naipur Road professionelle Hilfe erhält. Während sie darauf wartet, dass er sich erholt, macht sie mit Amma Chandhari, der Tochter des Doktors, einen kleinen Ausflug zu einer Frau, die offenbar krank ist. Ihr Vater, so erzählt sie selbstbewusst, wolle herausfinden, wo das eine Prozent, das die Europäische Union von ihrem Bruttosozialprodukt an Indien spenden will, am besten angelegt wäre. Amma lächelt nur.

Als Jane vor dem Haus der alten Frau, die Amma besuchen wollte, am Stadtrand wartet, erweckt ein nahezu unbekleideter Mann ihre Aufmerksamkeit. Er will ihr unbedingt eine wertlose Messingvase für zehn Rupien verkaufen, um von dem Erlös seine hungernde Familie zu ernähren. Jane weigert sich, ihm etwas zu geben. Seine hartnäckige Verfolgung macht ihr Angst. Sie ist froh, dass Amma sie vor dem alten Bettler „rettet“. Amma verrät ihr, dass die Familie des Bettlers, eines Parias, die Pocken habe. Wenigstens gebe es in Uttar Pradesh noch keine Pest.

Janes Vater erleidet einen weiteren Herzinfarkt. Dr. Chandharis Diagnose ist eindeutig: Der Europäer brauche dringend ein neues Herz, und Dr. Menon in Kalkutta könne es ihm einpflanzen. Diese geradezu intime Nachricht spricht sich zu Janes Verlegenheit sofort in der ganzen Stadt herum. In der folgenden Nacht kommt der alte Bettler erneut zu ihr, um ihr das Wertvollste anzubieten, das er besitzt: sein Herz. Als sie Amma davon erzählt, lächelt diese wieder, denn sie ahnt, was Jane getan hat…

Mein Eindruck

Die Botschaft, die der Autor hier vermittelt, ist wohl, dass Indien nicht durch Almosen wie ein winziger Anteil am europäischen Beispiel nicht zu helfen sei. Denn das größte Hindernis lässt sich mit keiner Methode der Europäer beseitigen: die Kastenstruktur. Dr. Chandhari gehört zur höchsten Kasten, den Brahmanen, doch der kranke Bettler steht außerhalb des Kastensystems: einer der Unberührbaren. Niemand, der noch bei Verstand ist, würde es wagen, ihm irgendetwas zu geben. Selbst wenn der Paria sein eigenes Herz anbietet…

5) Die hochführende Rolltreppe hinab (Down the Up Escalation)

Bruce Hartwell ist Buchverleger, und diesmal soll er das Manuskript von Tante Lauras Autobiographie lesen. Es ist bestimmt todlangweilig. Er nimmt lieber noch einen Schluck Whisky, was ihm aber gar nicht gut tut. Er hat einen Zusammenbruch. Während ihn seine Frau Ellen pflegt, deliriert Bruce von dem, was er über das TV aufgeschnappt hat, nämlich Berichte über den Vietnamkrieg (vor 1970).

So kommt es, dass er träumt, er könne zusammen mit einem Engel Gottes ein oder sogar zwei Kinder aus Vietnam retten. „Nur ein Leben für ein Kind“, schränkt der Engel ein. Dass er ein Baby zurücklassen muss, macht Bruce ziemlich unglücklich. Gegen den Horror dieser Nahtoderfahrung gibt es nur ein Mittel: Tante Lauras Manuskript, quasi als Sedativum.

Mein Eindruck

Ein sehr ironischer Text aus Assoziationen, wie er für die New Wave der sechziger Jahre sehr typisch war. Sieht man einmal von dem schwarzen britischen Humor ab, so bleibt am interessantesten wohl die Haltung des Ich-Erzählers Bruce Hartwell zu den Geschehnissen am anderen Ende der Welt: Schuldgefühle, die das Bedürfnis auslösen, dort helfen zu können. Das Ergebnis ist ein Alptraum.

6) Diese unangenehme Lücke zwischen Leben und Kunst (That Uncomfortable Pause Between Life and Art)

Der Ich-Erzähler, offenbar eine Art Kunstkritiker, besucht eine Ausstellung im Victoria & Albert Museum, die dem Maler William Holman Hunt gewidmet ist. Hunt war einer der Präraffaeliten während der Regentschaft Königin Victorias, und die Präraffaeliten zeigten nicht nur das idyllische Landleben, sondern auch höchst verführerische Frauen, die den Betrachter direkt ins Auge fassten und stets einen sehr roten Mund aufwiesen. Wenn sie nicht gerade eine zweideutige symbolische Geste vollführten.

Während er also über Hunts Bedeutung und Religiosität nachdenkt, kommt er in der Cafeteria mit einer Frau ins Gespräch, die mittlerweile schon den dritten geheiratet hat. Er weilt unten in Cornwall. Mit der Ausstellung können sie nichts anfangen, was die Frage erhebt, was sie an diesem Ort, dem V & A Museum, zu suchen hat. lauert sie auf den Gatten Nummer vier? Wie auch Immer: Unser Chronist wird sich der unangenehmen Lücke zwischen Kunst und Leben bewusst – und geht von dannen, um seine Frau zu treffen, die bei Harrod’s shoppen war.

Mein Eindruck

Die kleine Story platziert zwei Menschen zwischen der Vergangenheit, die von Hunt porträtiert und verewigt wurde, der Gegenwart, die aus Ehe und Arbeit besteht, und der Zukunft, die von „Technopolis“, einem Buch von Calder, vertreten wird. Unser Chronist trägt es bei sich. Er lebt in einem temporalen Konflikt, einer Unbehaustheit in der Gegenwart, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, aber nichts für die Zukunft tut. Man redet aneinander vorbei und bekommt nichts auf die Reihe. So war es schon immer: der Beginn des Verfalls einer Gesellschaft durch Ziellosigkeit, Beziehungslosigkeit und ähnlichem.

Hinweis

Der Erzähler bezeichnet sich als Autor des berüchtigten „Reports über Probabilität A“ ((https://en.wikipedia.org/wiki/Report_on_Probability_A)). Dies ist ein real existierender Roman aus dem Jahr 1967/68, den ich mir in einem Anfall jugendlichen Übermuts mal zugemutet habe. Das Büchlein, das entweder bei Ullstein oder Bastei-Lübbe erschien, ist zwar schmal, aber extrem langweilig. Diese Warnung sollte man unbedingt beherzigen.

7) Konfluenz (Confluence)

Auf dem Exoplaneten Myrin haben die Menschen die einzigen anderen intelligenten Wesen in der Galaxis entdeckt. Dementsprechend hoch sind die Investitionen, um mit den Myrianern zu einer Verständigung zu gelangen. Die Zehnte Expeditionsflotte ist bereits nach Myrin unterwegs. Die höchstentwickelte Kultur auf Myrin, der sog. Konfluenz der Hauptwasser, ist über 11 Mio. Erdenjahre alt, und die Sprache Konfluenzisch ist sogar noch älter.

Leider kann es kein Wörterbuch für die Übersetzung geben, denn Konfluenzisch verfügt über eine Eigenart, weitere Bedeutungen eines Wort oder Ausdrucks auszudrücken, die auf einer konkreten Körperhaltung beruht. Diese muss man sehen, um sie zu verstehen. Zum Glück ist es Rohan Harbottle, dem Wortforscher der 7. Expeditionsflotte, gelungen, ein rudimentäres Wörterbuch zusammenzustellen. Die Bedeutungen der Myrin-Wörter sind, gelinde gesagt, beunruhigend…

Mein Eindruck

Viele Bedeutungen, die Harbottle aufgedeckt hat, betreffen den Körper, dessen Eigenschaften, Beziehungen und Bedürfnisse. Zu diesen Beziehungen gehören zwar das Begehren einer anderen Frau und das Liebemachen, aber auch das Essen eines großelterlichen Verwandten.

Der Text besteht zum Großteil aus solchen Bedeutungen, die im England des Jahres 1970 erheblichen Anstoß erregt haben dürften. Insofern hat sich der Autor einen großen Spaß daraus gemacht, neue Bedeutungen zu erfinden. Er hat SF als „spekulative Fiktion“ aufgefasst, und dass Raumschiffe nach Myrin fliegen, ist lediglich als konventioneller Genre-Aufhänger zu verstehen. Der Rest ist New Wave.

