Wolfram Fleischhauer – Das Buch, in dem die Welt verschwand

1780 gerät der Arzt Nicolai Röschlaub in eine mysteriöse Verschwörung. Diverse Geheimbünde kämpfen miteinander und gegen die kaiserliche Regierung. Es ist auch ein Ringen zwischen Reaktion und Aufklärung. Dabei werden keine Gefangenen gemacht. Um sein Leben zu retten, will Röschlaub die Hintermänner entlarven, doch je tiefer er gräbt, desto mehr löst sich das Komplott in ein Gewirr unverständlicher Einzelintrigen auf … – Ein Roman aus Deutschland, der Anspruch mit hohem Unterhaltungswert kombiniert. Sehr elegant spinnt Autor Wolfram Fleischhauer vordergründig ein Garn aus Historie, Krimi und Mystery, das geschickt und überraschend, aber sehr philosophisch aufgelöst wird, wobei der Autor die Kraft zu verdeutlichen versucht, die einer Idee innewohnen kann.

Das geschieht:

An einem Wintertag im Jahre 1780 wird der junge Arzt Nicolai Röschlaub aus Nürnberg vom Kammerherrn Selling in das Schloss des Grafen Alldorf gerufen. Röschlaub findet den Adligen tot, vergiftet; ein Selbstmord, nachdem Alldorf die Qualen einer mysteriösen Krankheit nicht länger ertragen konnte. Vor ihm waren ihr schon sein beiden Kinder und die Gattin zum Opfer gefallen. Aus einer Tragödie wird ein Skandal, als sich herausstellt, dass Alldorf im großen Stil Immobilienschwindel und Kreditbetrug betrieben und eine ungeheuerliche Geldsumme zusammengetragen hat, die nun verschwunden ist. Offenbar gehörte der Graf einer obskuren Geheimorganisation an, die Übles gegen den Kaiser plante.

Der gefürchtete Giancarlo Di Tassi, Justizrat des Reichskammergerichts zu Wetzlar, nimmt sich des Falls an. Gerade hat man den inzwischen verschwundenen Selling grausam ermordet und verstümmelt aufgefunden; neben der Leiche lag bewusstlos eine Frau. Magdalena Lahner ist für den notorisch misstrauischen Di Tassi sehr verdächtig. Um sie, in die er sich umgehend verliebt, zu schützen, lässt sich Röschlaub als Berater des Justizrates anwerben. Er hat keine Ahnung, dass dieser auch ihn für einen Komplizen des Grafen hält.

Gemeinsam untersuchen Di Tassi und Röschlaub eine Serie seltsamer Postkutschen-Überfälle: Nichts wird geraubt, nur die Kutschen samt Ladung in Brand gesteckt. Es ergibt sich ein Muster – ein gigantisches, auf den Kopf gestelltes Kreuz, das ganz Deutschland erfasst. Dies ist nur eines der unzähligen Rätsel, vor das sich die Ermittler gestellt sehen. Hinter jedem Mysterium tut sich ein neues Geheimnis auf. Selbst Di Tassi ist keineswegs der, für den er sich ausgibt. Gemeinsam mit Magdalena flieht Röschlaub vor dem übermächtigen Feind – doch wer ist eigentlich Magdalena, die so viel mehr weiß, als sie bisher zugab …?

Die Idee als konkrete Kraft des abstrakten Gedankens

Diese Handlungsskizze gibt nur einen Bruchteil des Gesamtgeschehens wieder. „Das Buch, in dem die Welt verschwand“ weist einen komplexen (und komplizierten) Plot auf, der manchmal hinter diversen Erzählsträngen schwer zu erkennen bleibt. So ist es freilich vom Verfasser geplant: Seine Geschichte dreht sich weniger um die Macht obskurer Geheimbünde, sondern mehr um die Kraft (oder die Ohnmacht) von Ideen.

