Lyon Sprague de Camp – H. P. Lovecraft. Eine Biographie

De Camp Lovecraft Cover 2012 kleinLovecraft als Figur der Projektion

Er ist heute so etwas wie ein Popstar der Phantastik, der ob seiner Vorliebe für Adjektive von der Kritik viel geschmähte, für seine stimmungsvolle Verschmelzung von Horror und Science Fiction gerühmte Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), der den qualligen ET-Götzen Cthulhu und seine nicht minder bösen Kumpane auf die Menschheit losließ.

Vor allem weist Lovecraft auf, was ihn von einem simplen Schreiberling & Schreibtischtäter zur Kultfigur erhebt: ein bizarres, unglückliches Privatleben, das denen, die es nicht führen, sondern nur darüber lesen müssen, unterhaltsam dünken kann und viel Raum für angenehme Schauder lässt. Lovecraft gilt als „Einsiedler von Providence“, der geradezu kamikazehaft am schnöden Alltag scheiterte und sich ganz in eine Fantasiewelt zurückzog, die ihm die Möglichkeit bot, sich eine Existenz als vornehm verarmter Gentleman im Stil des 18. Jahrhunderts vorzugaukeln.

Abgerundet wird dieses lieb gewonnene Bild vom genial-spinnerten Lovecraft durch das Foto einer steifen, leichenblassen Gestalt mit wuchtigen Kinn, gewandet in altmodische Kleidung, Anekdoten über abnorme Empfindlichkeit gegenüber Kälte sowie eine schier endlose Liste weiterer Eigenheiten, die nur Reichtum & Erfolg zur Exzentrik hätten adeln können.

Dem politisch Korrekten bleibt die Ergötzung an diversen Skandalen, die sich um Lovecrafts rassistischen Ausfälle, seine grotesken Vorurteile oder seine von Geheimnissen umwitterte Sexualität ranken. Armer Lovecraft, zu Lebzeiten chronisch erfolglos, blieben ihm nur der literarische Nachruhm und jene Mischung aus Faszination, Mitleid & Abscheu, mit der die Lebenstüchtigen ein Kuriositätenkabinett besuchen.

Die Wahrheit ist interessanter

Dabei kann und darf man es sich nicht so einfach machen, wie Lyon Sprague de Camp in seiner Biografie deutlich macht. Lovecraft ist ein wunderbarer Poet des Schreckens und ein neurotischer Sonderling, aber er war auch ein interessanter, liebenswerter Mensch, der es wert ist, unter der Last der Klischees geborgen zu werden. (Dieses Bild drängt sich förmlich auf, denn obwohl das erzählerische Werk des H. P. Lovecraft bedauerlich schmal geblieben ist, hat dieser Mann in seinem gar nicht langen Leben ca. 100.000 Briefe oft monumentalen Umfangs verfasst!)

Für den unglücklichen de Camp war Lovecrafts Nachlass oft eher ein Zuviel an Information, durch das er sich wacker kämpfte. Er rekonstruiert einen sonderbaren aber auch berührenden Lebenslauf, räumt viele Irrtümer und Fragen aus und stellt Verzerrungen richtig. Falls Lovecraft ein ‚Spinner‘ gewesen ist, war er einer mit vielen faszinierenden Facetten.

Die Fülle der Fakten, die de Camp auf knapp 650 Seiten (der deutschen Ausgabe) vor uns ausbreitet, kann an dieser Stelle nur punktuell beleuchtet werden. Das Gesamtwerk verdeutlicht, wie lückenhaft vor 1975 überhaupt und bis 2002 in Deutschland das Wissen um den Menschen Lovecraft war, bis de Camps Biografie für Abhilfe sorgte. Immer wieder wurde de Camps Arbeit in sekundärliterarischen Texten über Lovecraft zitiert. Wie sich nun herausstellt, diente sie wohl eher als Steinbruch, aus dem sich diese Autoren jenes Material brachen, mit dem sie ihre persönliche Lovecraft-Sicht zementierten.

Die Notwendigkeit der Differenzierung

Vor de Camp war wenig, und nach ihm kam nichts vergleichbarer Güteklasse. Viele Weggenossen und Bewunderer haben Erinnerungen an H. P. L. niedergeschrieben, aber diese blieben insgesamt nur Stückwerk. Erst de Camp hat sich die Mühe gemacht, ein Gesamtbild zu rekonstruieren. Wie nun auch wir deutschen Leser wissen, war dies von entscheidender Bedeutung; wer weiß, welches Lovecraft-Bild ohne de Camps Einsatz entstanden wäre!

So wurde Lovecraft gern als Rassist, Antisemit und faschistoider Eiferer gegeißelt. Entsprechende Äußerungen entnahm man seinen Briefen. De Camp nimmt Lovecraft diesbezüglich nie in Schutz, der in der Tat schauerlich über „Fremdblütige“ herziehen konnte. Doch dies war einerseits die Empfindung eines ängstlichen, unreifen Menschen, der sich dem Schicksal ausgeliefert fühlte und lange einen Sündenbock benötigte, den er für sein persönliches Unglück verantwortlich machen konnte, bevor er endlich klüger wurde und sich von solchem gefährlichen, beschämenden Unsinn löste.

