Dick Lehr/Gerard O‘Neill – Black Mass. Der Pate von Boston

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Lange war der 1929 geborene James J. „Whitey“ Bulger ‚nur‘ ein skrupelloser, leidlich erfolgreicher Kleinkrimineller, der im von irischen Auswanderern dominierten Südviertel der Hafenstadt Boston im US-Staat Massachusetts, sein Unwesen trieb und dafür u. a. als Bankräuber auf der gefürchteten Gefängnisinsel Alcatraz einsaß. Nach seiner Entlassung wandte Bulger an, was er dort gelernt hatte, und etablierte eine kleine aber verschworene Bande, die sich mit der örtlichen Mafia arrangieren und selbstständig agieren konnte.

Bulgers Aufstieg zum „Paten“ von South Boston begann, als er in den 1970er Jahren Informant des örtlichen FBI-Büros wurde. Ein ehrgeiziger Agent und sein entscheidungsschwacher Chef sahen in Bulger den idealen Verbündeten. Doch der clevere Verbrecher manipulierte und instrumentalisierte die Gesetzeshüter. Im Schutz des FBI schaltete Bulger nach und nach seine kriminelle Konkurrenz aus und etablierte sich als Schutzgelderpresser und Drogenhändler.

Untersuchungen der durchaus aufmerksamen Polizei liefen ins Leere, weil Bulgers FBI-Kontakte diese behinderten und verschleppten; oft war der Gangster sogar gewarnt und über laufende Ermittlungen in Kenntnis gesetzt. Gleichzeitig wurden FBI-Aktien ‚frisiert‘ und schließlich gefälscht, um Bulger als Informanten halten zu können. Längst pflegten die für ihn zuständigen FBI-Agenten auch privat freundschaftlichen Umgang mit dem Verbrecher, der unter seinem Schutzschirm immer dreister agierte und schließlich ungehemmt zu morden begann.

Als Mitte der 1990er Jahre das Komplott endlich aufflog und Bulger verhaftet werden sollte, griffen seine FBI-Kumpane ein letztes Mal zum Telefon. Bulger gelang die Flucht. Mehr als anderthalb Jahrzehnte narrte er seine Verfolger, während seine FBI-Verbündeten versuchten, die unheilige Allianz nachträglich zu vertuschen …

Narren dealen mit dem Teufel

Manche Geschichten muss man einfach x-fach mit Beweisen belegt sehen, um sie glauben zu können. Anders als der Zyniker, der ohnehin davon ausgeht, dass diese Welt schlecht ist, wiegt sich der normale Zeitgenosse lieber in dem Glauben, er lebe außerhalb jener Globusregionen, die nachweislich von Irren regiert werden, in einem System, das insgesamt funktioniert und höchstens in Einzelfällen korrumpiert ist.

Seit einigen Jahren lässt sich dieser Glauben erschreckend leicht ins Wanken bringen; dies vor allem, wenn die USA ins Spiel geraten. Spätestens seit 9/11 hat man sich dort von lästigen Bürgerrechten weitgehend befreit, kann sich relativ frei der Jagd auf echte und vor allem dazu ernannte „Terroristen“ widmen sowie dabei ungehemmt jene belauschen, die verdächtig sind oder es werden könnten.

Mit einer scheinbar gänzlich anders gelagerten „True-Crime“-Story treten die Journalisten Dick Lehr und Gerard O’Neill den Beweis an, dass dieser Drang der US-Strafverfolgung, sich notfalls selbst kriminell zu betätigen, quasi systemimmanent ist. Hinzu kommt eine grundsätzlich egoistische Einstellung, die nicht die Aufgabe in den Mittelpunkt stellt, sondern den persönlichen Aufstieg zum Maß aller Dinge werden lässt. „Black Mass“ erzählt deshalb die Geschichte eines Verbrechers, der schlicht nutzte, was man ihm anbot. Dabei wurden Recht und Moral über viele Jahre systematisch gebogen und gebrochen, wobei der angerichtete Schaden deutlich größer als der eingebildete Nutzen war.

Die Schwarze Messe nimmt ihren Lauf

Ende der 1980er Jahre begannen Journalisten des „Boston Globe“ eine Artikelserie über die Brüder James und William Bulger. Der eine war ein Unterweltboss, der andere ein hochrangiger Politiker. Beide hatten sie Dreck am Stecken, wobei Billy Bulger als Senatsmitglied die interessantere Zielperson zu sein schien. Im Laufe der Ermittlungen entstand und verdichtete sich der Verdacht, dass „Whitey“, der ältere Bulger-Bruder, als Informant des FBI einen Schutz genoss, der jedes legale Maß überschritt.

In den nächsten Jahren blieb die Zeitung am Ball. 1995 platzte die Bombe. Whitey Bulger flüchtete, und das FBI musste buchstäblich die Hosen herunterlassen. Nun wurde endlich offenbar, was schon lange mehr als ein Gerücht war. Die Journalisten Lehr & O’Neill machten sich daran, die Fakten zu sammeln, zu sichten und auszuwerten, Zeugen zu finden, zu überreden und zu interviewen. Nach jahrelanger Arbeit veröffentlichten sie 2000 „Black Mass“, die angemessen dickleibige Rekonstruktion der Affäre Bulger.