Als reine Kriminalstory mit Mystery-Touch funktioniert „Das Buch …“ über drei Viertel seines Umfangs fabelhaft. Selten liest man – zumal in Deutschland – ein Werk, das so geschickt konstruiert und elegant geschrieben wurde. Dem Fan des Genres wird reich aufgetischt, was er (oder sie) so liebt: Illuminaten, Rosenkreuzer & andere kapuzinierte Munkelmänner, Meuchelmörder, Räuber, Verschwörer, Geheimagenten, Intriganten, das alles dargeboten in der Welt des Jahres 1780. Jede Person spielt ein doppeltes, dreifaches Spiel, niemandem kann getraut werden, eine Hitchcocksche Atmosphäre des Misstrauens ist allgegenwärtig.

Es macht Freude diesen Thriller zu lesen, der sich so geschickt einer vergangenen Zeit bedient. Das alte Deutsche Reich in seinen letzten Zügen, ein seltsames Konglomerat unzähliger mittelgroßer, kleiner und kleinster Fürstentümer und Kirchenstaaten, freien Städten und Abteien, in ihrer Gesamtheit notdürftig als „Deutschland“ unter einen Hut gebracht, tatsächlich aber untereinander konkurrierend, sich verbündend, streitend und wieder vertragend: Das Leben muss vor allem für jene, die viel reisten, ein Albtraum gewesen sein. Fleischhauer lässt seinen Nicolai Röschlaub mehr als einmal entsprechende Erfahrungen machen.

Ein in jeder Hinsicht zerrissenes Land

Überhaupt ist das Geschehen nur innerhalb dieses seltsamen territorialen Flickenteppichs möglich. Die oft bizarren Auswirkungen wirken in diesem Umfeld völlig logisch, wobei Fleischhauer sein Wissen um die Vergangenheit nie aufdringlich doziert, sondern unauffällig in die Geschichte einfließen lässt. Das gilt erst recht für die politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Entwicklungen dieser Epoche.

Wir erkennen rasch, wieso der Autor sein Garn gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts spielen lässt: Hier wird eine Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Absolutismus und Aufklärung sichtbar. Auf der einen Seite symbolisiert das Deutsche Reich noch das Mittelalter mit seiner Adels- und Kirchenherrschaft, seinen Glauben an Geister und Hexen, an die Unwandelbarkeit der Welt. Auf der anderen Seite steht die neue Zeit, deren Repräsentanten sich nicht mehr mit der alten Ordnung abfinden wollen. Die Wissenschaft schreitet voran, politisch weht in Preußen und besonders in Frankreich ein frischer Wind. Die Kirche kann ihre Vormacht nicht mehr halten, die Protestanten sind eine Macht geworden, die sich gegen Rom zur Wehr setzen kann.

Alle Fixpunkte der (deutschen) Existenz sind ins Rollen und Rutschen geraten. Um die Konsequenzen geht es in diesem Roman. Die Vertreter der alten Ordnung kämpfen gegen ihre Angst, dass dies das Ende der Welt einläuten wird, und natürlich für ihre Privilegien. Dagegen verlangen die Repräsentanten der Moderne den rigorosen Bruch mit der Vergangenheit, der ihrer Meinung nach der Menschheit den Start in eine glanzvolle Zukunft ermöglichen wird.

„Das Buch, in dem die Welt verschwand“ ist Fleischhauers Symbol für den daraus erwachsenen Konflikt. Die Auflösung der unzähligen Geheimnisse wird viele Leser verwirren. Ihre Irritation entsteht aus Unwissen. Kann denn eine Idee eine ganze Welt aus den Angeln heben? Die Angst davor Menschen umbringen? Es fällt schwer nachzuvollziehen, dass dies wirklich geschehen ist. Zwar überspitzt Fleischhauer aus Gründen der Dramatik die reale Historie, doch es ist eine Tatsache, dass schon das Deutschland von 1835 – Datum der Rahmenhandlung – kaum noch Ähnlichkeit mit dem Deutschland von 1780 aufweist.