Andererseits war Lovecraft diskriminierend in einer Ära, welche die Unterdrückung von Minderheiten als selbstverständlich betrachtete. Wie Lovecraft dachten, sprachen und schrieben (viel zu) viele US-Amerikaner. De Camp liefert dafür deprimierend überzeugende Belege. Als Zeitgenosse Lovecrafts weiß er gut, wovon er spricht.

Wissen kann nie schaden

Viele weitere Lovecraft-Legenden stellt de Camp richtig. Er hat tief gegraben, legte die Wurzeln des Lovecraft-Stammbaums offen (die längst nicht so tief in die Geschichte reichen, wie dies der selbst ernannte Gentleman gern behauptete). Mannhaft widerstand er der Verlockung, sich auf Lovecrafts eigene Worte zu verlassen. De Camp prüfte quer, d. h. er verifizierte die Fakten, die ihm die Lektüre der Lovecraft-Briefe vermittelten, indem er sie mit anderen Quellen abglich. Darüber hinaus konnte er in den 1970er Jahren, als er seine Biografie verfasste, noch Zeitzeugen befragen.

Von Vorteil ist weiterhin die intime Kenntnis des Milieus, in dem sich Lovecraft als Schriftsteller bewegte. Seit 1937 schrieb de Camp selbst für die „Pulp“-Magazine, kannte also Rösser & Reiter dieses rauen Gewerbes. Zudem interessierte er sich für die Geschichte des phantastischen Genres (das er selbst mit klassischen Beiträgen bereicherte). Sein Wissen ermöglichte de Camp auch, Lovecraft Werk als ‚Kollegen‘ einzuordnen und zu bewerten.

Dies ist freilich auch der Punkt, an dem de Camp die Sachlichkeit des Biografen fahren lässt. Er leistet Großartiges, wenn er angebliche Grillen Lovecrafts durch die Einordnung in das historische Umfeld erklärt und relativiert. Doch Lyon Sprague de Camp hat ein Problem, das er nicht überwindet: Er ist in seinem Leben und Werk quasi ein perfektes Spiegelbild von Howard Phillips Lovecraft. Wo dieser introvertiert, weltfremd und gehemmt war, zeigte sich de Camp als weltoffener, praktischer, erfolgreicher Zeitgenosse, der im Guten wie im Bösen alles aus den 93 Jahren seines Lebens holte.

Der Träumer und der Tatmensch

Lebenserfahrung und Erfolg machen nicht zwangsläufig intolerant, leicht jedoch ungeduldig. Viele Male lässt de Camp dies durchscheinen, spricht sogar offen aus, was er eigentlich möchte: Lovecraft so lange in den Hintern treten, bis dieser aus seinem in Selbstmitleid, Alltagsflucht, Attitüde und sich selbst reproduzierenden Ängsten verankerten Schneckenhaus herauskommt, um sich endlich dem Leben zu stellen bzw. es wenigstens zu leben, statt es zu fliehen.

De Camp tut sich sichtlich schwer damit zu begreifen, dass ein Mensch zu gefangen in seinem Ego sein kann, um eine solche Flucht zu realisieren. Er versucht es immerhin, zitiert Psychologen, kann hier allerdings nicht überzeugen: Lovecrafts Seelenlabyrinth weiß de Camp zu beschreiben und in Teilen zu entschlüsseln. Stets kommt dann der Punkt, an dem sich de Camp und Lovecraft fremd wie Aliens bleiben. Für diese Unsicherheit musste de Camp viel Kritik einstecken. Dass er sie nicht verbirgt, verleiht seinem Werk aber zusätzlich Glaubwürdigkeit und Spannung.

Wahrscheinlich fährt man als Leser am besten, wenn man voraussetzt, dass de Camps Lovecraft-Biografie auch dem Zweck dient, seine private Philosophie populär zu machen. Liest man – nicht einmal zwischen den Zeilen – ein wenig aufmerksamer, kristallisiert sich das Bild eines Biografen heraus, der sich selbst quasi dafür beglückwünscht, Lovecrafts Fehler vermieden zu haben. L. S. de Camp zählte zu den Autoren, die produktiv und erfolgreich waren. Sein Rezept bzw. Resümee lautete wie folgt: „Er [= der professionelle Schriftsteller] sollte sein Handwerk gründlich meistern – und zwar von allen Seiten … Er sollte die Geschäftsseite des Schreibens ebenso gut kennen wie die literarische … Man sollte energisch, unternehmungsfreudig, unverwüstlich und überaus diszipliniert sein. Man sollte auf seine körperliche Gesundheit achten. Man sollte keine arrogante Haltung gegenüber anderen Arten der Literatur als der eigenen einnehmen.” (S. 631)

