Christina Dalcher – Vox. Zukunftsroman

Ohrenbetäubendes Schweigen

„In einer Welt, in der Frauen nur hundert Wörter am Tag sprechen dürfen, bricht eine das Gesetz. Das provozierende Überraschungsdebüt aus den USA, über das niemand schweigen wird!
Als die neue Regierung anordnet, dass Frauen ab sofort nicht mehr als hundert Wörter am Tag sprechen dürfen, will Jean McClellan diese wahnwitzige Nachricht nicht wahrhaben – das kann nicht passieren. Nicht im 21. Jahrhundert. Nicht in Amerika. Nicht ihr.
Das ist der Anfang.
Schon bald kann Jean ihren Beruf als Wissenschaftlerin nicht länger ausüben. Schon bald wird ihrer Tochter Sonia in der Schule nicht länger Lesen und Schreiben beigebracht. Sie und alle Mädchen und Frauen werden ihres Stimmrechts, ihres Lebensmuts, ihrer Träume beraubt.
Aber das ist nicht das Ende.
Für Sonia und alle entmündigten Frauen will Jean sich ihre Stimme zurückerkämpfen.“ (Verlagsinfo)

Die Autorin

Christina Dalcher ist Autorin des internationalen Bestsellers »Vox«. Die Amerikanerin promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Christina Dalcher pendelt zwischen den Südstaaten und Neapel. Die gebürtige Amerikanerin, zu deren Helden Stephen King und Carl Sagan zählen, promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Ihre Kurzgeschichten und Flash Fiction erschienen weltweit in Magazinen und Zeitschriften, u.a. wurde sie für den Pushcart Prize nominiert. »Q« ist ihr zweiter Roman. (Verlagsinfo)

„Liebe Leserin, lieber Leser,

Das Geschenk der Sprache hat mich schon immer fasziniert. Ohne Sprache würde ich Ihnen diese Worte nicht schreiben, und Sie würden sie nicht lesen. In VOX wird unserer Protagonistin Jean und allen Frauen in Amerika ein Tageslimit von 100 Wörtern verhängt. Wenn Sie wissen, dass der Durchschnittsmensch tagtäglich ungefähr 16 000 Wörter äußert, sind 100 Wörter … nichts! Das ist erschreckend. Noch erschreckender aber ist die sich anbahnende Bedrohung einer Gesellschaft, in der Kinder wie ihre sechsjährige Tochter der Sprache beraubt sind.

Ich hoffe, Sie lesen VOX auf zweierlei Weise: sowohl als spekulative politische Dystopie, in der die Übermacht staatlicher Kontrolle das Leben einer Familie zerstört, und als Gedankenspiel, das Ihnen das Geschenk der Sprache vor Augen führt, dieses erstaunlich komplexe Vermögen, das wir so oft als selbstverständlich betrachten.

Mit herzlichen Grüßen,
Ihre Christina Dalcher“ (Verlagsinfo)

Handlung

Jean McClellan ist eine Sprachforscherin, also eine denkende und sprechende Frau, die nichts dabei findet, mehr als 16.000 Wörter pro Tag zu verwenden. Schließlich hat sie vier Kinder und einen Ehemann, Patrick. Der ist ein Regierungsberater und hat gute Kontakte, die sich noch als hilfreich erweisen werden. Jeans Freundin Jackie hat sich der Protestbewegung angeschlossen, als sich abzeichnete, dass die neue christlich-fundamentalistische Regierung die Frauenrechte beschneiden wollte.

Inzwischen sitzt Jackie im Gefängnis, zusammen mit allen anderen renitenten Frauen. Denn nach der Machtergreifung der christlichen Fundamentalisten darf eine „reine Frau“ nur noch hundert Worte am Tag aussprechen. Wer dieser Vorgabe zuwiderhandelt, bekommt von einem elektronischen Armband einen Elektroschock mit 1000 Volt Stärke versetzt. 70 Millionen Frauen sind über Nacht arbeits- und machtlos geworden, abhängig von den Männern. Sie werden von den PURE-Anhängern überwacht und indoktriniert, ebenso ihre Kinder.

Jean kann nun ihren Beruf als Wissenschaftlerin nicht länger ausüben. Schon bald wird ihrer Tochter Sonia in der Schule nicht länger Lesen und Schreiben beigebracht. Sie und alle Mädchen und Frauen werden ihres Stimmrechts, ihres Lebensmuts, ihrer Träume beraubt. Sonia wird krank, und als Jean erkennt, dass ihre Tochter niemals sprechen lernen wird, rastet sie vor Verzweiflung aus. Natürlich bekommt sie einen Stromschlag verpasst, aber der ist ihr in diesem Moment piepegal.

Eine Chance

Eines Tages erleidet der Bruder des Präsidenten, Bobby Myers, angeblich beim Skifahren einen Unfall, der ihm einen Gehirnschaden zufügt: Er muss erst wieder lernen zu sprechen. Der führende PURE-Reverend, ein General und Jeans Mann Patrick bitten Jean, dem Präsidentenbruder die Sprechfähigkeit zurückzugeben. Nach einigem Zögern erkennt die ehemalige Sprachforscherin und -lehrerin– allerdings erst im zweiten Anlauf – ihre einmalige Gelegenheit und setzt einen Plan in die Tat um: Sie will dieses Projekt so lange wie möglich hinauszögern, um mit ihren neuen Vorrechten ihren Schwestern zu helfen. Und ihre Affäre weiterzuführen.