Wer ist wer – und warum?

Nicolai Röschlaub, unser ‚Held‘, ist in vielerlei Hinsicht ein reiner Tor: keineswegs dumm, aber sehr naiv. Mit anderthalb Beinen steht er bereits in der neuen Zeit. Die Ränken in Politik und Gesellschaft sind ihm fremd, für ihn steht die unverfälschte Wahrheit im Vordergrund. Deshalb hat er mit seinen eigenen medizinischen Forschungen kläglich Schiffbruch erlitten – nicht weil er falsch liegt, sondern weil er nicht über das diplomatische Geschick verfügt, die Wahrheit über die richtigen Kanäle zu verbreiten.

Aber echter Forschergeist lässt sich nie wirklich unterdrücken. Bald spürt Röschlaub neuen Krankheitserregern nach. Dieses Mal bleibt er bis zum bitteren Ende dabei. Das widerstrebt seinem eigentlichen Wesen, aber es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Siehe da, in der Krise entwickelt Röschlaub Überlebensqualitäten. Zuletzt ist er es, der das Geheimnis des Buches nicht nur entdeckt, sondern überlebt und sogar profitiert.

Magdalena scheint zunächst die übliche weibliche Hauptrolle an der Seite von Röschlaub zu spielen. Auch hier durchbricht Fleischhauer das Klischee: Das angebliche Opfer entpuppt sich als religiöse Fanatikerin und gehört auf ihre Art in dasselbe Lager des Feindes wie Di Tassi. Beide wollen sie die alte Ordnung – ihre alte Ordnung – retten, fürchten sich vor einer Zukunft, die sie nicht mehr lenken, in der sie nicht mehr bestimmen können, wobei Di Tassi die politische Reaktion repräsentiert. Er spielt viele Rollen, dient aber letztlich dem Kaiser, dem Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen pompöser Titel mit der traurigen Realität kaum noch etwas gemein hat. Fortschritt ist für Di Tassi per se gefährlich und muss aufgehalten werden. Als ihm das nicht mehr gelingt, verschwindet er spurlos aus unserer Geschichte. Mit der Vergangenheit lässt ihn Fleischhauer in einem Buch verschwunden – eine interessante, ungewöhnliche Interpretation, die nachhaltiger wirkt als das übliche Schlussgemetzel zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘.

Autor

Wolfgang Fleischhauer wurde am 9. Juni 1961 in Karlsruhe geboren, wo er bis zu seinem Abitur 1974 lebte. Anschließend studierte er Literatur in Deutschland, Spanien, Frankreich und den USA. Dort schrieb er sich in diverse Kurse für kreatives Schreiben ein. Nach langjährigen Recherchen entstand 1996 „Die Purpurlinie“, ein historischer Thriller, der Kritiker und Leser sind gleichermaßen begeisterte.

Mit „Die Frau mit den Regenhänden“ blieb Fleischhauer dem Genre 1999 treu. Er wurde für sein Werk mit dem dritten Platz des Deutschen Krimipreises 2000 (Sparte „national“) ausgezeichnet. Im Sommer 2001 erschien „Drei Minuten mit der Wirklichkeit“, ein in Südamerika spielende Geschichte um Liebe und Verrat, Macht und Politik, die darüber hinaus belegt, dass sich Fleischhauer keineswegs an den Historien-Thriller gebunden fühlt.

Der Autor ist auch für das Kino tätig und hat Drehbücher u. a. für die Filme „Totkäppchen“ (2013) und „Fikkefuchs“ (2017) verfasst.

Fleischhauer lebt in Brüssel und arbeitet als Konferenzdolmetscher bei der EU Kommission.

Taschenbuch: 448 Seiten
https://wolfram-fleischhauer.com
https://www.droemer-knaur.de

eBook: 652 KB
ISBN-13: 978-3-426-41473-6
https://www.droemer-knaur.de/ebooks

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