8) Die Häresien gegen den riesigen Gott (Heresies of the Huge God)

Der Chefschreiber Harad IV in der Orthodoxen Universalen heiligen Kirche berichtet und fordert. Man schreibt das Jahr 910 RG nach der Ankunft des Riesigen Gottes (RG), doch vor zehn Jahren hat der RG die Erde wieder verlassen. Harad betet für die Wiederkehr des Gottes und verdammt vier Häresien gegen ihn in Grund und Boden, insbesondere jene des „Schwarzen Gernsheimers“, als da unter anderem lauten: Der RG sei gar kein Lebewesen, sondern lediglich ein Ding. Denn der Gott, als er kam und die Welt unterwarf, trug ein Kleid aus Metall, alle 4500 Meilen seiner achtbeinigen Gestalt.

Die Folgen seines göttlichen Erscheinens waren verheerend, wie sich leicht vorstellen lässt. Viele der damals existenten Länder, soweit die verbliebenen Chroniken dies belegen, vergingen, gingen unter oder pulverisiert. Im Jahr 89 verschwand der Gott für 20 Monate, doch sein zweites Erscheinen über der Arktis versetzte besonders die Kanadier und Amerikaner in Aufregung. Sie zogen gegen ihn zu Felde, und dies war der erste von drei Kreuzzügen. Der Kreuzzug verlief aber fruchtlos und verlustreich, so dass es der entstandenen KATHOLISCHEN Universalen Kirche gelang, viele der amerikanischen Brüder zu bekehren. Leider kam es zu einem Schisma, das die Gründung der ORTHODOXEN universalen Kirche zu Folge hatte, der Harad angehört.

Um die amerikanischen Brüder endgültig zu bekehren, lief eine große Armada gegen sie aus, die Erzbischof Jon der Dicke anführte. Es kam zur Schlacht von New York City, doch da kam es zur dritten BEWEGUNG des RG, und New York City wurde zerstört. SEIN heiliger Körper lag nun vorwiegend im Indischen Ozean, und es herrschte 400 Jahre lang Frieden. Doch nun, wehe!, ist der RG seit zehn Jahren verschwunden, und es stellen sich Zeichen des Abfalls von Glauben ein. Zeit, mehr der knappen Frauen zu opfern, um IHN gnädig zur Wiederkehr zu stimmen. Ein vierter Kreuzzug gegen wen auch immer wäre wohl ebenfalls angebracht, fordert Bruder Harad vehement…

Mein Eindruck

Der kurze Text fasst praktisch die gesamte westliche Religionsgeschichte zusammen. Er listet das rituelle Opfern von Jungfrauen auf, die Kreuzzüge und die heilige Inquisition, die Armada seiner Katholischen Majestät König Philipps von Spanien, die er gegen die abtrünnige und häretische Königin von England entsandte- und vieles mehr.

Dass ein Alien-Raumschiff aus Metall gewaltige Ausmaße aufweisen und infolgedessen seine Landung verheerende Folgen haben könne, liest man nicht oft. Ganz besonders nicht bei den US-amerikanischen Autoren, die seit etwa 1928 dem Dogma anhängen, dass Ingenieure die Welt stets retten würden, und sei der vernichtende Asteroid noch so groß (siehe „Luzifers Hammer“ von Niven/Pournelle und andere). Aldiss malt als Verfechter der Devolution ein ganz anderes Bild: Dem Riesigen Gott sind die Menschlein und alle ihre Opfergaben völlig gleichgültig.

Bemerkenswert ist Harads borniertes Festhalten am Gottesglauben selbst dann noch, als der RG die Umlaufbahn der Erde um die Sonne manipuliert und infolgedessen ewiger Winter herrscht…

9) Der Kreislauf des Blutes… (Circulation of Blood, 1966)

Ende des 20. Jahrhunderts unternimmt die Welt-Wasser-Organisation WWO eine wissenschaftliche Erforschung der Strömungen, die zwischen Mittelmeer und Antarktis verlaufen. Auf dieser Forschungsfahrt kommt der britische Wissenschaftler Clement Yale einem Unsterblichkeits-Virus auf die Spur, das durch ein winziges Krebstierchen, dem Coptopoden, übertragen wird. Ihn hat schon seit fünf Jahren gewundert, warum sich die Heringe in der Ostsee, die Blauwale im Südpolarmeer und die Judenfische im Indischen Ozean explosionsartig vermehren.

