Nach dem Tod des Gottes Ulcis drängen die Horden der Hölle an die Oberfläche der Kettenwelt. Verzweifelt aber keineswegs einig versuchen Menschen und Götter sie zurückzudrängen und dem Untergang Einhalt zu gebieten … – Der zweite Band des „Deepgate Codex“ weist nicht mehr die Dichte und Intensität des Vorgängers auf, nimmt aber im zweiten Drittel Fahrt auf, sprüht vor bizarren Einfällen und lässt das Gros der modernen Einheits-Fantasy erneut weit hinter sich.
Das geschieht:
Nachdem Gott Ulcis, der im Abgrund unter der Kettenstadt Deepgate hauste, von seiner Tochter Carnival getötet wurde, hat sich in der Tiefe ein Portal zur Hölle aufgetan. Geister und Dämonen schwärmen an die Oberwelt, wo die Spine, Herren von Deepgate, verzweifelt versuchen ihnen Einhalt zu gewähren. Doch Deepgate ist eine Ruine, die zu allem Überfluss durch gigantische Explosionen in den schlecht gesicherten Treibstoff- und Giftgas-Fabriken in Stücke gerissen wird. Rachel Hael, der abtrünnigen Spine, und dem ehemaligen Tempel-Engel Dill gelang im letzten Moment die Flucht. Sie verbergen sich in der Hafenstadt Sandport, wo sie von den Spine gestellt, gefangen genommen und nach Deepgate zurückgeschafft werden. Im Palast der Spine sollen sie, die an Ulcis‘ Ende nicht unbeteiligt waren, verhört und bestraft werden. Doch sie können fliehen, wobei Rachel feststellen muss, dass Dill vom Geist eines uralten Kriegsarchons namens Silister Trench besessen ist, der Cospinol, dem Gott des Nebels und des Wassers, eine wichtige Nachricht aus der Unterwelt überbringen soll.
Cospinol hat inzwischen die Jagd auf Carnival eröffnet. Wenn es ihm gelingt, ihrer Seele habhaft zu werden, wird er endlich von dem Bann gelöst, der ihn an sein uraltes Luftschiff kettet, das sein menschlicher Sklave John Anchor an einem langen Seil über Land zieht. Anschließend soll er sich seinen Brüdern anschließen und die Horden der Hölle zurück in die Finsternis treiben. Carnival soll ihr Unwesen unweit der Ruinen von Deepgate treiben. Anchor und sein neuer Gefährte, der Dieb Jack Caulker, machen sich dorthin auf den Weg. Sie bewegen sich durch ein von Krieg gezeichnetes Land, in dem die „Mesmeriten“, wie man die Höllenbewohner nennt, stetig an Macht gewinnen.
Tief im Labyrinth der Hölle kämpft die aus seinem Körper verdrängte Seele von Dill inzwischen gegen König Menoa, dessen golemhaften Archoniten sich für den Endkampf gegen Götter und Menschen rüsten. Auf dem Schlachtfeld vor der belagerten Küstenstadt Coreollis treffen sich alte und neue Freunde wieder, doch manche haben sich so verändert, dass sie einander nicht mehr erkennen können …
Rückkehr in eine bizarre Welt
Mit dem „Deepgate Codex“ ist Alan Campbell ein großer Wurf gelungen. Abseits verwässerter Tolkien-Klone oder dümmlicher Vampir- und Werwolf-Schmonzetten, die dreist als „urban fantasy“ etikettiert werden, entwirft er ein originelles Fantasy-Reich, das spontan an Autoren wie Tim Powers oder Neil Gaiman denken lässt, sollte man unbedingt eine Kategorisierungs-Schublade benötigen. Dabei ist es weniger die Handlung, die in ihren Bann zieht, obwohl sich dies ändern könnte, sobald endlich einmal klar sein wird, worauf Campbell hinaus will. Noch präsentiert er seinen Lesern nur Zipfel eines offenbar globalen oder gar kosmischen Geschehens, das er wortgewaltig in zwar bekannte aber wirkungsstark abgewandelte Szenen kleidet.