Die Lektüre ist ebenso spannend wie deprimierend. Lehr & O’Neill haben ihre Hausaufgaben gemacht. Sie können praktisch jedes Detail mit Belegen untermauern. Tatsächlich gehen sie oft unnötig in die Breite, weil sie sich nicht von Unwichtigem trennen können. Dies betrifft beispielsweise die Biografien von Personen, die für das Primärgeschehen mehr oder weniger Randfiguren bleiben, oder allzu ausführliche Streifzüge durch die US-Geschichte. In diesem Zusammenhang wird der amerikanische Drang deutlich, Historie zu personifizieren: Ereignisse müssen buchstäblich ‚Gesichter‘ bekommen, die zur Identifikation oder Ablehnung einladen. Dabei erreichen die Autoren mehr als einmal TV-Klischee-Niveau.

Der Sturz in den Abgrund

Vielleicht können die Beteiligten dieses Dramas nur sichtbar bleiben, wenn ihre Profile signifikant überzeichnet werden. Sisyphos persönlich könnte angesichts der Bemühungen verzweifeln, die es einerseits kostete, den Sumpf aus Lügen, Vermutungen und Wahrheiten trockenzulegen, um die Ergebnisse andererseits in Worte zu fassen. Der Anhang enthüllt ein wahres Gebirge aus Aktenpapier. Jede Behörde saugt Informationen an sich, will aber möglichst geheim halten, in welchem Umfang dies geschieht. Darüber hinaus waren die Agenten Connolly und Morris, die sich von Bulger um den Finger wickeln, belügen und bestechen ließen, Meister darin, den alltäglichen Papierkram für ihre Zwecke zu nutzen. Lehr & O’Neill zeichnen akribisch nach, wie sie übertrieben, logen oder nie geschehene Vorgänge durch die Abheftung als Aktennotiz offiziell werden ließen.

Erst unter dem Schirm des FBI konnte Bulger zum Unterweltkönig aufsteigen. Die Behörde missbrauchte ihre Macht, indem sie der Polizei und der Justiz noch ihre Unterstützung versagte, als diese längst mit eigenen Untersuchungen begonnen hatten. FBI-Agenten schreckten nicht einmal davor zurück, Bulger über anstehende Abhöraktionen oder Razzien zu informieren.

Mit vergleichbarer Energie widmete sich die Beteiligten dem Versuch, sich von aller Schuld reinzuwaschen, als sich die „schwarze Masse“, zu dem das Komplott herangewuchert war, an die Öffentlichkeit quoll. Whitey Bulger flüchtete und verschwindet quasi aus ‚seinem‘ Buch; man vermisst ihn nicht, denn Lehr & O’Neill ist es ohnehin nie gelungen, aus einem schlauen aber brutalen, bösartigen und übellaunigen Mann eine charismatische Persönlichkeit zu machen. Viel interessanter sind die nun ausführlich geschilderten Duelle, die vor US-Gerichten ausgefochten wurden. Sie sagen viel über eine ‚Gerechtigkeit‘ aus, die davon abhängen kann, wie erfolgreich ein exorbitant bezahlter Anwalt juristische Haarspalterei betreibt. Notfalls werden Bündnisse geschlossen, sodass ein Angeklagter plötzlich als Kronzeuge mit Immunitätsschutz vor die Gerichtsschranken tritt.

Aufprall mit Echo

„Black Mass“ erschien erstmals im Jahre 2000. Die Katastrophe vom 11. September 2001 hatte sich noch nicht ereignet, der Amoklauf entfesselter „Heimatschutzbehörden“ nicht begonnen. Deshalb sind Lehrs & O’Neills Gedanken über die Vorrechte einer Behörde wie das FBI, die über die normale Gesetzgebung quasi erhaben ist, von besonderem Interesse: Sie verraten, dass schon lange vorher etwas schiefzulaufen begann in den USA.

Die Brisanz wächst, wenn hinter objektiv gutem Willen die typische menschliche Niedertracht lauert. FBI-Agenten wie John Connolly oder John Morris betrachteten die Zusammenarbeit mit Whitey Bulger und seiner Winter Hill Gang als Sprungbrett für persönliche Karrieren. Sie missbrauchten die ihnen anvertraute Macht später weiter, um ihre Verfehlungen und Verbrechen zu verwischen. Sämtliche Kontrollmechanismen versagten, zur Rechenschaft gezogen wurden nur wenige.

Leider basiert die deutsche Übersetzung auf einer bereits angejahrten Vorlage. Nur ein kurzer Epilog informiert darüber, dass Whitey Bulger seinen Verfolgern 2011 nach sechzehnjähriger Flucht ins Netz ging und nun eine doppelt lebenslange Strafe (plus fünf Jahre; die US-Justiz ist eine Fundgrube für absurde Details) absitzt. Dass John Connolly 2008 für seine zahlreichen Vergehen zu einer vierzigjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, ist Lehr & O’Neill seltsamerweise keine Anmerkung wert,

In Deutschland wäre dieses Buch wahrscheinlich nie erschienen; zu fern liegt Boston, und James Bulger ist keineswegs „einer der gefährlichsten Gangster der US-Geschichte“, wie es auf dem Cover heißt. Anlass wurde die Verfilmung des Werkes, wobei Schauspieler Johnny Depp die Bulger-Rolle übernahm. „Black Mass“ kam Ende 2015 in die Kinos, entwickelte sich zu einem Blockbuster und galt als sicherer Kandidat für die „Oscar“-Verleihung 2016.

Taschenbuch: 511 Seiten (mit 8 Seiten s/w-Bildteil)
Originaltitel: Blass Mass. Whitey Bulger, the FBI, and a Devil’s Deal (New York : PublicAffairs/Perseus Books Group 2000)
Übersetzung: Joachim Körber
www.randomhouse.de/goldmann

E-Book: 6304 KB
ISBN-13: 978-3-641-17060-8
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