Als Beweis seiner Theorie hat er zwei Adelie-Pinguine mitgebracht, als er zu seiner Frau Caterina auf die Lakkadiven-Inseln an der indischen Westküste zurückkehrt. Caterina war bis vor dreieinhalb Jahren noch die Frau von Theo Devlin, dem Leiter der WWO und Initiator des Forschungsprojekts. Etwas stimmt nicht mit Caterina, und sobald Philip, Clements 17-jähriger Sohn aus erster Ehe, nach Oxford abgereist ist, verrät Caterina ihm auch den Grund: Sie hat mit Philip, ihrem Stiefsohn, Ehebruch begangen.

Daran hat Clement, der weltfremde Theoretiker, einiges zu knabbern. Doch er und Caterina haben sich wieder vertragen, bevor Theo Devlin höchstpersönlich aus Neapel, dem WWO-Hauptquartier, eingeflogen kommt. Devlin scheint sich nicht für Caterina zu interessieren, sondern mehr für Clement. Als er eine Pistole mit Schalldämpfer auf Clement richtet, bezichtigt er ihn der Erpressung.

Clement wundert sich nur noch, denn er hat Theo doch bloß einen verschlüsselten Geheimbericht geschickt, oder? Doch Caterina reagiert schneller und entwaffnet ihren Exmann. Nun muss Theo die Karten auf den Tisch legen: Er hat selbst das in der Ostsee entdeckte Unsterblichkeitsvirus ins Mittelmeer übertragen, von wo es per Strömung ins Südpolarmeer gespült wurde. Er selbst hat einen Club der Unsterblichen gegründet – und jetzt droht Clement, ihn bloßzustellen, bevor er, Theo, die Weltherrschaft an sich reißen kann.

Was für ein blühender Blödsinn, denkt Clement, doch er beißt sich auf die Zunge. Ihm ist eine verrückte Idee gekommen, wie er den Wahnsinnigen aufs Kreuz legen kann…

Mein Eindruck

Der Erzählstil ist genau wie im Mainstream von 1966. Die Story könnte beinahe auch von J.G. Ballard stammen, wenn sie nicht so harmlos erzählt worden wäre. Außerdem spielt das Thema Familie und Fortpflanzung eine zentrale Rolle, und das kommt beim Ballard der sechziger Jahre fast nie vor. Hingegen ist das Thema Unsterblichkeit auch bei Ballard bekannt, wenn ich nicht irre. Allerdings ist es bei Aldiss in eine Ehe- und Familiensituation eingebettet, die den Zustand der globalen (westlichen) Gesellschaft widerspiegeln soll.

Wie das Unsterblichkeits-Virus funktioniert, wird en detail erklärt: Es repariert die DNS-Stränge in den Chromosomen, so dass keine Defekte mehr auftreten, wie sie mit dem Alter zunehmen, besonders an den Enden der Stränge (Telomere). Wenn keine Defekte mehr auftreten, entstehen auch keine Erb-Krankheiten mehr, das Immunsystem ist topfit, was wiederum externe Krankheiten verhindert. Somit ist der Beglückte potentiell unsterblich, wie einer von Tolkiens Elben. Töten kann man ihn allerdings immer noch.

Die Story las sich spannend, anrührend und für eine SF-Story von erstaunlicher psychologischer Reife – dies ist nichts für zwölfjährige Groschenheftsammler, sondern Lesefutter für Erwachsene. Der Titel bezieht sich übrigens auf den Kreislauf der Meeresströmungen, der den ganzen Planeten durchzieht.

10) …und der Stillstand des Herzens (…and the Stagnation of the Heart)

Kalkutta ist aufgegeben worden. Die 25-Millionen-Einwohner-Metropole ist unter ihren eigenen Problemen zusammengebrochen. Die Flüchtlinge schleppen sich aus dem Moloch unter der sengenden Sonne ausgemergelt durch eine Steppe voller Skelette. Warum die Regierung ausgerechnet auf Ziegen eine Art Kopfgeld ausgesetzt hat, muss sich erst noch erweisen.

Durch diese Einöde werden die Engländer Clemens und Caterina Yale per Hovercraft von einem pakistanischen Gesundheitsbeauftragten geleitet, der den stolzen Namen Firouz Ayub Khan führt und fortwährend seine Paten beschwört, wenn er klagt. Und er klagt fast immer, wobei sein Lieblingsort „satanisch“ lautet. Ihre Absicht, der Region zu helfen, scheint ihn zu reizen.

Bei einem Zwischenstopp an einer verlassenen, von Termiten zerfressenen Fabrik nimmt Khan die Gelegenheit wahr, Ziegen zu schießen. Es sei seine öffentliche Pflicht (und ein privater Spaß, wie Caterina vermutet). Weil er seine Passagiere hier drin nicht erwartet hat, kommt es zu einem Schuss, der Clemens nur um Haaresbreite verfehlt. Alle sind erschrocken.

Denn es ist nun mal so, dass Clemens und Caterina, seit sie dem außerirdischen Baltischen Virus ausgesetzt waren, Langlebige sind und folglich äußerst wertvolle Exemplare ihrer Gattung. Khan scheint keinen Unterschied zwischen „langlebig“ und „unsterblich“ zu machen. Allein schon der Unterschied in der von ihm vielfach zitierten „Conditio humana“ reizt ihn noch mehr. Nachdem alle Ziegen in der Nähe von ihm getötet und deren Hufe für das „Kopfgeld“ eingesammelt worden sind, kann die Hover-Fahrt mit gemischten Gefühlen endlich fortgesetzt werden.

Mein Eindruck

Wieder geht es um Hilfe für Indien und Pakistan, doch diesmal sind die Europäer mit einem geradezu empörenden Vorteil gesegnet: Sie überleben die Hilfsbedürftigen potentiell um Jahrhunderte, während diese froh sein können, wenn sie die nächste Stunde überleben. So wandeln Götter auf Erden. Doch dieses Paar ist sterblich, wie ein kleiner Fehlschuss (falls es einer war) beweist. Der lokale Beamte für das Gesundheitswesen zeigt ihnen anhand seines Ziegentötens, worin der Tod besteht und wie nah er sein kann.

Der Hintergrund der Erzählung demonstriert die Folgen des Klimawandels. Der Monsunregen ist offenbar ausgeblieben, und die Ostküste Indiens hat sich von Madras bis Kalkutta in eine trockene Wüstenei verwandelt. Selbst der Fluss, der durch das aufgegebene Kalkutta zu fließen pflegte, ist versiegt. Wenn nun gottähnliche Europäer vorbeischauen, so wirkt ihr Voyeurismus wie der blanke Hohn. Gut vorstellbar, dass Khan seine Wut auf diese „Götter“ an den Ziegen auslässt, die er reihenweise abknallt.

11) Der Wurm, der fliegt (The Worm That Flies)

Der Ich-Erzähler mit Namen Argustal kämpft sich in ferner Zukunft durchs Schneetreiben in den Bergen, um einen ganz besonders geeigneten Stein für seinen „Paraplaner“ zu finden. In der Stadt Or stößt er auf fünf Baummenschen, die ihm vielleicht weiterhelfen können. Sie philosophieren ganz exzellent über das Wesen der Zeit, denn in deren Verlauf haben sie sich aus beweglichen Menschen zu relativ sesshaften Wesen mit Ästen und Borke entwickelt. Das schließt aber nicht aus, dass unser Chronist von einer flinken Tanne überholt wird. Er ist offenbar nicht mehr der Jüngste.

Mit einem ausgezeichneten Exemplar von Stein kehrt er nach Hause in Talembil zurück, wo ihn bereits sein Eheweib Pamitar erwartet. Sie nennt ihn nicht Argustal, sondern Tapmar. In Talembils erster Stadt Gornilo leben Affenmenschen wie er, und wie er ziehen sie das Vergessen dem Erinnern vor. Nur in Träumen erinnern sich zuerst Pamitar, dann er selbst an einen zustand, der sich „Kind“ nennt. Er jagt ihnen Angst und Kummer ein.