Gute Pläne

Wie sie herausfindet, gibt es eine Reihe von Hürden zu überwinden: Die Überwachung ihres Entwicklungsteams im Institut, das nun einem Hochsicherheitstrakt gleicht, ist allumfassend. Zudem gibt es nicht nur ihr Team Weiß, sondern auch die Teams Blau und Rot. Merkwürdig, dass die hypermoderne Ausstattung des Instituts schon lange vor ihrer Auswahl genehmigt und geliefert worden sein muss. War die Erkrankung des Präsidentenbruders nur ein Vorwand?
Schön, dass wieder die Assistenten Lin und Lorenzo in ihrem Team sind. Es war Lin, die das neue Heilserum schon vor Monaten entwickelte, aber das müssen die PURE-Leute ja nicht wissen. Jean ist immer noch scharf auf ihren Liebhaber Lorenzo, doch er soll schon bald nach Italien zurückreisen. Und die Entdeckung, dass sie von ihm schwanger sein muss, macht die folgenden Ereignisse nicht gerade einfacher…

Mein Eindruck

Seit dem gewaltigen Erfolg der TV-Serienverfilmung von Margaret Atwoods Roman „The Handmaid’s Tale“ (Der Report der Magd) sind feministische Geschichten endlich von den Marketing- und PR-Abteilung als massentauglich anerkannt. Dabei gab es schon vor über 30 Jahren Zukunftsromane mit feministischen Ambitionen, die nicht nur à la Joanna Russ, Octavia Butler und Ursula K. Le Guin aufmüpfig waren, sondern echte Alternativen zum Patriarchat anboten.

Was sofort in den Sinn kommt, sind Suzette Haden Elgins zwei Romane „Amerika der Männer“ und „Die Judasrose“ (beide deutsch bei Heyne). Elgins Angebot bestand in der „Native Tongue“ (so der O-Titel von „Amerika der Männer“), einer Sprache, die nur von Frauen entwickelt und „gesprochen“ wird, beispielsweise mit Gebärden.

Der PURE-Plan

Mit ihrem Debütroman „Vox“ breitet die Sprachwissenschaftlerin Dalcher ein weiteres Schreckensszenario aus, das leider immer noch aktuell ist: Der Sieg der christlichen Fundamentalisten, der schon unter Donald Trump beängstigende Dimensionen des Antifeminismus an den Tag legte, wird nun auf der Ebene der Neurochemie tätig. Die Autorin macht durch die Worte – und es sind keineswegs wenige – deutlich, dass der PURE-Plan vorsieht, das Anti-Sprach-Serum nicht nur auf US-amerikanische Frauen anzuwenden. Nein, denn sobald es wasserlöslich und stabil ist, soll es allen Frauen in allen Ländern verabreicht werden.

Globale Perspektive

Die Bedrohung ist also global. Grund genug für unsere Heldin Jean, baldmöglichst und entschieden aktiv zu werden. Glücklicherweise ist es das Schicksal einer radikalen Bewegung wie PURE auch eine Widerstandsbewegung zu erwecken, die im Untergrund betroffenen Opfern hilft. Das Erkennungszeichen: ein dreifaches Zwinkern. Opfer, die Hilfe nötig haben, gibt es genug. Jeans ältester Sohn Stephen, ein Befürworter von PURE, verliebt sich in die Nachbarstochter Julia King, die ein paar Worte zuviel in den falschen Kreisen spricht. Prompt landet sie im Umerziehungslager irgendwo in North Dakota, wo es nichts zu lachen gibt. Als er ihr folgt, begibt sich Stephen in Lebensgefahr…

Unterm Strich

Der Roman ist in 80 Kapitel eingeteilt, so dass klar ist, dass jedes Kapitel nur wenige Seiten umfasst. Es verwundert nicht, dass dieser Roman sehr leicht zu lesen ist, dennoch fehlt es ihm nicht an Gewicht, denn es ist die Erzählerin Jean, die als Mutter und Wissenschaftlerin tiefe Emotionen und Überzeugungen hegt und (wohldosiert) zur Sprache bringt. Durch die subjektive Ich-Perspektive gelingt es der Autor, die Erwartungen des Lesers zu unterlaufen. Jean weiß eben nicht alles, aber wir halten ihr trotzdem die Stange. Sie ist eben doch nur ein Mensch, keine Comicfigur.

Man müsste schon ein Herz aus Stein haben, würde ihm das Schicksal der kleinen Sonia nicht am Herzen liegen. Die Aussicht, dass sie niemals eine Sprache lernen wird und daher niemals die Welt begreifen wird, geht zu Herzen. Schlimmer noch sind die Aussichten für Jeans nächstes Kind. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es niemals auch nur eine Silbe Sprache aus dem Mund einer Frau vernehmen wird. Es ist eine Welt, in der nur Männer sprechen und die Anweisungen geben: Frauen sind nicht besser als Tiere. Dreimal darf man raten, welche Aufgaben ihnen zugedacht sind.

Das Finale ist furios. Denn es geht nicht nur darum, die Produktion des Anti-Sprach-Serums zu vereiteln, sondern das heimlich von Jeans Teams Weiß produzierte Serum den fiesen Drahtziehern zu verabreichen. Die am schnellsten wirkende Spritze muss dem Projektleiter Morgan LeBron direkt ins Gehirn verabreicht werden. (Merke: Echte, reale Wissenschaft kann richtig schmutzig und blutig werden!) Bei diesem Vorhaben bekommt Jean weiche Knie – wird sie es schaffen? Das sei hier nicht verraten.

Taschenbuch: 395 Seiten
Originaltitel: Vox, 2018
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol.
ISBN-13: 9783103974072

www.fischerverlage.de/buch

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