Das Ziel getroffen – und darüber hinausgeschossen

Stellt sich die Frage, ob de Camp hier der Weisheit letzter Schluss formuliert. Ist es ihm eigentlich selbst gelungen, seinen Vorgaben gerecht zu werden? Machte er sich mit der mehrfach wiederholten Auflistung solcher schriftstellerischen Tugenden etwas vor? Oder krasser gefragt: Wer gibt ihm eigentlich das Recht, solche und andere Urteile über Lovecraft (oder generell) zu fällen? Dass de Camp Lovecraft und seine Lovecraft-Biografie instrumentalisiert, um seine eigene Weltsicht populär zu machen, kann ihm leicht nachgewiesen werden. Auf S. 254 sattelt er beispielsweise auf Lovecrafts Ablehnung gewissen Sparten der modernen Kunst seine eigene Kritik auf. De Camp kleidet sie zwar in bissig-humorvolle Worte. Dennoch hat sie an dieser Stelle nichts verloren.

Auf der anderen Seite leistet de Camp uns den unschätzbaren Dienst, Lovecraft-Romantik der dämlichen Art zu vertreiben. Von gewissen ‚Verehrern‘ wird der Mann aus Providence als Opfer philisterhafter Krämerseelen verklärt, die ein Genie unter das Joch zwingen wollten. Solche Fans finden wenig Gnade vor de Camps Augen, der selbst in den Pulp-Minen schuften und lernen musste, dass einem dort nichts geschenkt wird. Endgültig zum Schweigen bringt er solche Romantiker, wenn er Lovecraft selbst zitiert, der schrecklich gern erfolgreich gewesen wäre, hätte er nur gewusst, wie man dies anstellt.

Unterm Strich überwiegt das Positive. Kompetente Biografien selbst halbwegs prominenter Schriftsteller des phantastischen Genres sind nicht gerade häufig. Diese gehört trotz gewisser Abstriche eindeutig dazu. Sie ist seit 1975 vermutlich literaturwissenschaftlich überholt, was der Nicht-Fachmann verschmerzen kann, aber eigentlich nur in einem Punkt wirklich veraltet: Der Leser des 21. Jahrhunderts würde gern Fotos sehen. Die muss es geben, denn Lovecraft war in seinen letzten Lebensjahren kein Einsiedler mehr, sondern gern und oft unter Menschen. Doch das ist ein Manko, mit dem sich lesen & leben lässt.

Anmerkung

Für den Suhrkamp-Verlag gab Franz Rottensteiner 1992 die Aufsatzsammlung „Der Einsiedler von Providence. Lovecrafts ungewöhnliches Leben“ heraus. Hier werden Lovecraft-Fotos abgedruckt. Der Band bietet auch sonst eine interessante Lektüre, weil er einige der Quellen, die de Camp paraphrasiert, im vollen Wortlaut wiedergibt, und intensiver auf Lovecrafts letzte Lebensmonate und seinen Tod eingeht, was bei de Camp, der doch bisher so viele Details zu berichten wusste, ein wenig zu knapp ausfällt.

Autor

Lyon Sprague de Camp wurde am 27 November 1907 in New York City (das Lovecraft so inbrünstig liebte & hasste) geboren. Der studierte Ingenieur gehört zu den Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellern, die im sogenannten „Golden Age“ vor dem II. Weltkrieg ihre Karriere begannen. „The Isolinguals“, de Camps erste Story, erschien im September 1937 des legendären Magazins „Astounding Science Fiction“.

In den folgenden Jahren entstanden Kurzgeschichten und Romane, die de Camp einen Sitz im Pantheon der Phantastik sicherten, wobei der Autor einen im Genre seltenen Sinn für echten Humor unter Beweis stellte. De Camp beschränkte sich dabei nie auf Science Fiction und Fantasy. Er stand fest im ‚richtigen‘ Leben, für dessen Mechanismen er sich leidenschaftlich interessierte. Sein Interesse richtete sich auf so unterschiedliche Gebiete wie Gesellschaftsgeschichte, Technik oder Mythologie. De Camp verfasste zahlreiche populärwissenschaftliche, gern gelesene Sachbücher, die er sich nicht nur am Schreibtisch, sondern auf zahlreichen Reisen erarbeitete. Freilich gab es auch jenen de Camp, der über angeblich ‚unmögliche‘ menschliche Leistungen der Vorgeschichte und eventuelle Hilfestellung durch archäologisch oder historisch leider nicht aufgefallene Supermächte spekulierte.

Schon 1966 wurde L. Sprague de Camp als Ehrengast der „World Science Fiction Convention“ empfangen und 1978 mit einem „Nebula Award“ für sein Werk ausgezeichnet. 1997 gewann er im Alter von 90 Jahren einen „Hugo Award“ für seine Autobiografie „Time and Chance“. Eine Liste weiterer Preise würde diesen Rahmen sprengen.

Nach einem langen, bis zuletzt aktiven und produktiven Leben starb Lyon Sprague de Camp wenige Tage vor seinem 93. Geburtstag am 6. November 2000.

Gebunden: 637 Seiten
Originaltitel: H. P. Lovecraft: A Biography (New York : Barnes & Noble 1975)
Übersetzung: Andreas Diesel
http://www.festa-verlag.de

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