Die fünf von dieser Reise mitgebrachten Steine fügt er in seinen Paraplaner ein: ein Gebilde aus hunderttausend oder gar Millionen Steinen, der sich meilenweit durch die Wüste schlängelt, allein bewacht von Pamitar. Ihr Gegner ist ein alter Bettler, der sich erinnert und deshalb Argustal verspottet. Sie verjagen „die alte Krähe“. Als Argustal den Stein einfügt, den er aus Or mitgebracht hat, ereignet sich etwas Ungewöhnliches: Eine fremde Stimmte ertönt daraus. Und sie spricht ihn persönlich an. Nicht, dass dies Ausführungen und Behauptungen sonderlich erhellend wären, denn da wird von Unsterblichkeit geredet und dass sie nun ein Ende habe.

Doch als Argustal den alten Bettler zur Rede stellt, erhält er dafür die Bestätigung: Alle Lebenden seien vor sehr langer Zeit einmal Kinder gewesen, bevor „Wissenschaftler“ sie unsterblich machten. Doch nun, mit Vollendung des Musters durch Argustal, sei diese Zeit zu Ende…

Mein Eindruck

Die eindringliche und sprachlich sehr ausgefeilte Erzählung präsentiert dem Leser das gleiche Puzzle wie der Hauptfigur. Seit Äonen scheint keine Veränderung stattgefunden zu haben. Die unsterblich gemachten Menschen haben sich nicht weiterentwickelt und erinnern sich kaum noch daran, was ein Kind war. Es gibt weder Sex noch Fortpflanzung, denn sie sind überflüssig. Doch Argustal „in seinem dunklen Drange“ vollendet das Muster seines Steinhaufens – der möglicherweise ein Raumschiff ist, das er aus Trümmerstücken zusammengesetzt hat. Nun spricht der Computer mit ihm: Das Ende der Ewigkeit ist gekommen, denn das Experiment mit der Unsterblichkeit ist offenkundig gescheitert.

Doch wie wird er aussehen, der Faktor der Veränderung, von dem die fünf Baummenschen von Or geraunt haben? In einer Art Vision oder Traum erblickt ihn Argustal: den Wurm, der fliegt, den Wurm, der die Rose tötet, den Eroberer Tod.

Hinweis

Die Übersetzerin ist offenbar an dem hohen Sprachniveau gescheitert. Da ist vom „Wu[rm], der fliegt“, die Rede, von „simianischen“ (äffischen) Bewegungen, und in einem Satz hat sie völlig den Faden verloren, weil wohl ein Wort fehlt. Damit hat sie der zweifellos schönen Vorlage einen Bärendienst erwiesen.

12) In den Raumschiffdocks (Working in the Space Ship Yards)

Unser junger Chronist arbeitet in den Raumschiffdocks, wo die überlichtschnellen FTL-Raketen der Q-Serie gebaut werden. Eigentlich sollte er stolz auf diese Arbeit sein, doch ihn plagen ein paar allzu menschliche Aspekte seines Arbeitsplatzes. Erstens ist er nur der Assistent des weiblichen FTL-Mechanikergehilfen, ist also eine kleine Nummer.

Die Entwicklung, dass seine Arbeit zunehmend von Androiden wie Jackson erledigt wird, findet er ebenfalls beunruhigend. Diese Blechköpfe sind falsch gepolt. Aber dennoch geht seine Vorgesetzte und Freundin Nellie lieber mit Jackson als mit ihm: „Er ist höflicher!“ Auch die Frauen sind offenbar falsch gepolt. Ihm bleibt nur noch, eine Rolle zu spielen, die des Großen Liebhabers.

Er denkt daran, wie viele seiner Geschlechtsgenossen eine Selbstmordanzeige aufzugeben, sozusagen für den Abgang, ganz besonders, als der Präsident kommt, um die Fertigstellung von Q4 zu feiern. Aber es gibt einen Lichtblick: Jackson, der Androide, humpelt! (Und dreimal darf sich der Leser fragen, wer den armen Robot so demoliert hat…)

Mein Eindruck

Das ist eine richtig nette kleine Story, die den ganzen Traum vom Finden fremder Intelligenzen draußen im Weltall mal so nebenbei ad absurdum führt. Erstens kostet ein einziges Raumschiff mehr als das Bruttosozialprodukt von Gesamt-Südamerika, wird aber niemals zur Erde zurückkehren. Will heißen: Niemand außer den Arbeitern hat was davon. Und was passiert, wenn doch mal außerirdische Intelligenzen gefunden werden sollten? Man braucht kein Einstein zu sein, um sich vorzustellen, dass dann die Erdenfrauen nicht mit den Androiden durchbrennen, sondern mit den Aliens!

Wie so häufig steht der einfache Jedermann im Mittelpunkt. Der Autor hat auch ein Buch namens „Science Fiction Blues“ veröffentlicht und daraus seinerzeit in Tübingen vorgetragen, als er hier auf Lese-Tour Station machte. Der Blues ist auch die Tonart, in der diese Story geschrieben wurde. Eigentlich sind FTL-Schiffe eine überragende Errungenschaft, und jeder Heinlein-Anhänger würde sich die Finger danach lecken, mal so eine Story schreiben zu dürfen. (Bei Bastei-Lübbe gibt es entsprechende Anthologie mit dem Titel „12 Mal schneller als Licht“. Denn FTL bedeutet „faster than light“, also überlichtschnell. Diese besondere, manche würden sogar sagen: unmögliche Eigenschaft berührt unseren Helden nicht im Geringsten. Er war mir auf Anhieb sympathisch.

13) Hakenkreuz (Swastika!)

Ein Musical-Produzent besucht im belgischen Ostende einen alten Mann namens Geoff Bunglevester. Schon auf den ersten Blick ist ihm klar, dass es sich um Adolf Hitler handeln muss. Wie es Hitler gelungen ist, im April 1945 aus dem umkämpften Berlin zu entkommen, ist zwar ein Rätsel, aber das kümmert Brian nicht. Ihn interessiert die Größe und Bedeutung dieses Mannes. Was für ein Musical könnte er wohl aus ihm schaffen, fragt er sich, während er sich mit ihm unterhält.

Hitler alias Geoff schwadroniert über seine Feldzüge, über die gegenwärtige Weltlage und über das, was hätte sein können und sollen. „Ich hätte in England statt in Polen einmarschieren sollen und mich mit einem hübschen englischen Mädchen in Torquay zur Ruhe setzen sollen.“ Alle Führer der Welt, von Castro bis LBJ (Lyndon B. Johnson, US-Präsident nach JFKs Ermordung), hätten sich bei ihm die Klinke in die Hand gegeben, um herauszufinden, was sie tun sollten, besonders innenpolitisch, und er hätte es ihnen geraten. Aber sie waren inkonsequent, wie man weiß. Brians Augen glänzen bewundernd.

Als sie zusammen von der Bar zurück zu Hitlers alias Geoffs Wohnung gehen, fällt Brian auf, dass Geoff immer noch die Hakenkreuzbinde am Ärmel trägt. Da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, wie der Titel seines Musicals lauten muss…

Mein Eindruck

Ist dies wirklich Science Fiction, mag sich der Leser – wieder einmal – fragen. Aber wenn man Aldiss kennt, weiß man, dass auch das Ausmalen alternativer Geschichtsverläufe zu seinem Repertoire gehört. Und da Aldiss alles andere als ein Optimist ist (was ihm dennoch oder gerade deswegen zu einem langen Leben verhalf), sieht er auch eine der vielen Verschwörungstheorien als möglich, derzufolge Hitler nie am 30.4.1945 Zyankali nahm und dann von seinem Kammerdiener erschossen wurde, sondern weiterhin putzmunter im sehr ruhigen Küstenstädtchen Ostende weiterlebte (zusammen mit Martin Bormann, einem weiteren „spurlos Verschwundenen“).

Der Kern ist allerdings ist eine Bewertung des Weltgeschehens zwischen 1945 und 1968 aus dem sehr spezifischen Blickwinkel eines faschistischen Diktators, der an Rassenwahn und Parkinson leidet. Dieses Resümee ist das eigentlich Erschreckende, das der Autor vermitteln will. Eine Zusammenfassung erübrigt sich, denn die Fakten bzw. ihre verschwörungstheoretische Verzerrung sind leidlich bekannt. Am heftigsten ist vielleicht Hitlers Vorhaben, die Afrikaner auszurotten. Es ist selbstverständlich, dass man bei dieser Story über entsprechendes Geschichtswissen verfügen sollte.