Den eigentlichen Charme der Kettenwelt macht ihre krude Mischung aus Erdachtem und Verfremdetem aus. Campbell schert sich nicht um Logik oder besser: Er kreiert eine eigene Logik, die nur auf der Kettenwelt funktioniert. Sie schöpft aus einerseits aus dem klassischen Fundus der Fantasy: Die Kettenwelt ist einem imaginären Mittelalter zuzuordnen. Sie zerfällt in eine Unzahl kleiner und großer Reiche, die zentral oder absolutistisch regiert werden. Gesetz und Moral lassen sich mit dem Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ beschreiben, die Religion steht mindestens gleichberechtigt neben dem Fortschritt.
Andererseits verlässt Campbell zielgerichtet den Boden der ‚Realität‘, die viele Fantasy-Welten trotz allgegenwärtiger Zauberei so langweilig prägt. ‚Klassische‘ Magie ist in der Kettenwelt eine Mischung aus Alchimie und Naturwissenschaft, wenn sie nicht sowieso als buchstäblich fauler Zauber gilt. Das Seltsame gehört ohnehin zum Alltag. Gemeint ist damit nicht eine Stadt, die an 99 Ketten über einem bodenlosen Abgrund hängt. Auf angenehme Weise irritierend ist die Selbstverständlichkeit, mit der das, was in anderen Fantasy-Welten zwanghaft mystifiziert wird, in die Gegenwart eindringt. „Himmel“ und „Hölle“ sind so real wie die eigentliche Menschenwelt, Götter mächtige Herren über Leben & Tod aber gleichzeitig ganz und gar keine überirdischen Wesen, sondern gleichgültige und undankbare Herren und tief verstrickt in Streitigkeiten, die zwar mit fantastischen Mitteln ausgefochten werden, deren Motive indes überaus gewöhnlich sind.
Von alten und neuen Mitspielern
Die daraus erwachsenden Konflikte schildert Campbell ebenso spannend wie ironisch. Sein Humor ist stets präsent, schwarz und grimmig. Sentimentalität ist des Verfassers Sache nicht. ‚Große‘ und meist peinlich beschriebene Gefühle erspart er sich und uns. Die Welt ist schlecht, und so benehmen sich ihre Bewohner auch – und zwar auf, über und unter der Erde. Mit grotesken und – keine Selbstverständlichkeit – gelungenen Einfällen bereichert Campbell das intensive Geschehen zusätzlich. Skurrile Figuren wie John Anchor, Alice Harper oder die drei unsterblichen Forscher-Ketzer, denen lebendigen Leibes die Knochen entfernt wurden, sind genial in ihrer Negierung sogar des halbwegs Vorstellbaren. Der Autor ignoriert erneut den Wunsch der breiten Fantasy-Leserschaft nach einer in ihrer Fremdheit geordneten Welt. Die stetigen Veränderungen, denen der Engel Dill unterworfen ist, sind dafür ein anschauliches Beispiel.
Der unerschöpflich sprudelnde Einfallsreichtum des Alan Campbell ist von elementarer Wichtigkeit, weil er mit einem besonderen Pfund nicht mehr wuchern kann: „Scar Night“ überwältigte mit noch neuen und frischen Impressionen einer wundersamen, erschreckenden, faszinierenden Welt. Die kennen wir nun und erwarten neue Wunder und Schrecken, die sich der Verfasser hoffentlich ausdenken kann. Das gelingt ihm meisterhaft, obwohl die eigentliche Story zunächst nicht die Dichte des Erstlings erreicht.