Die Übersetzung

Die Texte wurde von Annette von Charpentier übertragen, mit Ausnahme von „In den Raumschiffdocks“, den ein nicht genannter Übersetzer (des Heyne-Verlags) übertrug. In allen Texten sind derart viele Druckfehler zu finden, dass eine Liste ein eigenes Buch füllen würde. Die übelsten Fehler erwähne ich bei den einzelnen Texten, so etwa bei „Der Wurm, der fliegt“. Mehrfach verliert die Übersetzerin die Kontrolle über schwierige Passagen, so dass das Ergebnis selbst bei Nutzung der maximalen Imaginationsstufe schwer verständlich bleibt, wenn überhaupt.

Unterm Strich

Die meist ausgezeichneten Erzählungen bewegen sich zwischen mehreren thematischen Schwerpunkten. Einer davon ist die Devolution der Menschheitsgeschichte. So ist Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit keineswegs erstrebenswert, sondern der Anfang von Stillstand und Scheintod. Die Stagnation muss nicht erst in ferner Zukunft eintreten, sondern, hervorgerufen durch ein Virus, schon im Hier und Heute. Kalkutta wird wegen Übervölkerung aufgegeben, und als die langlebigen Europäer eintreffen, um „irgendwie“ zu helfen, wirkt ihr Auftritt nicht nur deplatziert (wie „Die Orgie der Lebenden und der Toten“), sondern wie der blanke Hohn.

Alt.hist.org

Alternative Geschichtsverläufe gehören zum Standardrepertoire des Autors wie auch die Schauplätze, an die sich seine Protagonisten verirren, sei es Afrika oder Südasien, wo sich Aldiss lange Zeit aufhielt. In einem dieser alternativen Geschichtsverläufe lebt Adolf Hitler noch, in einem anderen hat sich ein gigantisches Alien auf Arabien, dem Nordpol und dem Indischen Ozean (in dieser Reihenfolge) niedergelassen und dadurch eine neue Kirche begründet, die des Riesigen Gottes.

Doch als diese Kirche den alleinigen Gültigkeitsanspruch durchsetzt, wiederholen sich finstere Phänomene unserer eigenen Historie: Schisma, Pogrome, Inquisition, Opferungen und natürlich Kreuzzüge. Nicht nur die Verluste an Menschenleben sind gewaltig, sondern auch die Zerstörung des gesammelten Wissens der Alten Zeit, also vor dem Kommen des Gottes. Vielleicht sollte man es sich zweimal überlegen, bevor man die Ankunft der Aliens herbeiwünscht.

Gegenwart hell und dunkel

Ein weiterer Komplex ist das Unbehagen in der Gegenwart. Die Menschen werden der Widersprüche und Defizite in ihrer eigenen Sinngebung gewahr, so etwa in „Die unangenehme Lücke zwischen Leben und Kunst“. Dann bedient sich der Autor der Mittel des modernen Romans, um einen Bewusstseinsstrom zu beschreiben. Denn die Defizite sind nur psychisch registrierbar, wenn überhaupt. Hier zeigt sich der Autor als begeisterter Anhänger der New Wave (ab ca. 1966). Deshalb darf man sich nicht wundern, wenn er auch seltenere literarische Formen wie etwa ein Alien-Wörterbuch verwendet und sich einen Spaß daraus macht, neue Wörter und Bedeutungen zu erfinden. Dass Aldiss ein Freund der Erotik ist – er hat eine ganze Trilogie über das sexuelle Erwachen eines jungen Mannes verfasst – zeigt sich in den Wörterbucheinträgen der Konfluenz.

Manko

Was der Sammlung wirklich fehlt, ist die weggelassene Story „Superspielzeug hält den ganzen Sommer “ (Supertoys Last All Summer Long). Auf ihr basiert der Spielberg-Spielfilm „A.I.“, den eigentlich Stanley Kubrick realisiert sollte. Es wäre dies einzige Geschichte mit einem Kind als Hauptfigur geworden. Das mag den Herausgebern bei Bastei-Lübbe ein wenig deplatziert gewesen sein. Sie packten die Story in den eigenen Aldiss-Reader „Dunkler Bruder Zukunft“.

Taschenbuch: 240 Seiten
O-Titel: The Moment of Eclipse, 1970;
Aus dem Englischen von Annette von Charpentier (mit Ausnahme von „In den Raumschiffdocks“)
ISBN-13: 9783404240494

www.luebbe.de

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