Das Geschehen verlässt Deepgate und siedelt in einer Welt, die – Stichwort Cinderbark Wood – ihre eigenen Absonderlichkeiten aufweist. Doch nachdem es bisher durch den Schlund von Deepgate quasi konzentriert wurde, bekommt ihm die neue Weite nicht. Die Geschichte zerfasert; da haben wir Rachel und Dill/Trench auf der Flucht sowie John Anchor und Caulker auf der Jagd nach Carnival. Irgendwann finden die beiden Gruppen einander, und die der eigentliche Handlungsstrang 1 setzt ein, doch bis es soweit ist, reihen sich über viele Seiten interessante aber isolierte Abenteuer.
Aufstand in der Hölle
Ganz großes (Kopf-) Kino setzt ein, sobald Campbell in einem zweiten Großkapitel in die Tiefen der Hölle umblendet. Die ist ein wahrlich düsterer Ort, der die Schrecken von Deepgate oder Ulcis‘ Tiefe wie eine Fingerübung wirken lässt. „Morbid“ ist ein Adjektiv, das heute nicht mehr oft Verwendung findet. Hier kommt es zu neuen Ehren. Campbells Fantasie scheint grenzenlos im Ausdenken ebenso schrecklicher wie erneut schwarzhumoriger Höllenschöpfungen, seine Beschreibungen sind plakativ und wirkungsvoll. Außerdem bilden sie den Rahmen, aus dem Campbell neue Figuren in die Handlung einführt.
Alice Harper erinnert mit ihrem tragischen Schicksal an Rachel Hael. Allerdings wurde sie noch wesentlich tiefer in das Mahlwerk des Götterkrieges gezogen. Als wichtige Erfüllungsgehilfin und hilflose Sklavin ihres Herrn Menoa hegt sie wie alle Bewohner der Kettenwelt sorgfältig geheim gehaltene Hintergedanken, was den Boden für weitere Verwicklungen vorbereitet.
Noch unklar bleibt die Rolle von Minna Green, einer angeblichen ‚Hexe‘, die in der Tat über besondere Kräfte verfügt, die sie zum Wohle Dills einsetzt – oder auch nicht, denn sie ist auch, die den Dämonen Basilis über dessen Freunde bringt. Einmal mehr gilt: Trauen darf man nicht nur in der Hölle niemandem! Dass Campbell noch im allerletzten Satz mit einem Schlusstwist aufwartet, der wirklich nicht zu erwarten war, rundet das positive Lektüre-Erlebnis aufs Erfreulichste ab und schürt die Erwartung auf den dritten Teil der Kettenwelt-Saga!
Anmerkung: Verwirrung in Deutschland
Während die Übersetzung erneut gefallen kann, sorgt der Klappentext für Verwirrung. Er skizziert ein Romangeschehen, das so überhaupt nicht stattfindet. Ohnehin fehlen den deutschen Lesern Informationen. So hat Basilis bereits eine Vorgeschichte, die Campbell im „Deepgate“-Kurzroman „Lye Street“ erzählt, der nie übersetzt wurde.
Autor
Alan Campbell wurde 1971 in schottischen Falkirk geboren, wo er auch aufwuchs. Er studierte Computerwissenschaften an der Edinburgh University. Nach dem Examen arbeitete Campbell an der Entwicklung von Videospielen für PC und Playstation mit. Er verließ die Branche, um sich als Fotograf und Schriftsteller niederzulassen. „Scar Night“, der erste Band der „Deepgate Codex“-Serie, erschien 2006, war sofort sehr erfolgreich und wurde fortgesetzt. 2012 begann Campbell mit der Urban-Fantasy-Reihe „Gravedigger Chronicles“.
Campbell lebt weiterhin in Schottland (South Lanarkshire). Über sein Werk informiert er auf dieser Website.
Paperback: 509 Seiten
Originaltitel: Penny Devil – Volume Two of the Deepgate Codex (London : Tor Books/Pan Macmillan Ltd. 2008) bzw. Iron Angel (New York : Bantam Books 2009)
Übersetzung: Jean Paul Ziller
http://www.randomhouse.de/goldmann
Der Autor vergibt: